Staub und Dreck
Gedankliche Klarheit kam zurück.
Diese Klarheit wurde hier und dort deutlicher- und dann verschwammen die Bilder wieder.
Dann wurden die Wahrnehmungen wieder deutlicher.
Heiße Sonne! Unerbittliche heiße Sonnenstrahlen.
Leute unterhalten sich. Sie lachen offenbar.
Die Bilder werden deutlicher.
Wenn man die Augen zusammen kneift und nur einen kleinen schmalen Seeschlitz lässt- so erschien es Sophia im Moment, um die Situation zu erfassen. Der Avatar des Ur- Ahnen blickte nach links und rechts, dann wieder nach unten. Alles Grau, rötlich, staubig und felsig. Der Avatar bewegte sich offenbar- er ging in eine Richtung. Größere Schatten- wohl von einem Tier- bewegten sich an dem Gehenden vorbei.
Sophia versuchte die Kontrolle irgendwo zu bekommen. Sie wurde ungeduldig.
Dann erinnerte sie sich an die Ratschläge von Dr. Leyla Hassan: Fließend, zulassen, nicht übereilen. Sophia versuchte eine Leere zu schaffen, um noch einmal alles neu anzugehen.
Der Avatar war immer noch in Bewegung. Die erkennbaren Bilder wirkten wie Wahrnehmungen eines Betrunkenen.
Dann spürte Sophia wieder diese unglaubliche Hitze um den Körper des Avatar herum. Und kaum ein Schatten, der sich dem Avatar wohl bot. Dort, wo Schatten zu sein schien, bewegte sich der Avatar jedoch gradewegs vorbei.
Sophia bemerkte einen leichten Anstoß an den Knien.
Hatte sich der Avatar gerade irgendwo hingekniet? Ja, es schien fast so.
Er schien sich vor zu bewegen. Sophia ließ die Bewegung zu.
Die Wahrnehmungen wurden wohl deutlicher.
Irgendwo von links kam eine tiefere Stimme. Sophia konnte sie hören, jedoch nicht verstehen. Daher fragte sie nach- Wortgleich dem, was der Avatar von sich gab.
"Was?"
Und auch der Avatar fragte dies : "Was?"
Der Avatar- und Sophia- blickten nun gemeinsam in die Richtung, von woher die tiefe Stimme gekommen war.
Und mit einem Mal war für Sophia alles klar. 'Ich bin da! Ich bin tatsächlich da! In der Vergangenheit! Es hat geklappt! Wie verrückt ist Wissenschaft! Wie verrückt ist diese Welt- eine Welt voller Wunder!'
Ein älterer Ritter klopfte mit seiner rechten Hand auf die linke Schulter des Avatars- soweit die Optik.
'Ich spüre den Handschlag auf dem linken Rücken! Ich Sophia! Und es fühlt sich so echt an. Die affektiven Sinne scheinen damit wohl auch gut zu arbeiten. Die Kognitive Verbindung?', dachte sich Sophia.
Die Optik vermeldete an Sophia, dass der ältere und nunmehr deutlich zu erkennende Rittersmann mit der anderen Hand- also seiner linken Hand in eine Richtung deutete und etwas zeigte.
Sophia folgte mit dem Blick in die Richtung und sah, was dem Avatar gezeigt wurde.
Zwei Waffenknechte. Beide standen- oder hockten- in einem Bachlauf. Der eine Knecht war grade dabei, sein großes und wohl auch kleines Geschäft in den Bach zu verrichten. Der andere war damit augenscheinlich soeben fertig geworden, zog seine Hosen wieder über den blanken Hintern hoch.
Sophia war angewidert. Aber dies durfte sich nicht auf den Kontakt zum Avatar auswirken, der soeben klar hergestellt schien.
Die Waffenknechte schienen erschöpft, aber froh und nunmehr auch erleichtert zu sein.
