2. Concealer und kindliches Einfallsreichtum
Mit fehlender Eleganz hüpfe ich aus dem Bus. Vor mir erstreckt sich das Schulgelände. Das Gebäude erinnertich wie beim ersten Mal, als ich hier ausstieg, an einen riesigen grauen Karton. Obwohl, so langsam verfärbte er sich an den Rändern auch grünlich.
Eigentlich wollte ich nie so richtig auf Gymnasium gehen. Der Weg ist ziemlich weit und meine Noten waren zur damaligen Zeit eh ein klassischer Fall für die Realschule, zu der ich es locker mit Fahrrad schaffen könnte.
Aber Ma hat sich damals in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt die möglichst hochwertigste Bildung bekommen muss, da hätte das nächste Gymnasium genauso gut im Ausland liegen können.
Wahrscheinlich ist ihr Plan, dass ich später genau wie sie einen Bürojob habe, Chefin einer wichtigen Abteilung in einer Firma wie ihrer bin und mit Hornbrille Papierkram der Stufe "super öde" erledige.
Tja, ich kann ihr aber verzeihen.
Nachdem man eine Weile lang vollzeit hinterm Schriebtisch hockt und ohne Pause Dinge mit seiner Unterschrift gültig macht, hat man irgendwann Ideen wie diese.
Außerdem habe ich in diesem schicken Kasten Charlie kennengelernt, was die lange Busfahrt wieder wettmacht.
Im Schulgebäude ist es stickig und verstaubt. Mit Mühe schleppe ich mich diese verhexten Treppen hoch bis in den zweiten Stock. Ein Glück, dass der Sommer schon vorbei ist, denn in der Jahreszeit kann man hier oben echt zerfließen. Ich schlendere den langen, noch recht leeren Flur entlang. Charlie sitzt auf der Fensterbank, nahe dem abgeschlossenen Klassenzimmer, und ist in ein dickes Buch vertieft.
"Hey." Ich peffere die Tasche auf dem Boden und geselle mich zu ihm. Er nickt nur kurz.
"Was liest du da?", frage ich.
Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit.
"Ist Dark Romance."
Ich verdrehe die Augen. Manche seiner Fables kann ich ja noch nachvollziehen, aber diese Bücher gehen mir dann doch auf die Nerven.
"Welchen heißen Kronprinz dürfen wir den diesmal bewundern."
Die Ironie setze ich gezielt auf das Wort bewundern. Ich durfte mir von Charlie schon viele Vorträge dazu anhören.
Seine Ohren werden rot.
"Hör mir bloß auf", grinst er nur und schaut dann verwundert in mein Gesicht.
"Sag mal, wo bekommt man eigentlich solche Ohrringe her?"
Ich zucke mit den Schultern.
"Hab schlecht geschlafen."
Jetzt legt er sein Buch beiseite und zieht das mir bekannte kleine Mäppchen aus seiner Tasche hervor.
"Das kriegen wir mit etwas Concealer wieder hin!", meint er motiviert.
Ich stöhne. "Wie wär's, wenn du mir stattdessen was von deinem Coffee To Go abgibst?"
Zurück zu Hause begrüßt mich Lily, die sich seit gestern Abend wohl ziemlich gut von ihrem kleinen Schock erholt zu haben scheint.
"Al, du bist zurück!"
Stürmisch klammert sie sich an mich wie ein kleines Äffchen.
"Warum denn so guter Laune?", wundere ich mich und muss lachen.
Ein bisschen ansteckend ist es immer, wenn sie so gut drauf ist.
Irgendwie schaffen Kinder es immer wieder, einen zum Lächeln zu bringen, selbst wenn man vor fünf Minuten noch der größte Miesepeter war. Ein bisschen seltsam ist ihr plötzlicher Stimmungswechsel jedoch schon.
"Ich weiß jetzt, wie wir verhindern können, dass sie den Wald zerstören! Wir gehen protestieren."
Ich stutze. "Wie meinst du das denn?"
Na, das haben wir doch auch ganz oft schon in den Nachrichten gesehen. Da geht man auf die Straße um zu zeigen, dass man etwas nicht möchte. Total einfach, nicht wahr?"
Mein Magen krampft sich zusammen, weil ich merke, dass es ihr ernst ist und sie wirklich meint, die Lösung für ihr Problem gefunden zu haben. Am liebsten würde ich sie zu Pa schicken, damit er ihr deutlich macht, wie unrealistisch ihr kleiner aufrichtiger Plan ist. Doch ich bleibe standhaft, schließlich hat er so schon genug zu tun.
"Braucht man dazu nicht ein paar mehr Leute?", frage ich vorsichtig nach.
"Hast recht", meint sie nur. "Ich frage einfach meine Freunde. Und wenn es nötig ist auch noch die Nachbarn."
Okay, das dürfte schwieriger werden.
Ich weiß beim besten Willen nicht, wie man ihr das schonend beibringen soll. Sie kann nichts mehr ändern. Es ist alles geplant und vorbereitet, die Zeit bis zur Rodung viel zu kurz, um sie abzusagen.
Es hat keine Eile, sage ich mir, und gehe einfach nicht weiter auf das Thema ein. Vielleicht kapiert sie es nach einer Weile auch von selbst.
Wenig später sitze ich am Schreibtisch, mit dem Versuch beschäftigt, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Das Fenster gewährt mir einen freien Blick auf den grau bewölkten Himmel.
Verschwommen spiegelt sich mein Gesicht in der Glasscheibe. Keine Augenringe mehr, dafür aber rote Wangen und lange dunkle Wimpern. Charlies Werk. Eine Zeit lang haben ein paar Jungen aus unserem Jahrgang ihn wegen seines Fables für Make-Up fertiggemacht, zum Glück aber schnell ihr Interesse daran verloren. Charlie ist nicht der Typ, der sich von ein paar pubertären Blödmännern fertigmachen lässt. Ich mag das.
Da spiele ich ihm zuliebe auch gern mal das Versuchskaninchen. Und wer weiß, vielleich wird er später mal ein berühmter Make-Up-Artist und ich kann mit ihm angeben.
Ich klappe das Französischbuch zu. Gerade ist einfach kein Platz für Vokabeln in meinem Kopf. Eine halbwegs vernünftige Stimme in meinem Kopf rät mir, nach draußen zu gehen.
Nagut, im Internet zu surfen wird auf Dauer sowieso uninteressant.
In Sneakers und Jeansjacke schlendere ich bei herbstlichem Wetter an den eintönigen Häusern vorbei. Zuerst weiß ich nicht so recht, wohin mit mir, biege mal nach links, mal nach rechts ab, je nach dem, auf welcher Seite ich die Häuser schöner finde. Letztendlich komme ich (natürlich) vorm Wald an.
Ich betrachte ihn ein bisschen und muss mir eingestehen, dass ich das kleine Wäldchen, dessen Blätter zu dieser Zeit im Jahr in so bunten Farben von den Bäumen herabfallen, vermissen werde.
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