Reise, Reise
"Willkommen in Istanbul, Frau Doktor."
Sophia Rikken war nicht überrascht, dass Abstergo Industries jemanden zum Abholen gesandt hatte. Abstergo hat einen gut aufgestellten Fahrdienst für die höheren Bediensteten. Dies war sehr oft hilfreich, aber zuweilen auch - nun ja, wie sagt man es am Besten- unangemessen, unpassend oder übertrieben störend.
Was sie jedoch in diesem Fall dann doch überraschte, war der Umstand, dass der Chef der Security, also der Spanier Ernesto Mc Cowan selbst neben dem Fahrer eines diskreten und unauffälligen schwarzen Minivan stand.
Dafür gab es sicherlich verschiedenste Möglichkeiten der Interpretation.
Zum einen bestand die wage Möglichkeit, das Mc Cowan um der 'alten Madrider Zeiten' in hohem Maße erfreut war, ein benanntes Gesicht in Istanbul begrüßen zu können. Immerhin hat Mc Cowan- als treuer Kettenhund von Sophia's Vater- seinerzeit in Madrid gewissen Freiheiten erworben, die- als Dank für die tiefe Loyalität gegenüber dem Orden der Templer- mehr als gut entlohnt und mit Kompetenzen versehen waren. Freiheiten in Bezug auf Auswahl von Personal für seine Truppe, Freiheit für deren Ausbildung und Entlohnungsstufen und Freiheiten, die auch die Sicherheit von Veranstaltungen der Templer betrafen. Wer jedoch Mc Cowan kannte, der wusste, das derlei Schwelgen in menschlichen Gefühlen der Erinnerung weit entfernt war von Ernesto Mc Cowans Wesen. Dies war kalt, abweisend und weder von Gefühl, noch von Zuneigungen oder Vertrauen gekennzeichnet.
Eine weitere Möglichkeit war, dass Abstergo Industries der neuen Leiterin der Abteilung Forschung den erwartbaren Respekt erweisen wollte und vom ersten Moment signalisieren wollte: Wir sorgen für deine Sicherheit! Denkbar ist ein solches- auf Höflichkeit basierendes inneres Bestreben vielleicht in einem 'normalen' wirtschaftlichen Unternehmen oder Konzern. Sophia jedoch arbeitete für Abstergo Industries- das wirtschaftliche und legale Aushängeschild des Ordens der Templer. Und - egal wie stark dessen wirtschaftliche Macht oder sein Interesse an Forschungen innerbetrieblich auch war- niemals würde innerhalb Abstergo in solcher Weise eine Respektbezeugung gesehen werden.
Schon aus diesem Grunde konnte das erscheinen Mc Cowan's nur als ein Signal verstanden werden: Ein Signal der Kontrolle! Dies sagte Sophia Rikken sofort: 'Pass auf und nimm Dich besser in Acht. Sag nichts und spiel die Gefügige!'. Abstergo war ein Konstrukt, welches mit Druck und Kontrolle funktionierte. Wenn man sich darauf einließ, wurde man ebenso gut bezahlt, wie man zudem überwacht und kontrolliert wurde. Dies galt in der Arbeitswelt in erster Linie, aber auch sämtliches Privatleben wurde - rechtlich geschützt durch Klauseln in der Einverständniserklärung- damit unter Kontroll- Möglichkeiten von Abstergo gestellt.
Obschon nicht alles und jeder kontrolliert wurde- leitende Mitarbeiter, die für Abstergo und die Templer arbeiteten, waren sich eigentlich bewusst, dass Abstergo stetig und auch ohne Anlass seine Kontrollen ausübte. Kontrollen, die von Handy- und Mailüberwachung bis zum Setzen von Wanzen in den privaten Häusern oder Wohnungen reichen konnten.
Und wenn Mc Cowan gegenüber Dr. Sophia Rikken süffisant lächelnd mitteilte, sie zuerst in die Firma und zu Senor Dr. Charkow zu begleiten und danach in den firmeneigenen Wohnkomplex, so bedeutete dies wiederum auch für Sophia: Kontrolle! Auf der Fahrt, in Büro und Labor, in der Freizeit danach und auch in der firmengestellten Wohnung. So wurde in Sophia's Ohr dieses: 'Willkommen in Istanbul!' zu einem 'Willkommen in einem System, welches dich rundherum überwachen wird! Tag und Nacht!' umgewandelt.
