Kapitel 4
Entgeistert starre ich den Zaun an. Mein Blick gleitet nach oben. Soll ich da jetzt hochklettern? Mein Gehirn teilt mir mit, dass ein Klettern allein nichts hilft. Ich muss mich auch verbiegen können, um den in meine Richtung gebogenen Draht ganz oben überwinden zu können. Ich bin kein Formwandler. Auch wenn ich kein Terraner bin, so stammen meine Vorfahren von ihnen ab. Es kann zwar sein, dass da mal ein Vulkanier oder eventuell auch ein Romulaner reingeraten ist, aber garantiert kein Formwandler! Meine Wirbelsäule ist nicht so biegsam, dass ich mich da drumherum schlängeln kann.
Wie komme ich auf den freien Platz?
Unwillkürlich fange ich an, mich zu kratzen. Zuerst oberhalb der Jacke. Als das nichts hilft, schiebe ich die Ärmel hoch und kratze direkt auf meiner Haut weiter. Diese roten Punkte werden nicht weniger, und genau jetzt macht mich das kitzelnde Gefühl wahnsinnig! Verdammt! Was ist bloß los? Am liebsten würde ich mir meine Klamotten runterreißen und mich am Zaun reiben, auf dem Boden wälzen – nur um dieses juckende Gefühl loszuwerden. Wer hat diese furchtbare Kleidung entwickelt?
Mein Herz schlägt immer schneller und Tränen fließen aus meinen Augen. Mich kratzend gehe ich den Zaun entlang. Keine Ahnung, ob du mich verstehen kannst, aber ich habe so ein sonderbares Gefühl in mir, so eine abgrundtiefe Leere, gegen die echt nur noch ein Schwarzes Loch ankommt.
„Beim galaktischen Quasar", murmle ich Moms beliebten Ausruf und fühle mich noch deprimierter. Ich will nach Hause. In meine kuschelige Wohneinheit, in meine Schlafkapsel mit der perfekten Atmosphäre. Und genau jetzt will ich auf das freie Feld und von den Technikern nach Chile geholt werden. Hat sich denn alles gegen mich verschworen? Ist das ein heimlicher Anschlag gegen meine Eltern, ein Sabotageakt gegen die Politik, für die wir im Sternensystem einstehen? Mittlerweile kommt mir gar nichts mehr zu abstrus vor. Die Rebellen haben bestimmt Möglichkeiten, die Kleidung für Weltenbesucher zu manipulieren. Und meine haben sie mit irgendwas infiziert, das durch die Luftzusammensetzung auf Terra aktiviert wird. Daher die roten Pünktchen. Daher das durchdringende Jucken. Daher ...
Ich halte inne. Mit dem Gehen und dem Kratzen. Mein Blick gleitet nach unten. Habe ich tatsächlich meine Jacke geöffnet und angefangen, sogar meine Brust und meinen Bauch zu kratzen? Entgeistert starre ich meine Hände an, meine Finger und ganz besonders meine Fingernägel.
„Beim Universum!", entfährt es mir, als ich das rötliche Schimmern sehe. Nein, das sind keine roten Punkte, wenn du das jetzt glaubst. Ich habe mich blutig gekratzt! Nun mischt sich unter das Jucken ein brennender Schmerz. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal geblutet habe. Habe ich überhaupt schon mal geblutet? Meine Stirn kräuselt sich von ganz allein, während ich wie mechanisch einen Schritt vor den anderen setze. Ich habe noch nie geblutet. Ich hatte noch nie rote Punkte auf der Haut. Ich war noch nie auf Terra und hatte nie Fasern an, die sich mit Flüssigkeit vollsaugen.
„As...on", dringt es metallisch aus dem weiterhin aktivierten Modul zu mir durch. „...ald da? ...nen ei... leichte Si...tur er...en."
