✘10. Irgendwann ist immer das erste Mal✘
Harry hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet – bis eben war er noch immer der festen Überzeugung gewesen, dass niemand ihm glauben würde, sollte er von dieser Erscheinung erzählen. Selbstverständlich hatte er nicht wirklich geglaubt, dass er sich das alles nur eingebildet hatte, weil er eine Kopfverletzung gehabt hatte. Aber er wollte nicht, dass Louis ihn für völlig verrückt hielt, weil er selbst ganz genau wusste, dass er das nicht war.
„Im Ernst?", sein ungläubiger Blick haftete plötzlich an Louis wie eine Fliege im Spinnennetz.
Sein Gegenüber nickte. „Ja", antwortete er, „Nachdem ich eine ganze Hand voll Schlafmedikamente vermischt mit Alkohol zu mir genommen habe. Ich dachte erst, dass ich irgendwelche Halluzinationen von dieser komischen Kombination bekommen hätte, was ja nicht sonderlich abwegig gewesen wäre."
Harry stieß ein leises Seufzen aus. „Ich dachte, ich wäre der Einzige."
Energisch schüttelte Louis seinen Kopf. „Das bist du nicht. Als ich gehört habe, wie du ihr davon erzählt hast...", er machte eine kurze Pause, „Ist mir irgendwie klar geworden, dass ich gar nicht verrückt bin."
„Ich dachte nur, du würdest mich für verrückt halten, hätte ich dir davon erzählt", gab Harry zu und musste kurz auflachen, doch Louis schüttelte erneut den Kopf. „Ich halte dich aus ganz anderen Gründen für verrückt."
Als Harry das scherzende Grinsen auf seinen Lippen erkannte, musste er lachen. „Wie gesagt", gab er zurück, „Das Leben ist zu kurz, um normal zu sein."
„Ich wünschte, ich hätte die gleiche Denkweise", Louis seufzte.
„Deshalb sind wir hier", Harry setzte sich wieder hin und streckte seinen Rücken aus. „Ich will, dass es dir wieder besser geht."
Stille. Eine ganze Minute lang.
„Warum tust du das alles?", wollte Louis plötzlich von ihm wissen, als er sich ebenfalls wieder aufrecht hinsetzte. „Ich meine, weshalb möchtest du unbedingt, dass es mir wieder besser geht?"
Der Jüngere zuckte beide Schultern. „Ich weiß es nicht", gab er zur Antwort, „Vielleicht liegt es daran, dass ich dich ehrlich leiden kann."
Ein kleines Lächeln schlich sich in Louis' Gesicht. Ihm hatte noch nie jemand direkt gesagt, dass er ihn mochte. Noch nicht einmal, wenn es dabei um eine Beziehung auf rein freundschaftlicher Ebene ging. Niemand hatte ihm je gesagt, dass er ihn leiden konnte, mochte, schätzte, liebte – was auch immer. Er hatte nie etwas in dieser Richtung gehört, noch nicht einmal von seinen Eltern.
„Ich bin dir wirklich unheimlich dankbar für das, was du für mich tust", Louis sah sein Gegenüber ernst an. „Ich hoffe, das weißt du."
Er nickte. „Ich weiß."
Eine Weile lang sahen sie einfach nur in die Ferne und beobachteten die Stadtlichter dabei, wie sie den Nachthimmel erhellten.
„Wenn wir in Spanien waren", fuhr Louis schließlich fort, „Wohin wollen wir dann? Wir können nicht ewig vor unserer Verantwortung davonlaufen, Harry."
„Nein, natürlich nicht", antwortete er, „Aber lass uns noch nicht darüber nachdenken. Als erstes halte ich mein Versprechen."
Ihm gefiel die Art und Weise, wie Harry sich nicht um das kümmerte, was vor ihm lag. Wie er sich ausschließlich auf die Gegenwart konzentrierte und weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft lebte – sondern nur im Hier und Jetzt.
Er beneidete ihn um diese sorglose Denkweise. Er hätte nur zu gerne auch einfach aufgehört, ständig nachzudenken, ohne zu wissen, weshalb er sich eigentlich ununterbrochen solche Sorgen machte.
Aber er fühlte sich wohl, solange Harry genug Optimismus für sie beide übrig hatte – und den hatte er.
Nachdem sie noch eine Weile lang über ganz belanglose Dinge – wie zerflossene Schokoriegel – gesprochen und gelacht hatten, schliefen sie beide ein. In dieser Nacht regnete es nicht, so dass sie beide auf der Decke im Freien liegen bleiben konnten, ohne von einem unangenehmen Schauer überrascht zu werden.
Der nächste Morgen begann für beide bereits relativ früh, gegen sechs Uhr. Sie wussten nicht, wodurch sie geweckt wurden, aber sie wachten beinahe gleichzeitig auf.
„Ich brauche noch nicht einmal ein Thermometer, um sagen zu können, dass jetzt auch der Rest meiner Schokoriegel zerflossen ist", Harry stöhnte auf, als er bemerkte, wie heiß es bereits war.
