10. Telefon- und Sternengespräche
Mein Kopf ist über die Kloschüssel gebeugt und ich knie zitternd auf dem altmodisch gefliesten Boden des Gästebads.
Aber ich sollte wahrscheinlich weiter vorne beginnen.
Ein Großteil des Tages verlief tatsächlich ziemlich normal.
Nach dem Frühstück habe ich Oma im Garten geholfen.
Das mache ich gern, wenn wir bei ihnen zu Besuch sind.
Sie hat lustige Gartenzwerge, ihren heiß geliebten Kräutergarten und weiter hinten im Garten steht ein Birnbaum, der jetzt schon mit süßen Beeren überladen ist.
Damals hat Opa mir das Gedicht "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland" beigebracht. Ich kann es immer noch auswendig, eine Tatsache, die mein jüngeres ich bestimmt sehr stolz gemacht hätte.
Nachdem im Garten alles getan war, kehrten wir mit gesammelten Birnen ins Haus zurück. Wir hatten vor, mit ihnen einen Birnenkuchen zu backen.
Wieder eine Tradition, die wir damals auf den mehrtägigen Besuchen hier schon gepflegt haben.
Bevor wir loslegten, ging ich aber ausgiebig duschen. Ich weiß, das hätte ich auch schon vorher gekonnt, aber wegen der Gartenarbeit wäre es ohnehin nicht lohnenswert gewesen.
Es war ein echt befreiendes Gefühl, unter dem prasselnden Wasser zu stehen und den Dreck loszuwerden.
In den letzten paar Tagen ist die Hygiene ziemlich kurz gekommen.
Den Teig für den Kuchen haben wir zu viert im Esszimmer zusammengemixt, denn in der Küche bereitete Opa schon das Mittagessen vor.
Ich muss zugeben, die Situation war entspannter, als ich erwartet hatte.
Am Nachmittag hat es dan zu regnen begonnen.
Insgeheim habe ich für die, die nach dem Erdbeben noch keine Bleibe gefunden haben, gehofft, dass es dort wenigstens trocken geblieben ist. Aber diese Hoffnung ausgesprochnen habe ich nicht.
Wir haben drinnen in aller Wärme am Kamin Brettspiele gespielt, den fertigen Kuchen gegessen.
Ich habe sogar Charlie erreichen können. Zuerst ging so ein alter Kauz dran, das muss sein Onkel gewesen sein.
Charlie hat mir erzählt, dass es nicht so schlimm sei wie erwartet und ich mir keine Sorgen machen soll. Die mache ich mir zwar trotzdem, aber weniger.
Wir saßen weiterhin so friedlich beisammen. Da kam er, der Anruf. Oma ging zum Telefon. Sie nahm ab. Je länger sie den Hörer an ihr Ohr hielt, desto blasser wurde sie. Irgendwann sah sie aus wie ein Gespenst. Ma und Opa kamen auf sie zugerannt, als sie drohte umzukippen, aber ich bin aus dem Raum gestürmt, hinaus in den Garten.
Es nieselte immer noch und war kalt, aber das war mir egal. Weil ich wusste, was passiert ist, warum Oma so blass geworden ist. Wegen Pa. Das war es also? So sollte es zuende gehen?
Im Garten wusste ich beim besten Willen nicht, wohin mit mir. Ich hoffte inständig, dass mich keine suchen würde. Ich wollte allein bleiben, ganz allein.
Tränen liefen mir übers Gesicht, aber es war längst nicht so ein befreiendes Gefühl, wie es hätte sein sollen, nachdem ich es so lang nicht geschafft habe, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Es tat so weh, ich wollte aufgeben. Aber es war kein Spiel, das ich pausieren oder beenden konnte. Oder wollte.
Zu diesem Zeitpunkt kam mir das Leben wie ein blutrünstiger Verräter vor.
Schmerz konnte man bis jetzt immer irgendwie stoppen.
Tabletten nehmen, zum Arzt gehen, es gab immer eine Lösung.
Zuerst wollte ich es nicht wahrhaben, aber ich glaube, in meinen Augen gab es doch eine Lösung. Ich hatte in dem Moment keine Ahnung, wie lang es eine Lösung bleiben würde und ob ich es bereuen würde. Oder es war mir egal.
Ich schlich mich durch den Regen zum Eingang in den kleinen Schuppen, in dem meine Großeltern damals einmal Hühner gehalten haben. Aber die waren allesamt schon tot, so wie Pa, dachte ich verbittert.
Ich hatte keine Angst davor, es auszusprechen, es tat so weh, dass es keinen Unterschied machte.
Hinten lagerte Bier. Daneben standen ein paar Kisten, gefüllt mit Autos, Lego und Puppen, mit denen wir als Kinder hier gespielt hatten.
Ich ignorierte sie und ich glaube, ich muss nicht weit ins Detail gehen. Ich habe mich allen Ernstes betrunken. Mit Bier. Nachdem mein Vater gestorben ist. Irgendwie hat es geholfen. Ich habe immer noch geflennt. Aber der Schmerz war gedämpft. Er hatte nicht abgenommen, ich konnte ihn nur ausblenden.
Und weil ich jung bin und noch nicht oft Alkohol getrunken habe (schon gar nicht in der Menge), muss ich jetzt mit den Konsequenzen dieser Aktion leben.
Ich wurde nicht erwischt. Nehme mal an, der Rest schläft schon. Aber ich habe auch keine Ahnung, was noch so passiert ist, nachdem ich abgehauen bin.
Ich drücke die Klospülunh möglichst vorsichtig und geräuschlos.
Ich will wieder nach draußen.
Es ist mitten in der Nacht, wie auch immer das so schnell zustande gekommen ist.
Der Regen hat vollständig aufgehört, als ich es geschafft habe, mich durch die Hintertür zu schleichen.
Ich glaube, aus dem Rausch bin ich einigermaßen raus.
Es ist peinlich, dass ich mich betrunken habe. Furchtbar sinnlos und gemein.
Aber ich denke, ich hätte es nicht anders gemacht, könnte ich den Tag noch einmal wiederholen.
Weil ich nicht glaube, dass ich sonst überlebt hätte.
Jetzt fühle ich mich leer. Auf den Treppenstufen am Eingang sitzend beobachte ich den nun klaren nächtlichen Himmel, mit Sternen übersät, der Halbmond zwischen ihnen schwebend.
Die Haustür öffnet sich und ich fahre zusammen.
"Hey", begrüßt Lily mich und setzt sich zu mir auf die Stufen. Sie sagt nichts und ich traue mich genaus so wenig, würde aber trotzdem gern etwas loswerden.
"Pa ist doch...?"
Okay, aussprechen kann ich es also doch nicht.
"Ja."
Sie weint nicht und schaut nur mit mir nach oben in die Sterne.
"Was machen wir jetzt?"
Vielleicht sollte sie mich fragen, aber ich tue es.
Lily sieht mich an und lächelt. Es ist ein echtes Lächeln, das spüre ich.
"Weitermachen. Weißt du, Pa wartet auf uns, wo auch immer er ist. Und solange wir hier sind, sind wir immerhin nicht allein."
Sie hat recht. Und das ist schön.
Egal was auf uns zukommt, am Ende, und das hier fühlt sich wie ein Ende an, sind wir nicht allein.
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