Na super! Soll ich meine letzten verbliebenen Gehirnzellen jetzt etwa dafür benutzen, abgehackte Wortfetzen in sinnvolle Sätze zu modifizieren? Nicht mit mir. Ich blute! Das reicht doch schon. Wie schnell kann man eigentlich verbluten? Während ich an dem metallenen Zaun entlanglaufe, starre ich auf meine Finger, die noch immer rötlich schimmern. Klar, von allein geht mein Blut dort natürlich nicht weg. Soll ich sie an der Kleidung abwischen? Die ist ja sowieso kontaminiert. Und dann sehe ich die eklige Flüssigkeit wenigstens nicht mehr. Alternativ lasse ich die Hände einfach unten und schaue sie nicht mehr an. Wieso schießt ausgerechnet jetzt der nächste Juckreiz durch meinen Körper?! Ich brauche meine gesamte Willenskraft, um die noch unberührten roten Stellen nicht ebenfalls aufzukratzen. Meine Schritte beschleunigen sich. Ich muss so schnell wie möglich auf die andere Seite des Zaunes!
Und dann fällt es mir auf.
Ich bin in einem Überlebenszentrum der Terraner.
Meine Atmung nimmt noch einmal rasant zu, und mein Herz pumpt wie wahnsinnig in Lichtgeschwindigkeit. Wieso ist mir das bisher nicht aufgefallen?
Ich bin allein.
Das meine ich wortwörtlich.
Ich bin hier völlig allein. Es gibt nicht einen einzigen Terraner. Nicht einmal diese stinkenden, qualmenden Fahrgeräte bewegen sich auf den Straßen. Niemand, absolut niemand und nichts ist zu sehen. Als ob es hier eine Sperrstunde gibt, ab der sich kein Lebewesen draußen zeigen darf. Gibt es vielleicht so eine Sperrstunde? Und meine Eltern haben vergessen, mich davor zu warnen?
Bei allen Galaxien, jetzt werde ich noch schneller. Irgendwo muss es doch ein Loch im Zaun geben, ein Tor oder irgendeine Öffnung. Wie kommen die Terraner auf die freie Fläche? Ich muss so schnell wie möglich auf diesen Platz gelangen. Das Knistern und Knacken meines Moduls stimmt mir da zu. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und rinnen herab. Sie vermischen sich mit den Tränen und tropfen hinunter auf meine Brust, bilden kleine Schlieren mit den blutigen Punkten. Es brennt. Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken.
Bilde ich es mir ein, oder wird der fieselige Niederschlag langsam dichter? Ich kann spüren, wie er sich mit meinem Schweiß, meiner Tränenflüssigkeit und meinem Blut verbindet. Spätestens jetzt hat sich jede terrestrische Lebensform, die sich in der Luft und im Nieselregen befindet, Zutritt zu meinem Innenleben verschafft. Das gibt verdammt viel Arbeit für die Ärzte bei uns. Ich glaube nicht, dass mir ein normales Schleusenbad noch helfen kann. Aber wenn ich nicht bald auf die freie Fläche komme und nach Chile gebeamt werde, braucht mir auch niemand mehr zu helfen. Denn dann liege ich hier auf Terra, mitten in Mainz, ganz allein an einem Maschenzaun neben einer großen, freien Fläche und alle werden sich wundern, wer der blutende Junge mit den verklebten blonden Haaren ist. Und niemand kann es ihnen beantworten. Denn meine Eltern können ja nicht hierher kommen. Wie werden Leichen eigentlich auf Terra entsorgt?
„As...on ...de dich." Die Übertragung wird nicht besser. Kein Wunder, ich bin ja immer noch auf der falschen Seite des Zauns. „A... st du uns ...ren?"
Ich atme tief durch. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was mein Dad von mir will, spreche ich mal mit ihm. Vielleicht hört er mich. Wenn ich gar nichts sage, denkt er nachher noch, dass ich bereits tot bin. Und Tote braucht man nicht mehr beamen. So ein Unsinn, die kann man nicht mehr beamen. Wo es keine lebende Signatur gibt, ist auch nichts zu erfassen. Deshalb ist das Beamen von Gegenständen auch eine so komplexe Spezialisierung, die beherrschen nur Elite-Techniker. Dazu gehöre ich nicht.
