Kapitel 2
„Miss, Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen." Gretchen sieht mich besorgt an. In der Pfanne hinter ihr brutzelt Speck, dessen Duft sich mit dem von frisch gebrühtem Kaffee vermischt. Auf dem Herd befindet sich ein weiterer Kochtopf, dessen Deckel ich kurz anhebe, um zu sehen, was sich darin verbirgt – Kartoffeln.
„Ivy?" Unsere Haushälterin stupst mich sachte an und hält mir eine Tasse schwarzen Kaffee unter die Nase. Die Küche liegt im Keller des Gebäudes. Es gibt keine Heizungen, der Raum wird einzig durch einen Holzofen gewärmt, der sich in der Ecke der Küche befindet. Vor ihm stehen zwei bequeme Ohrensessel, in denen Gretchen und ich uns gerne bei einer Tasse Tee die Zeit vertreiben. Hier habe ich schon viele Tränen geweint – vor Freude, Trauer und Wut.
„Ja, Entschuldigung. Nein, ich habe keinen Geist gesehen, nur schlecht geschlafen."
„Wieder schlecht geträumt?", erkundigt sie sich und schneidet währenddessen einen Stangensellerie klein.
Ich gebe einen Schuss kalte Milch in meinen Kaffee und nehme einen kleinen Schluck von dem warmen Getränk, dessen Farbe durch die Milch etwas heller wird. Allein der Gedanke an meinen einen Traum lässt mich schaudern. Deswegen seufze ich nur und wechsle das Thema.
„Was kochst du? Kann ich dir helfen?" Neugierig beuge ich mich über die Kücheninsel, auf deren anderen Seite sie steht und das Gemüse klein schneidet.
Gretchen sieht mich mahnend an. „Miss, das ist mein Job. Sie müssen mir nicht helfen."
„Aber ich möchte nicht alleine oben sein. Es ist so still dort." Unsanft stelle ich meine Kaffeetasse auf die Kücheninsel und verschütte dabei etwas von dem Getränk. Ich stehe auf und nehme den Schwamm aus der Abtropfvorrichtung, mache ihn kurz nass und wische den verschütteten Kaffee weg.
„Nun, erst mal müssen Sie ja nicht oben sein, Sie frühstücken und leisten mir Gesellschaft. Und falls Sie möchten, können Sie sich ja ein Buch schnappen und hier unten weiterlesen." Sie sieht mich über den Rand ihrer Brille an, während sie mit dem Messer in die Ecke auf die beiden Ohrensessel deutet.
„Ich habe aber keinen Hunger", murmel ich und ziehe gleichzeitig die Schultern hoch, weil ich weiß, dass Gretchen es nicht mag, wenn ich nicht frühstücke. Sie öffnet den Mund, doch ich bin schneller „Ja, okay, das klingt gut. Bis gleich!" Ich sprinte nach oben in mein Zimmer.
Automatisch werfe ich einen Blick auf meine Fenster und suche die Raben, aber sie sind inzwischen verschwunden. Mein Handy liegt auf meinem Buch und ich nehme einfach beides mit in die Küche – auch wenn ich dort unten so gut wie keinen Empfang habe. Im Runtergehen checke ich kurz, ob ich eine neue Nachricht erhalten habe. Und tatsächlich: Betty hat sich gemeldet und fragt, was ich heute mache. Nachdenklich verziehe ich den Mund und tippe eine kurze Antwort, während ich an dem einzigen Zimmer in unserem Haus vorbeigehe, das immer verschlossen ist. Schon seit ich denken kann, ist dieser Raum für mich nicht zugänglich. Auf meine neugierigen Fragen meinen Eltern – und auch Gretchen gegenüber – habe ich immer nur kurze, abweisende Antworten erhalten.
„Nicht viel – und du?", tippe ich in mein Handy.
Es dauert keine zwei Sekunden, da kommt schon eine neue Nachricht. „Jane und ich gehen heute Nachmittag Kaffee trinken im 'Webees'. Kommst du mit?"
Ich kann nicht verhindern, dass es in meinem Herzen kurz sticht, weil die beiden das schon ohne mich ausgemacht haben und ich die letzte bin, die gefragt wird. Aber immerhin fragen sie.
„Klar, gern. Wann?", antworte ich und warte am Treppenabsatz auf ihre Antwort.
„Um 15 Uhr? Dann könnten wir danach noch ein bisschen spazieren gehen, wenn ihr zwei Lust habt."