Der ältere Ritte, links neben dem Avatar, sprach im Angesicht der Situation nochmals: "Ich habe gesagt, du sollst deine Augen aufmachen. Auch wenn du erschöpft bist. Wenn du was trinken willst, dann geh ein wenig oberhalb an den Bach. Nicht hier!"
"Danke!", und "Mach ich!", sagten der Avatar und gedanklich auch Sophia in dieser Situation.
Der Ältere nickte trocken und ging dann seiner Wege.
'Wie realistisch all dies wirkt.', Sophia war begeistert. 'Dann hat mich dieser alte Ritter nur davor warnen wollen, das eklige Wasser an der Stelle zu trinken. Bloß gut! Ich hätte mir sonst vor ekel tagelang meine Zunge geschruppt und wäre aus dem Zähneputzen nicht mehr herausgekommen.'
Doch dann zwang sich Sophia bei der Animus- Verknüpfung zu bleiben. Es durfte nicht abreißen- nicht jetzt schon.
Der Avatar folgte Sophias gedanklichem Wunsch und sah sich um.
Staub, Dreck, flirrende Hitze, Felsgestein, ein kleiner Bachlauf, der den Weg kreuzt. Einige Ritter oder Knechte standen oder saßen an der Seite des Weges- augenscheinlich sehr erschöpft und ausgemergelt. Ein höherer Felsklamm etwas weiter rechts. Kaum Gras oder Grünes. Vieh wurde durch einige sehr zerlumpte Gestalten gefüttert. Ein Mann kratzte gekonnt den Huf eines Pferdes aus, welches wohl als Lasttier diente. Ein beißender Geruch wurde wahrgenommen- Mist und Gülle. Nahe bei der vor Ihnen liegenden Furth war der Haufen abgelagert.
'Noch ein guter Grund , viel weiter oben am Flusslauf etwas zu trinken und den Wasserschlauch zu befüllen!'
Auch Sophia verspürt diesen Durst und den beißenden Hunger des Avatars. Ihre Füße scheinen sich nur zu schleppen, anstatt zu gehen.
Der Avatar scheint ein Mann zu sein.
Ein Ritter.
Sophia reibt mit der Hand über eine Art Kinnbart- kratzig und wohl mehrere Wochen alt, wie der Avatar ihr nur durch diese Kraft der Gedankenverschmelzung zu sagen schien.
Der Avatar geht weiter, hinter mehreren gesattelten Pferden entlang. Einer- ein jüngerer Mann- sieht mit leerem, erschöpften Blick dem Avatar ins Gesicht und nickt dann kurz und aufmunternd zu.
Dann erreicht der Avatar den Flusslauf dort, wo wohl keine Tiere oder Knechte mehr ins Wasser gehen. Er beugt sich vor und trinkt aus dem Fluss kühles Wasser.
Auch Sophia spürt die Kühle des nassen Wassers, als benetze es ihre eigene Kehle.
Sophia- oder der Avatar- sehen ins Wasser.
Ein Spiegelbild?
Sophia sieht einen jungen Mann- vielleicht 25 Jahre alt, mit struppigen, dreckigen aber wohl dunklen Haaren. Sie erkennt die hellen Augen und Augenbrauen dieses Mannes.
Der Avatar- Mann wäscht sein Gesicht mehrfach und lässt kaltes Wasser den Nacken entlang über den Rücken laufen, obwohl er bekleidet ist. Dann legt der Mann beide Unterarme in das kühlende Nass des Baches.
Und wieder nimmt Sophia diese Kühle des Wassers so echt wahr, als würde sie sich selbst das Gesicht waschen und die Arme abkühlen.
Der junge Mann ist erschöpft. Auch ein starkes Hungergefühl scheint den Avatar zu plagen. Er rafft sich auf, um zu den Anderen seiner Gruppe zurück zu gehen.
Sophia kann die Gedanken des Mannes, in dessen Körper- und wohl auch Geist- sie steckte, relativ deutlich wahrnehmen: Er denkt an seine Gefährten. Dann bittet er leise und in der Stille der Gedanken den Herrgott um Stärke und Willenskraft und hofft auf einen gefahrlosen Weg durch diese verfluchten Berge.