„Dad, ich suche den Eingang zu dem freien Platz. Er ist von einem Metallzaun umgeben. Irgendwo muss es eine Lücke geben." Ich blinzle, dann wische ich mit den Fingern über meine Augen, um den Tränenschleier zu entfernen. Nein, in dem Moment denke ich gar nicht an mein Blut. Wirklich nicht. Es gibt ja noch andere Probleme als zu verbluten. „Dad, ich glaube, da vorn ist eine Art Tor." Zumindest sieht es danach aus.
So sehr ich auch schneller gehen möchte, ich habe bereits alle Reserven aus meinem Körper geholt. Wahrscheinlich würdest du sagen, dass ich in Zeitlupentempo auf das Zaunende zu stolpere. Aber für mich fühlt es sich wie ein Megasprint an.
Endlich bin ich da. Es gibt einen Türgriff, der in einer Metallmulde steckt. Ich greife nach ihm und drücke ihn runter. Hältst du wie ich den Atem an? Meine Augen sind weit aufgerissen. Nein, nicht wegen meiner blutenden Haut, die irgendwie leicht aufgequollen aussieht. Sondern wegen des Griffs, den ich langsam nach unten drücke. Ich ziehe.
Ich ziehe kräftiger.
Dann rüttle ich an der verdammten, galaktischen Tür.
Sie ist verschlossen!
Und jetzt verlassen mich alle anerzogenen Zurückhaltungen. Ich hole aus und trete mit Wuttränen in den Augen gegen dieses Tor. Und noch einmal! Und als ich spüre, wie sogar so klebrige Flüssigkeit aus meiner Nase fließt, trete ich laut schreiend ein drittes Mal gegen dieses verdammte Tor.
Als das Modul knisternde Laute von sich gibt, kralle ich meine Fingernägel in den Handrücken, als ob ich es rausreißen will. Aber nein, natürlich mache ich das nicht. Stattdessen zittere ich am ganzen Körper, presse die Luft aus meinen Lungen und starre das Tor an. Starre nach oben. Kein gebogener Draht. Nur das Tor. Ich blinzle ungläubig und hoffnungsvoll. Ich bin eins achtundsiebzig. Jetzt sag bloß nichts! Ich kann nichts dafür, dass ich so klein bin. Ich hoffe, wenn ich das hier überlebe, dass ich noch wachse. Für gewöhnlich sind wir erst mit zwanzig Jahren ausgewachsen. Da habe ich noch eine Chance, die eins neunzig Standardmaße zu erreichen. Aber du kannst es dir wahrscheinlich schon denken. Bei dem Pech, das mich verfolgt, schaffe ich nicht mal die eins achtzig.
Egal, das Tor dürfte etwa zwei fünfzig hoch sein. Das bekomme ich hin. Leider sind hier die Maschen sehr viel kleiner. Ich kralle mich mit den Fingern hindurch und stemme mich mit den Schuhen ab. Zumindest versuche ich es. Doch die Sohlen sind glitschig. Dieser Niederschlag hat alles rutschig gemacht. Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. Fehler! Jetzt habe ich einen mächtigen Schwung ungesunder Terranerluft in meine Lungen gesaugt, zusammen mit einem noch mächtigeren Schwung des atmosphärischen Nebels. Das kann mir jetzt bestimmt nicht helfen. Aber zu spät. Und ob mein zersetztes Gehirn Grund für meine Idee ist oder was anderes, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ziehe ich die Schuhe und die Naturfasersocken aus. Keine Ahnung, ob es nun besser ist, doch fällt mir nichts Besseres ein. Und dass meine Füße ebenfalls rotgepunktet sind, kann mich nicht mal mehr schocken.
Ich kralle erneut meine Finger durch die Maschen, mache das auch mit den Füßen. Es klappt, auch wenn es sich sonderbar anfühlt. Wann war ich das letzte Mal barfuß bouldern? Ist schon eine kleine Ewigkeit her. Vielleicht sollte ich damit wieder anfangen. Es ist irgendwie angenehm, mit den Füßen das Gleiche zu spüren wie mit den Händen. Sich langsam hochzuhangeln, den Rand des Tores Stück für Stück näherkommen zu sehen. Tatsächlich erfasst mich ein sehr gutes Gefühl: Euphorie.