„Passt, ich freu mich. Bis später", tippe ich und gehe die letzten Stufen zurück in die Küche.
Mich fröstelt und ich ziehe die Ärmel meines Wollpullis über meine Hände. Die Kaffeetasse ist nur noch lauwarm und trotzdem versuche ich, meine kalten Hände daran zu wärmen.
„Hier, Miss, ihr Frühstück." Gretchen stellt mir einen Teller vor die Nase, auf der Speck, Eier und Toast gestapelt sind.
„Danke, Gretchen", entgegne ich und esse ein paar Bissen ihres Frühstücks. Sie hantiert am Herd und setzt sich dann neben mich auf den Stuhl an der Kücheninsel. Ihr dampfender Kaffee ist schwarz. Ich werde wohl nie nachvollziehen können, wie man Kaffee schwarz, ohne Milch oder Zucker trinken kann. Sie schält sich eine Mandarine und hält mir eine Spalte hin.
Lachend zeige ich auf mein Frühstück und schüttle den Kopf. Mandarine und Speck mit Eiern und Toast? Nein, das passt nicht.
„Wissen Sie, Miss, ich freue mich immer über Ihre Gesellschaft. Auch wenn ich Musik höre, es ist dennoch oft sehr still und drückend hier unten. Und mit Ihnen ist alles so leicht." Gretchen räumt die Schalen der Mandarine in den Müll und setzt sich wieder neben mich. Ihre roten Locken schwingen sanft bei jeder ihrer Bewegungen mit. Ihre Haare sind inzwischen mit einigen hellgrauen Strähnen versehen, was mir wieder einmal bewusst macht, dass die Zeit vergeht – und das sehr schnell.
Dankbar drücke ich ihren Arm. „Das geht mir mit dir auch so, Gretchen. Ich liebe es, hier bei dir zu sein."
Egal wie oft ich Gretchen schon gesagt habe, sie solle mich nicht mehr mit„Miss" ansprechen – sie ändert es nicht. Ich schätze, sie sieht es einfach als ihren Job an, mich weiterhin mit „Miss Ivory" anzusprechen. Inzwischen nehme ich es hin, auch wenn ich eigentlich nicht möchte, dass sie mich durch die Anrede auf eine höhere Stufe stellt als sie. Denn eigentlich müsste ich sie siezen. Aber wir haben schon oft genug darüber gestritten und schweigen nun einvernehmlich über dieses Thema.
Als ich mein Frühstück aufgegessen habe, lasse ich mich in einen der beiden Ohrensessel fallen und versinke in dem Buch, das ich gestern wütend auf die Couch geworfen habe und über dessen Seiten ich schließlich eingeschlafen bin. Gretchen wuselt derzeit in der Küche herum undhüllt mich in ein Gefühl aus Geborgenheit und Ruhe. Zwischendurch werfe ich immer wieder einen Blick auf mein Handy, um die Uhrzeit nicht zu übersehen, damit ich rechtzeitig am Café bin. Es ist fußläufig 30 Minuten von meinem Haus entfernt, mit dem Rad brauche ich ungefähr 15. Wir haben auch eine kleine Auswahl an Autos aber ich fahre wirklich nur damit, wenn es der Umstand nicht anders zulässt. Ein Umstand wäre zum Beispiel das Wetter oder wenn ich so verletzt wäre, dass ich nicht laufen oder Fahrrad fahren könnte – oder wenn mein Fahrrad kaputt wäre. Ihr seht also, Fahrrad fahren oder Gehen sind immer eine beliebtere Option für mich.
Um zum Webees zu kommen, muss ich über den Hallwich River fahren, der die Stadt in zwei Teile teilt. Das Anwesen der Ruddbones ist in genau dem Teil in dem auch das beliebte Café meiner Freundinnen ist. Wir Elderwoods wohnen in dem anderen Teil - das, das dem Wald am nächsten ist. Unsere Familie ist der Natur schon immer sehr verbunden und genau deswegen liebe ich die Ecke in unserer Stadt so sehr. Der Hallwich Forest – ja, die damaligen Gründer der Stadt waren wirklich sehr einfallsreich was die Namensgebungen anging – grenzt direkt an unser Anwesen und Jonathan, mein großer Bruder, und ich haben in unserer Kindheit Stunden dort verbracht und irgendwelche Höhlen gebaut.
