3. Waldspaziergänge und Maisfelder
Die Sache mit dem Zeitungsartikel ist jetzt schon knapp zwei Wochen her.
Bis auf den Tag danach war ich nicht mehr beim Wald udn auch sonst kaum draußen. Nicht nur, weil ich für diesen verdammten Französischtest lernen musste, der gestern anstand, sondern generell herrscht in mir gerade eine Unruhe.
Ich wäre ja auch weiterhin drinnen geblieben, aber Pa hat mich damit beauftragt, gemeinsam mit Lilith den Wald noch ein letztes Mal aufzusuchen, damit sie sich "verabschieden" kann.
Und weil ich weiß, dass Pa gerade ziemlich im Stress ist, konnte ich ihm die Bitte nicht abschlagen. Also bietet sich mir jetzt der Anblick von Lily, wie sie mit ihren geliebten gelben Gummistiefeln durch die halb versickerten Pützen springt, die dem Regen, den es gestern noch gab, entstammen.
Wie schnell sie doch groß wird, kommt mir der Gedanke. Kaum zu glauben, dass dieses kleine gutmütige Geschöpf schon in weniger als einem Jahr zusammen mit mir aufs Gymnasium gehen soll.
Ma wird sicherlich dafür sorgen.
Ihre wilden hellblonden Löckchen schwingen hin und her, während sie so daherhüpft.
Meine kleine Schwester? In diesem grauen Karton gefangen, gemeinsam mit mir? Nein, es will nicht in meinen Kopf rein.
Es gibt im Leben schon genug Veränderungen und ich bin froh, auf diese noch warten zu müssen.
Mittlerweile haben wir uns auf einem engen bewucherten Pfad eingefunden, der uns zwischen den Bäumen hindurchleitet. Lily legt den Kopf in den Nacken und schaut hinauf in die Baumkronen, die einem mit ihren verschiedenförmigen herbstlich gefärbten Blättern die Sicht auf den Himmel nehmen.
Vereinzelt finden goldgelbe Strahlen der Nachmittagssonne, die zwischen den Wolken hervorlukt, einen Weg auf den Waldboden, auf dem sich das Laub der Vorjahre sammelt.
Der Trampelpfad ist ganz schön matschog vom Regen und so langsam bereue ich es, dass ich mich im Gegensatz zu Lily nicht für Stiefel, sondern für meine Sneaker entschieden habe.
Aber was soll's, die alten Treter kann man schon lang nicht mehr als schock betiteln. Sie sind mehr graubraun als weiß und selbst wenn ich versuchen würde, sie zu putzen, würde ein Großteil des Drecks nicht mehr abgehen.
Ich habe mir sie damals von meinem Taschengepd besorgt.
Normalerweise kann ich mich darauf verlassen dass meine Eltern mir Kleidung und Schuhwerk besorgen, ein Privileg, dem ich mir bewusst bin. Nur gibt es die unaugesprochene Bedingung, dass Ma der Kram auch gefällt. Und ich und Ma sind in Sachen Stil totale Gegensätze.
Die ihr verhassten Sneaker zu kaufen war so eine rebellische Teenager-Aktion.
Charlie könnte mir dazu bestimmt 'ne Menge aus einem seiner Teen- oder Aufklärungsmagazinen vorlabern.
So etwas wie Zeitung gibt' s auch nur noch wegen ihm- und vielleicht den Senioren aus unserer Nachbarschaft.
Aber ich will mich nocht beschweren.
Wenn er liest, hat er mir mal erzählt, ist es, als wenn er sich in eine andere Welt flüchtet. Wäre schön, wenn ich das auch könnte. Nur ist Lesen nicht so mein Ding, zu Ma's Verhängnis.
Bücher zu lesen lässt einen schließlich ganz schön schlau dastehen, genau das hätte Ma doch so gern von mir.
Allerdings tun Brillen das auch. Vielleicht sollte ich mir einfach mal eine so große runde holen wie Charlie, damit Ma sich zufrieden gibt. Ich schmunzele bei der Vorstellung.
"Ist es nicht wunderschön?" Ich schrecke aus meinen Gedanken.
"Schau dir mal an, wie bunt die Blätter sind, fast wie Regenbogentupfer! Und der Boden, das ist der Mamorboden des Waldes! Verzückt bückt sie sich und riecht an ein paar mikroskopischen Blümchen am Wegrand. Überreste des Sommers, so könnte man sie nennen.
Wie schafft sie es nur, so kleine Dinge so groß zu machen. Am liebsten würde ich die Welt durch ihre Augen sehen können.
Ich weiß, das Lily einen gewissen Hang zur Dramatik hat. Manchmal geht mir das schon auf die Nerven, aber ihr Anblick, wie sie mit großen Augen jedes Detail des Waldes in sich aufnimmt und weiter vor sich her schwärmt, kann einfach alles wettmachen.
In mir kommt die Frage hoch, ob eine große Schwester wie ich überhaupt für ein Mädchen wie sie reicht. Eigentlich verdient sie ein perfektes Leben, mit einem riesigen Wald, dem ganzen Regenwald, ganz für sich allein.
Ich verdränge meine Selbstzweifel. Sie tun ja doch nichts zur Sache udn ich kann wenigstens einfach für sie da sein udn so wie jetzt mit ihr durch den Wald spazieren.
Ich höre ihr weiter zu, wir sie zwischen den Bäumen herumtollend von Rinde und Spatzen und Efeu schwärmt.
Ab und zu meine ich, einen Hauch von Trauer in ihrer Stimme zu hören.
Aber ich wundere mich ja schon, dass sie nocht in Tränen ausbricht und flennt, so wie vor zwei Wochen noch.
Das bri gt mich auf ihre Idee mit dem Protestieren. Mein Magen krampft sich wieder zusammen. Ob sie wohl immer noch an den Kram glaubt?
Ich hätte gleich reinen Tisch machen sollen.
"Lily", beginne ich vorsichtig. "Du weißt aber doch, dass du nicht protestieren gehen kannst für den Wald, richtig?"
Ihr Lächeln verschwindet, als wäre es nie da gewesen. Sie nickt.
"Pa hat es mir schon erklärt."
Na toll, also habe ich die Sache doch ihm überlassen. War auch klar, dass sie ihm davon erzählen würde.
"Oh", mache ich also nur und stecke die Hände in die Jackentaschen.
Irgendwann kommen wir am anderen Ende des Waldes an.
"So, und nun?", frafe ich möglichst unbekümmert, während wir die hier unstehenden Tannen und Eichen beobachten. Lily schait auf, hebt die Hand macht eine winkende Bewegung. Dann dreht sie um.
"Lass uns woanders hingehen."
Also folge ich ihr, auf das abgeerntete Maisfeld nebenan. Zwischen uns und der Stadt liegen praktisch nur Felder.
Wir gehen zwischen den alten, aus der Erde hervorlukenden Pflanzenstielen hindurch.
"Ich hab dich lieb", sagt Lily auf einmal.
Ich lächele sie truarig an und lege einen Arm um sie.
"Ich-", beginne ich schon, werde aber von einem plötzlichen Ruckeln unterbrochen, das uns beide urplötzlich zu Boden wirft.
Ich weiß nir noch, dass ich Lily mit dem einen Arm eng an mich ziehe und versuche, mich mit der anderen abzufangen.
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