Endlich bin ich oben, schwinge mich über den Rand und lasse mich einfach fallen. Warum langsam herunterklettern? Der Aufprall ist schmerzhafter, als ich erwartet habe, aber ganz okay. Ich hätte daran denken sollen, dass meine Schuhe auf der anderen Seite des Zaunes liegen. Egal. Ich renne los. Vorbei an weißen Streifen, deren Sinn sich mir nicht erschließt. In der Mitte ist ein weißer Kreis. Ob sich da die Terraner treffen? Aber zu was? Von einem Flugobjekt lassen sie sich hier bestimmt nicht mitnehmen. Ich warne dich vorsichtshalber noch einmal: Ein heller Strahl vom Himmel ist immer gefährlich. Egal, was man dir so erzählt. Also falls dieser Kreis dazu da ist, um Terraner zu sammeln und auf Raumschiffe zu warten, die einen mit einem Traktorstrahl an Bord beamen, dann ist das eine effektive Möglichkeit, die Anzahl der Lebewesen auf Terra zu dezimieren. Denn zurück kommst du mit Sicherheit nicht mehr!
Weil ich nicht auf irgendeine fremde Spezies warte, sondern auf die Wissenschaftler unseres Teams, stelle ich mich natürlich mitten in den weißen Kreis.
„Dad, ich bin jetzt auf einem freien Feld. Genau jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, um mich zu holen."
Mein Blick huscht zu dem Tor hinüber, wo meine Schuhe und Strümpfe liegen. Was werden die Terraner denken, wenn sie die später dort entdecken? Eigentlich sollte es mir egal sein. Und weißt du was? Es ist mir auch egal. Ich konzentriere mich auf das Modul. Nehme nur am Rande wahr, wie mein rechter Fuß über den linken Fuß reibt. Verdammt! Aber es juckt nun einmal so schrecklich. Das ist ein Reflex.
„Astron, dem Universum sei Dank, wir können dich wieder hören."
„Dad!" Nie habe ich mich mehr gefreut, seine Stimme zu hören. „Dad!"
„Bleib stehen, wo du auch immer bist. Wir können dich erfassen."
„Astron, Liebling", das ist die Stimme von Mom, „gleich bist du in Sicherheit."
Was meint sie damit? Sie kann doch gar nicht wissen, was mir alles widerfahren ist. Warum spricht sie von Sicherheit? Ein kalter Schauer kriecht über meinen Rücken. Der ist noch kälter, als mir ohnehin schon ist. Immerhin stehe ich barfuß auf einem nassen Rasen, meine Jacke ist offen, die Ärmel hochgekrempelt und alles vom Nieselregen durchtränkt. Ich bin quasi schon die Kälte in Person. Doch Moms Worte machen mir echt richtig Angst.
Zitternd stehe ich da. Sehe die bläuliche Färbung unter meinen Fuß- und Fingernägeln. Meine Zähne klappern aufeinander. Wahrscheinlich sind meine Lippen auch bläulich.
„... gleich bist du in Sicherheit.", hallt es in mir nach, als mich das bekannte Gefühl des Beamens erfasst, diese völlige Auflösung, das kurzzeitige Nichts-Sein und eine sinnenlose Dunkelheit.
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2.097 Wörter für dieses Kapitel
6.988 Wörter gesamt
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Mein Betaleser und Brainstorming-Partner Dadian09 hat gerätselt, was Astrons Dad gesprochen haben kann. Für all jene, die es auch herauszubekommen versuchten, hier die Lösung:
„Astron", dringt es metallisch aus dem weiterhin aktivierten Modul zu mir durch. „Bist du bald da? Wir können eine leichte Signatur erkennen."
„Astron, melde dich." Die Übertragung wird nicht besser. Kein Wunder, ich bin ja immer noch auf der falschen Seite des Zauns. „Astron, kannst du uns hören?"
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