Der junge Mann ist ein Ritter.
Ja! So muss es sein.
Er denkt an zwei gefallene Freunde, die im letzten Jahr in Kleinasien im Kampf gegen die Seldschuken starben.
Einer war ein Jugendfreund.
Der andere Kerl war ein angenehmer Mann, der seit dem Treffen in Metz den Weg mit dem Ritter teilte. Er ist dem Seldschuken- Überfall in Kleinasien zum Opfer gefallen. Keiner konnte die Toten begraben, da man weiter nach Artaleia durchbrechen musste.
Der Mann- Sophia's Avatar- war Teil einer Truppe, welche in die Grafschaft Edessa entsandt wurde.
Obwohl der junge Mann auf dem Kreuzzug innerlich gereift ist und auch zu großer körperlicher Ausdauer und Kraft gelangen konnte- seine Seele, sein Inneres hat viele Narben erhalten.
Sophia kann spüren, wie es den jungen Mann innerlich beschäftigt und er sich nicht im Einklang fühlt. Dabei sucht er diese Ausgeglichenheit zwischen seinem Glauben und seinem Handeln. Er ist im inneren Widerstreit. Und was wohl das Schwerste für ihn zu sein scheint: Er kann und darf über seine Zweifel nicht mit seinen Gefährten sprechen, obwohl er glaubt, dass manche seiner Mitstreiter die gleichen Zweifel bewegen.
Denn in einem Jahr Krieg ist viel hier im Nahen Osten geschehen.
Das Ziel des Kreuzzuges, die Grafschaft von Edessa den Sarazenen zu entreißen und dem Herrscher von Mossul in die Schranken zu weisen, ist entwichen. Edessa ist nach schweren Kämpfen zerstört und fast entvölkert. Die Bewohner von Edessa wurden dahingeschlachtet. Auch wenn es zurückerobert werden konnte, besitzt Edessa derzeit wenig Wert und Glanz.
Der legitime Christliche Herrscher dieser Grafschaft, der Graf von Edessa und Coutenay, ist ein hoher Templer. Graf Joscelin der Zweite- so nennt er sich. Und Graf Joscelin forderte Hilfe von seinen Ordensbrüdern- Hilfe gegen die starke Bedrängnis durch die Sarazenen.
Der Avatar ist wohl einer der Ritter in diesem Unterstützungs- Kontingent, das hier am Übergang des Flusses Afrin rasten muss. Der junge Ritter rechnet mit noch zwei weiteren Tagen des Marsches.
Der Marsch geht zu einer Burg, wo sich der Graf Joscelin II. aufhalten soll- eine Burg mit dem nüchternen Namen Turbessel. Eine Festung der Templer in diesen Landen.
Sophia Rikken ist irritiert, da sie spürt, dass sich auch ihr Avatar dem Orden der Templer sehr stark verpflichtet fühlt. In seinen Gedanken liest sie, dass der Mann ein Templer ist.
Beim Eintreffen in Antiochia hat man ihm, dem jungen Ritter, ein neues Wams, einen leichteren Gambeson und einen Waffenrock mit dem roten Kreuz der Templer als Ausrüstung gegeben. 'Wegen der Erkennbarkeit für Freund und Feind!', so hatte man ihm gesagt.
Doch die Aufgabe, wofür er glaubte einzustehen in diesem Land, war nicht der Schutz der Pilger.
Die Pilger aus dem Reise- Tross waren allesamt in Kleinasien durch Seldschuken getötet worden. Noch schlimmer hatte es die Pilger der Deutschen getroffen. Die Deutschen mussten sich bei ihrem Marsch durch Kleinasien aufteilen. Die Seldschuken haben zuerst die unbewaffnete Pilgerschar der Deutschen dahin gemetzelt und sich dann in einer offenen Schlacht und mehreren Gefechten gegen die deutsche Ritterschaft behauptet. Die Deutschen werden hierzulande keine Rolle mehr im Kreuzzug spielen.