Louis verdrehte kurz beide Augen. „Gibt es eigentlich nur einen Moment am Tag, an dem du nicht an Essen denkst?"
Harry schüttelte seinen Kopf und blickte ihn mit gespieltem Entsetzen an. „Ich versuche nur zu überleben."
„Mit Schokoriegeln", Louis' scherzend zweifelnder Blick brachte ihn kurz zum Lachen.
„Das ist besser als gar nichts", verteidigte er sich und stand kurz auf, um etwas zu Trinken aus dem Auto zu holen. „Hast du auch Durst?"
Louis nickte. „Ja."
„Orangina oder Wasser?", Harry wollte gerade nach einer Flasche Wasser greifen, als er sich noch einmal zu ihm umdrehte. „Ich empfehle dir wirklich, diese Limonade zu probieren."
Louis zuckte beide Schultern. „Wenn du so dringend darauf bestehst, muss sie ja wirklich gut sein", er grinste, und Harry nickte. „Ist sie wirklich."
Der Ältere stand ebenfalls auf und ging einige Schritte auf Harry zu, bevor er ihm seine Flasche reichte. Louis nippte vorsichtig, bevor er anfing zu trinken und konzentrierte sich kurz auf den Geschmack der Limonade. „Nicht schlecht", gab er zu und hielt beide Daumen nach oben, nachdem Harry die Flasche wieder an sich genommen hatte.
„Sag ich doch", er zuckte beide Schultern, bevor er selbst einen Schluck nahm.
Als sie beide wieder im Wagen saßen und weiter bis zur spanischen Grenze fuhren, band Harry sich die schulterlangen Haare mit einem kleinen Gummi nach oben, um der Hitze zumindest ein bisschen trotzen zu können.
Louis musste bei dem Anblick grinsen. „Ich habe noch nie einen Typen gesehen, der sich seine Haare zusammenbindet."
„Irgendwann ist immer das erste Mal", schulterzuckend bog Harry in eine Seitenstraße nach rechts ein.
Louis musste lachen, als er bemerkte, wie schlagfertig Harry eigentlich war. Er wusste immer eine passende Antwort auf alles, ganz egal wie dumm Louis' Bemerkungen manchmal auch klangen. Er wusste immer, wie man am besten kontern konnte.
Nachdem sie die spanische Grenze hinter sich gelassen hatten, bekamen sie unendlich schöne Landschaften zu sehen. Nicht nur die Vegetation war eine gänzlich Andere als die in Großbritannien. Es gab ganz andere Pflanzen und Landschaften, die keiner von ihnen bisher gesehen hatte.
Auch die Temperatur unterschied sich wesentlich von der auf den britischen Inseln. Das Wetter änderte sich zwar nicht alle zwei Stunden, dafür war es allerdings abartig heiß, wie Harry es auszudrücken pflegte.
Allerdings waren ihre Eindrücke nicht nur negativ, ganz im Gegenteil: Nach einem Restaurantbesuch waren sie sich einig darüber gewesen, dass Spanier unendlich gastfreundliche und offene Menschen waren.
In den Pausen, die sie während der Fahrt machten, besorgten sie sich neue Kleidung und Schuhe, die dem Wetter in Spanien angepasst waren. Harry beobachtete Louis mittlerweile öfter dabei, wie er von Herzen lachte. Nicht, weil er das Gefühl hatte, es tun zu müssen, sondern weil er es wirklich wollte. Weil es ihm wirklich gut ging.
Und zu wissen, dass er seinen Teil dazu beigetragen hatte, war für Harry ein schönes und bereicherndes Gefühl.
Louis hätte niemals geglaubt, dass sie tatsächlich bis nach Spanien kommen würden. Schließlich würden alle nach ihnen suchen, sobald klar wurde, dass sie verschwunden waren. Immerhin wusste niemand, wohin sie gefahren waren und ob es ihnen gut ging.
Louis war ohnehin überrascht, dass noch niemand sie gefunden hatte. Schon alleine das Kennzeichen des Wagens müsste irgendjemandem aufgefallen sein.
Umso besser, schoss es ihm durch den Kopf und er erinnerte sich daran, was Harry ihm gesagt hatte: Er sollte nicht so viel nachdenken.
Vielleicht hatte er damit wirklich recht, und Louis machte sich einfach zu viele Gedanken. Vielleicht sollte er einfach leben, anstatt sich ständig den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die am Ende ohnehin niemals so passierten, wie er sich die Situation ausmalte.
Und das wirklich Schöne daran war, dass Louis sich zum ersten Mal vorstellen konnte, dass er wirklich und wahrhaftig lebte.
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Hallo meine Lieben!
Ich hoffe, das neue Kapitel hat euch gefallen - und vor allem hoffe ich, dass ihr mir das in Form von Kommentaren und/oder Votes zeigen werdet! :)
Verbesserungsvorschläge sind gern gesehen, solang sie respektvoll geäußert werden :)
Ansonsten wünsche ich euch noch ein schönes Wochenende! :)
All the love xxx
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