Dennoch- Sophia Rikken war auch auf das Wohlwollen solcher Leute, wie Mc Cowan, angewiesen.
Gerade Mc Cowan hatte sehr feine Antennen, wenn es Sicherheitsrisiken oder Vertrauensbruch ging. Dies hatte er zur Genüge schon in Madrid bewiesen. Mit bloßem Blick beobachtete er genau, welches Verhalten das unbedarfte, nichts ahnende Opfer zeigt. Hierbei war es egal, ob es ein Assassine als Zelleninsasse war oder ein Templer, dessen Gewissen wohl erwachte. Mc Cowan hatte einen inneren Barometer, welcher Lügen entlarven konnte oder Verrat im Gesichtsausdruck ebenso verriet, wie Unsicherheiten des Beobachteten. Und wenn dieses Barometer mehrmals ausschlug, so war Mc Cowan nicht mehr der freundliche Sicherheitschef. Er wandelte sich zu einem erbarmungslosen Jäger- fixiert auf sein Opfer. Nur ein Vorgesetzter und dessen Befehl, ein Geständnis oder die gefangene Beuteperson konnte das Ende der Jagd bedeuten.
Die Fahrt ging weg vom Flughafen, weg vom Bosporus, weg von der lebendigen und pulsierenden Innenstadt Istanbuls. Der Minivan fuhr auf einer gut ausgebauten, mehrspurigen Straße nach Osten- heraus aus der Kernstadt. Mehrere Slum- ähnliche Wohnviertel wurden sichtbar. Irgendwann spiegelte sich dann auch wieder ein breiter werdender Wasserstreifen auf der Fahrerseite, der erkennbar bis zum Horizont reichte. Sanftes Klitzern spiegelte sich auf dieser ruhigen Wasseroberfläche- ein Klitzern, wie es Sophia Rikken mochte.
"Das Schwarze Meer.", erklärte Mc Gowan. "Ideal auch für Badeausflüge. Allerdings sollten Sie- als Frau- darauf achten, wo sie Baden gehen. Und zudem- auch wenn dies für westliche Frauen unüblich erscheint- wie sie sich an den Ständen kleiden."
Sophia hatte sich so etwas schon gedacht. Es überraschte sie jedoch, dass Mc Gowan so weitblickend auch weibliche Probleme im Auge hatte. Daher entschloss sich Sophia, die Karte der Vertrautheit ebenso auszuspielen, wie es Mc Gowan tat.
"Danke Ernesto. Das ist gut zu wissen. Nur gut, dass Sie hier sind und sich schon gut auskennen. Als Frau hat man es hier vielleicht nicht immer leicht.", erklärte sich Sophia. Dieses Eingeständnis ihrer offensichtlichen weiblichen Schwäche in diesem fremden Land würde sicherlich das große Ego von Mc Gowan erstarken lassen. So sah er in ihr weniger eine Bedrohung. Vielleicht brachte ihr dies einen Bonus- irgendwann.
Die Fahrt ging weiter in Richtung Osten.
Das Funkgerät des Minivan knirschte und piepste. Eine kurze Anfrage kam herein in fremder Sprache. Der gut gekleidete türkische Fahrer antwortete. Auch er versuchte sich kurz zu fassen.
Sophia Rikken verstand die Sprache nicht. Wie gut, dass man sich innerhalb der Firma in den Konferenzsprachen Englisch und Französisch zu unterhalten hatte. In Madrid hatte man sich hier und dort auch spanische Sprachinhalte angeeignet über die Jahre. Allerdings war es dort ebenfalls üblich gewesen, die meisten Dialoge in englisch zu führen, wie auch die Korrespondenzen diese Sprache hatten. Es war die einfachste und beste Lösung in internationalen Konzernen.
Irgendwann endete die gute Fernstraße und wechselte in eine Pflasterpiste. Kurz darauf verließ der Abstergo- Minivan die Hauptstraße, überfuhr einige Brücken und Ampelkreuzungen, bis er sich auf einer Uferstraße wiederfand, welche weiter nach Osten reichte. Der Van hastete dann einen Anstieg hinauf, um an der Bergkuppe den Blick auf ein Tal an der Küste freizugeben.