Und auch hier in der Grafschaft kamen nur sehr wenige Pilger auf den Wegen daher. Es waren nicht die klassischen Pilgerrouten.
Die Aufgabe war es vielmehr, den Wohlstand des Ordens der Templer und dessen Macht zu vergrößern. Diese Grafschaft war den Templern wichtig- doch aus rein strategischer und wirtschaftlicher Sicht.
Und all sein Glauben an Gott und die Gerechtigkeit seiner Sache wird hier in diesen Landen jeden Tag auf ein Neues geprüft und durch ihn hinterfragt.
Sophia Rikken will nun endlich wissen, in wessen 'ritterlichen Körper' sie nun steckt- allein schon, um zu erfahren oder Vermutungen anzustellen, wie diese Blutlinie denn nun genannt wird.
Der junge Ritter? Wie wird er gerufen?
Sie spürt es- in dem jungen Mann. In seinem Geist, seinem Auftreten.
Robert.
Robert ist sein Name.
Robert de Fucy.
Dies ist der christliche Ritter, in dessen Körper und Geist es Sophia verschlagen hat.
Und er stammt aus Frankreich. dem Nord- Westen, um genauer zu sein.
Von einem Gut Fucy stammend, wie seine Vorfahren und seine Geschwister. Robert ist wohl der Drittgeborene. Und wie seine zwei älteren Geschwister, Johan und Resa, lebt er noch. Zwei jüngere Geschwister wurden zu Grabe getragen. Eine junge Schwester lebt noch daheim. Der Vater ist bereits verstorben. Die Mutter lebt auf dem Gut, dass nun Johan leitet.
Doch wie wurde dieser Robert de Fucy zum Templer?
Er nahm das Kreuz aus freien Stücken, wie es scheint.
Er hatte sich als Knappe in einer Gruppe pilgernder Ritter einzuordnen, wie es sein Herr verlangte. Die normannischen gläubigen Ritter waren nach Vezelay aufgebrochen, einem französischen Ort der Wallfahrt. Die Ritter wollten nah bei Gott sein und ihren inneren Weg finden.
Diese Gruppe um Robert und die Ritter der Pilgerschaft hörten eine glühende Predigt am Ort der Wallfahrt, die den Schutz der gläubigen Pilger als wichtigste und frömmste Aufgabe hervor tat. Und so schlossen sich sein Herr und auch die anderen Ritter noch an diesem Tage zusammen, um mit Entschlossenheit für diese Aufgabe mit ihrem Schwertern einzustehen.
Sein damaliger Herr und Lehrmeister suchte Kontakt zu Templern, welche aus dem Heiligen Land zurückkehrten.
Und nachdem Robert de Fucy die ritterlichen Weihen erhielt, fühlte er sich diesem Ziel -dem Schutz der Pilger- näher als anderen Ideen. Dennoch blieb er daheim.
Doch als nun die Ritter Frankreichs aufgefordert waren und der päpstliche Legat wortgewaltig zu den Waffen rief, um Edessa zu erretten, da zog es auch Robert hinaus- jedoch zum Wohlgefallen seiner Familie und seines Bruders. Es sei eine Ehre für die Familie, so sagte man ihm.
Und neben der Ehre- wenn man als geringer Ritter hier zu Wohlstand gelangen kann, so sollte dies auch zum Nutzen der Familie sein. Deshalb ist er hier.
Robert de Fucy stemmt sich hoch und geht zurück zur Straße, um sich nicht länger von den Gefährten zu entfernen. Gefahren lauern überall. Und waren es gestern die Seldschuken, so sind es vielleicht morgen die Sarazenen einer mohammedanischen Garnison, oder es warten übermorgen Banditen.
Festung Turbessel- dies war der Ort, auf den der junge Mann nun hoffte.
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