Ich verabschiede mich von Gretchen und verlasse das Haus. Schon jetzt, am frühen Nachmittag, legt sich der Nebel sanft um die Baumspitzen und kündigt eine weitere neblige Nacht an. Mein Fahrrad steht bei den Autos in der großen Scheune, die früher als Lagerhalle für landwirtschaftliche Maschinen und Geräte diente und inzwischen als eine Art Garage umfunktioniert wurde. Das Tor quietscht, als ich es aufschiebe und ich muss im Dunkeln der Scheune erst einmal den Lichtschalter finden. Die Neonröhren knistern, als ich die Leuchten anmache und schalten sich nacheinander ein, bis der ganze Raum mit Licht gefüllt ist. Mein dunkelblaues Rad lehnt an der Wand. Seine Farbe blättert schon etwas ab. Mein Vater liegt mir seit Monaten in den Ohren, ich solle mir doch ein neues wünschen – aber warum? Es fährt doch noch.
Man merkt, dass der Winter nicht mehr weit ist, auch wenn zu erst noch Halloween gefeiert wird. Meine Hände frieren zu Eisklötzen, als ich zum Café fahre. Die Straßen sind wie leer gefegt, das ändert sich erst, als ich über den Fluss fahre und immer mehr in den Stadtkern gelange. Ich wechsle von der Straße auf den Gehweg und bremse schließlich langsam ab, bis ich vor dem Webees stehe. Von Betty und Jane ist noch nichts zu sehen, also schließe ich das Fahrrad am Fahrradständer ab und stelle mich daneben. Es riecht nach Herbst und die Bäume, die an der Hauptstraße entlang angepflanzt wurden, färben sich langsam bunt. Einige Blätter liegen am Boden, sie knirschen, als eine Gruppe Mädels darüberläuft.
Ich beobachte die vorbeifahrenden Autos und kontrolliere erneut, ob mein Fahrrad richtig angeschlossen ist, als ich Schritte hinter mir höre.
„Jemand wie du sollte hier nicht alleine herumlaufen, Kleines. Das ist unser Gebiet", gurrt eine männliche Stimme hinter mir.
Langsam drehe ich mich auf dem Absatz um – und stehe Jakes Kindergang gegenüber. Ich runzle die Stirn. „Was willst du, Taylor?", belle ich ihn an und stemme meine Hände in die Hüfte. Sie würden mir nichts tun, trotzdem kann ich nicht behaupten, dass mein Puls in dem Moment ein Ruhepuls ist. Taylor verschränkt die Arme, Nick, Braden und Lester tun es ihm gleich. Sie alle sind relativ breit gebaut, scheinbar haben sie sich eine Familycard für das Fitness-Studio gekauft.
„Lasst sie in Ruhe." Eine tiefe, raue Stimme fährt schneidend durch die Gruppe und teilt sie. Jake schiebt sich nach vorne. Zwar ist er nicht so breit gebaut wie der Rest seiner Kindergartengang, aber das machter mit seiner Größe locker wieder wett. Seine tiefgrünen Augen funkeln und er ginst schief, als er an mich herantritt. Es nervt mich, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen muss, weil er so groß ist.
So nah standen wir uns noch nie - oder schon lange nicht mehr. Früher haben wir uns in der Pause öfter gestritten und manchmal sogar geschlagen, bis uns die Lehrer auseinandergezerrt haben.
Fast hätte ich bei der Erinnerung daran gelacht.
„Wir wollen doch nicht Ärger mit der Familie des Prinzesschens bekommen, Jungs." Seine kalten Worte sind voller Hohn und tropfen auf den Boden zwischen uns.
„Hey ihr Idioten, geht weg von ihr." Jane und Betty schieben sich durch die Gruppe und stellen sich zu mir.
„Leute, ich kann gut auf mich alleine aufpassen", seufze ich.
Jemand räuspert sich. „Hey, Betty", murmelt Trench leise.
„Hi, Trench", flüstert Betty und wird rot.
Jane und ich sehen uns verwundert an, aber da zieht uns Betty schon in das Café. Ich werfe den Jungs, die uns nachstarren, einen letzten Blick zu. Mein Blick verhakt sich mit Jakes. Nur kurz. Nur eine Millisekunde. Und doch kann ich diese eine Millisekunde nicht wegsehen und komme nicht umhin, mich zu fragen, was wäre, wenn wir nicht diesen Familienfluch auf unser beider Leben hätten.
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