Weißt du, womit das alles angefangen hat?
[Oder aber auch von Moralpredigten und Heinz und Kunz]
Irujuki rekelt sich auf dem Teppich, während draußen die Sonne scheint. „Weißt du", beginnt sie, und ich ahne, dass nun ein längerer Vortrag folgt, „eigentlich sind wir ziemlich faul. Wieso sitzen wir bei schönstem Wetter draußen, obwohl man draußen viel aktiver sein könnte? Und was hast du eigentlich je produktives geleistet? Bevor ich kam, was stand da auf deinem Plan? Essen? Schlafen? So oft, wie ich die beobachtet habe, so wenig warst du auch draußen. Du hast überhaupt nie auch nur ansatzweise irgendwas getan. Vielleicht mal Müll rausbringen. Aber deine Klamotten! Die wechseln nur, wenn du merkst, dass du stinkst. Wie oft hast du das Bad gesehen? Einmal pro Monat? Nicht mal, was? Du bist verfault, Mido!" Gut vielleicht wird es doch eine Moralpredigt obersten Wutausbruches, aber ich kann mich rechtfertigen, auch wenn ich sie dabei unterbreche.
„Ich habe ganz viel Produktives geleistet!", und da haben wir schon den beschissensten Start mit der beschissensten Lüge, „Beispielsweise als ich... Als ich geboren wurde!" Ich bemitleide mich selbst.
„Mido, bitte. Hör auf. Das ist armselig. Wir gehen jetzt mal deinen gesamten Lebenslauf durch. Und dann sagst du mir, was daran je weltverändernd war, okay?", sie erwartet eh nicht, dass ich Einspruch erheben und spricht gleich weiter, „Du wurdest geboren. Dank deiner Mutter. Du warst im Kindergarten. Dank deiner Eltern. Du warst in der Schule. Gut, wie ich dich kenne, hattest du nicht viele Freunde. Du standest bestimmt immer alleine rum und bei den Hausaufgaben und dem Lernen haben dir deine Eltern geholfen. Deine Eltern haben dir überhaupt immer geholfen. Und dann hast du studiert. Das war okay. Nichts Besonderes, aber du hast dein Studium in Germanistik abgeschlossen. Und ein Job? Hast du nicht! Hattest du nie! Wie bezahlst du die Wohnung?" Sie hat Recht, das ist wirklich armselig. Das einzige, was in meinem Kopf einen klaren Gedanken fasst, ist Schlaf.
„Ich bin halt von Geburt an faul." Damit breche ich schließlich die Stille. „Ach ja und die Wohnungsmiete wird mit dem Erbe meiner Tante, meiner toten Tante, abbezahlt", schiebe ich noch hinterher.
Und dann wechselt Irujuki ein wenig das Thema. Es geht wenigstens nicht mehr um mich.
„Die meisten Menschen sind verfault. Jugendliche, die nur noch am PC hängen oder in den sozialen Netzwerken neue Freunde finde. Erwachsene, die sich aus Frust vollfressen, weil sie von ihrem Partner verlassen worden sind, weil sie den Job verloren haben. Moderne Menschen, die nur noch zur Tür gehen, um bestellte Dinge abholen, die sonst nur mit Alexa reden. Alte, die nur noch im Rollator rumfahren. Bei den alten Menschen kann man ja noch zwei oder drei Augen zu drücken, aber das ist doch lächerlich." Ich bestätige ihre Rede. Menschen sind wirklich faul.
„Weißt du, womit das alles angefangen hat?", fragt mich Irujuki. Gleich kommt wieder irgendwas Irrsinniges. Wie für die Einhörner in den Wolken.
„Nein", ich schüttele zur Unterstützung den Kopf.
„War ja klar. Diese mangelnde Bildung. Wirklich schrecklich. Was lernt man überhaupt noch in der Schule?" Ich muss lachen. Irujuki ist doch 6 Jahre jünger als ich! Altkluge Streberin.
„19 Jahrhundert. Klingelt da was? Nichts? Kein Wiener Kongress, keine Märzrevolution? Keine erste Nationalversammlung? Keine Industrialisierung? Nein?! Sag mal, bist du dumm?" Das Schlimmste an ihrer letzten Frage ist, dass sie es ernst meint. Kein höhnischer Unterton, geschweige denn ein Grinsen im Gesicht. Sie bezweifelt mein vorhandenes Gehirn, von dem ich manchmal selbst denke, dass es nicht existiert.
„Um etwa 1830, in England schon 50 Jahre früher, begann die erste Industrialisierung. Damals wurden auf dem Acker funktionstüchtigere Maschinen als Menschen genutzt und der erste Dünger richtig eingesetzt, Dadurch konnte man, logischerweise, mehr Nahrung gewinnen und das bedeutete eine wachsende Bevölkerung. Und die wiederum brauchte mehr Nahrung und auch andere Lebensmittel. Ein kleiner Teufelskreis. Durch die fordernden Lebensmittel wurden in den meisten Bereichen ebenfalls effizientere Maßnahmen eingeschlagen. Das alles dank der Dampfmaschine. Für die Herstellung der Maschinen brauchte man allerdings Eisen, dass mithilfe von Schmelzöfen entstand. Die Schmelzöfen wiederum wurden aus Kohle gebaut. Diese Kohle musste abgebaut werden, in dafür angelegten Minen. Auch hier brauchte man Hilfe, um mehr abbauen zu können. Und dafür gab es schließlich die Dampfmaschinen. Die sorgten auch für Antrieb bei den Maschinen. Beispielsweise die Landwirtschaft, der Verkehr, der Transport und auch die Textilien Herstellung. Und hier liegt das Problem. Jetzt konnte man nämlich jeden Heinz und Kunz vor die Maschine setzen und der drückte dann 500 Mal den Hebel. Da die Bevölkerung so groß war, gab es keine mangelnden Arbeitskräfte. Aber das Ganze hatte seine Nachteile. Beinahe sofortwirkende waren zum einen der fehlende Wohnplatz (durch die Bevölkerung). Darum lebten viele in Mitkavernen, auf engsten Raum, ohne Toilette und mit Ratten. Krankheitserregern. Zum anderen mussten die Kinder unter gleichen Bedingungen genauso viel arbeiten wie erwachsene Bauern. Dort, wo die Bauern lebten, war es noch schrecklicher. Arme Bereiche, nahe den Fabriken und somit bei verqualmtem Himmel, die neben den stinkenden Flüssen lagen. Das Schlimmste aber war der Start der Massenproduktion. Und somit auch die Verfaulung der Menschen."
Das ist tatsächlich interessant, aber mein Gehirn sortiert alles, was nicht mit Schlaf in Zusammenhang steht, sofort aus. „Ich wollte jetzt eigentlich keinen Vortrag über was auch immer hören, aber war sehr schön. Wie lange wolltest du mir das schon erzählen?"
Irujuki grinst etwas: „Ach, das habe ich mir schon lange vor meinem Einzug zurechtgelegt. Hab nur auf die passende Situation gewartet."
„Ich leg mich jetzt schlafen. Gute Nacht."
„Es ist 13 Uhr! Mittags!"
„Mir doch egal. Ich bin ein freier Mann in einem freien Staat und ich darf selbst entscheiden, wann ich schlafe und wann ich dusche."
„Faul. Ich geh mal auf Klo. Vielleicht mach ich noch einen Spaziergang."
Mein Kopf schaltet sich automatisch ab, noch ehe ich ihr viel Erfolg wünschen kann und driftet mich in die Welt der Träume.
[970.10.02]
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