'Das war es also: Das neue Abstergo- Gelände!', dachte sich Sophia.
Abstergo - Firmengelände haben immer den Hang zum dominanten und beeindruckenden Erscheinungsbild. Auch hier war es nicht anders- allerdings zog es sich in dem schmalen Tal ein wenig lang hinein. Alles war weithin entlang der Küstenstraße eingezäunt- so gut abgeschottet, dass auch die Küstenstraße am Zaun entlang in das Landesinnere einen Bogen nahm und sich abgedrängt dort hinten wieder in die Berge nach Osten weiterzog. Wie eine Oase in der kargen Felsenlandschaft wirkte das Areal. Mehrere einzelne Komplexe fanden sich über das Tal verteilt. Am gegenüberliegenden Berghang schienen etwas wie Appartements an den Berg gesetzt zu sein, kleinere Wohneinheiten von vier bis sechs Parteien auf zwei Etagen. Selbst einen Spielplatz und einen bewachten Strandabschnitt nahm Sophia auf dem Weg am Zaun entlang wahr. Rasensprenger beträufelten die Flächen, welche ein sattes und für die Region unübliches Grün zeigten. Verschiedene Abstergo- Logo zeigten die Gebäude schon, allerdings an der Einfahrt in den Komplex- gleich an Schranke und Wachhäuschen der Security- stand das Größte Firmenlogo- vielleicht fünfzehn oder zwanzig Meter hoch.
Mc Gowan rutschte vom Platz gegenüber in Richtung der Schiebetür.
"Ich muss sie hier verlassen, Frau Doktor. Es war sehr schön, sie wieder zu sehen. Der Fahrer ist instruiert, sich zu ihrer Verfügung zu halten für heute. Im Areal können sie gern ab morgen bereits die verfügbaren Elektromobile selbst nutzen. Probieren sie es bitte aus. Ihr Fahrer Murat bringt sie jetzt zum CEO- Büro und dann zu ihrem Appartement. Viel Freude an der Arbeit."
Mc Gowan war jetzt übertrieben gesprächig- hatte er doch den meisten Teil der Fahrt geschwiegen.
Sophia bedankte sich. Dann ließ Ernesto Mc Gowan die Tür zufallen und klopfte auf das Dach des Vans, um dem Fahrer zu bedeuten, weiter zu fahren. Die Schranke öffnete sich und der Wagen setzte sich in Richtung der Küste in Bewegung.
Mc Gowan winkte noch kurz, wendete sich dann jedoch einem Sicherheitsmann zu, den er sofort wegen seiner Anzugsordnung anherrschte.
Sophia überdachte die Anreise. Allein- ohne Fahrzeug- würde man nur schwer von hier weg kommen. Drei Meter Stacheldraht- Umzäunung, eine zentrale Ausfahrt, viele Wachen- auch an den Zaunstrecken fielen ihr auf.
Innerlich ertappte sie sich, wie sie diese Analyse machte. Sie erschrak darüber.
Früher wären solcherlei Dinge von absoluter Nebensächlichkeit gewesen für sie selbst. Sie hätte den Luxus genossen, von A nach B chauffiert zu werden, die Koffer von einem Fahrer getragen zu bekommen, sie hätte sich nur nach einer Dusche in der Unterkunft gesehnt.
Jetzt- nach Madrid und dem dort erlebten- hat Sophia eine 'andere Art', für sich selbst Dinge zu betrachten und zu bewerten. Warum auch immer dies nun so war. Es war ihr Inneres, ein innerer Antrieb zu dieser Betrachtungsweise. Eine innere Stimme bewertete Gefahren, Sicherheitsaspekte, potentielle Lücken im System. Es war, als suche sich Sophia schon bei ihrer Ankunft hier die idealen und möglichen Fluchtwege heraus, um gekonnt und unerkannt zu entkommen. Oder zudem interessant waren kleine Orte und Plätze, welche nicht der Bewachung oder der Kameraführung unterlagen.
Hier im Komplex Istanbul jedoch schien alles durchdacht und bis in die kleinsten Winkel kontrolliert.
Doch Sophia hatte Zeit, die Schwachstellen zu finden.
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