◇ Kapitel 13 ◇
Ich rannte wie vom Blitz getroffen zum Balkon und lehnte mich leichtsinnig über die Brüstung. Nolan saß unschuldig auf dem Boden und blickte dankbar zu mir nach oben. Kaemon stellte sich neben mich und auch, wenn er versuchte es zu verbergen, ich konnte in seinen Augen ablesen, wie erleichtert er gerade war. "Er lebt.", wiederholte ich, da ich es immer noch nicht fassen konnte.
Auf einmal sah Nolan erschrocken in eine Richtung und als ich seinem Blick folgte, entdeckte ich die beiden Männer, die geradewegs auf ihn zugelaufen kamen. Sie hatten ihre Hände bereits an den Waffen und beschleunigten ihr Tempo noch etwas, als sie bemerkten, dass Nolan sie ebenfalls erkannt hatte. Nun brachte es nichts mehr, sich zu verstecken. Er musste sofort fliehen, bevor es zu spät war. "Renn!", schrie ich energisch und spürte, wie mich erneut eine Schockstarre einholte, als einer der beiden seine Pistole auf ihn richtete. Nolan rannte zwar weg, doch kurz darauf rief einer von ihnen mit tiefer Stimme: "Stehenbleiben! Zwing' mich nicht, dich zu erschießen, Nolan!". Daraufhin wurde Nolan immer langsamer, er schien schon aufgegeben zu haben, denn aus den anderen Richtungen kamen nun ebenfalls noch zwei Männer und sperrten ihm den Weg ab. Er saß zweifellos in der Falle, sie hatten ihn umzingelt und ließen keine Fluchtmöglichkeiten zu. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt, als ich geschockt beobachtete, wie Nolan unterwürfig und ergeben einen Arm hob und tatsächlich stehenblieb. In dem anderen Arm, der offenbar gebrochen war, steckte die Spitze eines Astes, an dem fortwährend dunkles Blut hinunterlief und auf den betonierten Asphalt tropfte. Einer der Männer packte ihn grob an der Schulter, zog den Ast ruckartig heraus und hielt dann beide Arme hinter Nolans Rücken fest, um ihm Handschellen anzulegen. Infolgedessen strömte das Blut ungehindert aus seinem Oberarm und Nolan sagte dazu nicht einmal etwas. Er zeigte keine Reaktion und ließ sich den Schmerz in keiner Weise anmerken. Stattdessen blickte er ehrfürchtig zu Boden und ließ sich von den Fremden ohne Widerspruch zu ihrem Auto führen. Ich konnte da nicht weiter tatenlos zusehen, also rannte ich die Treppen hinunter und schlug mich durch die Menge - die Party war immer noch in vollem Gange, doch für mich hatte sie sich nun endgültig zum Albtraum entwickelt. Gefolgt von Kaemon verließ ich das Haus und hechtete auf die Straße. Wir hatten Nolan und seine Kidnapper fast erreicht. Vor weniger als zwei Tagen war Nolan noch der Entführer gewesen - so schnell konnte sich die Rollenverteilung ändern, man stand am falschen Ende des Abzugs und wurde letztlich selbst zum Gejagten.
"Bitte, Anthony. Lass mich gehen und sag meinem Dad, dass ich tot bin.", bat Nolan, bevor er von dem Mann, der allem Anschein nach, Anthony hieß, in den Wagen gezwängt wurde. Als ich am Auto ankam, versuchte ich irgendetwas zu bewirken, das Nolan helfen konnte, weshalb ich anfing den größten Unsinn zu labern: "Nolan kennt deinen Namen, Anthony. Das bedeutet, dass ihr euch schon einmal begegnet seid. Deswegen finde ich, dass wir diesen Konflikt einfach diplomatisch und friedlich klären könnten, anstatt uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Klingt das gut?", hakte ich mit gespielter Freundlichkeit nach, woraufhin Kaemon mir einen Ellbogen in die Seite rammte und mir erklärte: "Ich kenne diese Typen, Josy. Das sind Connor, Melvin, Anthony und Roy - Nolans ehemaligen Ausbilder. Sein Dad war fast nie Zuhause und sie haben Nolan praktisch aufgezogen, wenn man das so bezeichnen kann. Jedenfalls arbeiten sie für seinen Vater, das sind knallharte Profikiller und mit denen kann man nicht verhandeln. Wenn sie einen Auftrag haben, führen sie ihn immer zu Ende. Alles was sich ihnen dabei in den Weg stellt, wird eliminiert. Damit meine ich auch dich und mich - wir sollten verschwinden. Connor hat mich schon wiedererkannt, er weiß wer ich bin und macht da 'nen kurzen Prozess, wenn wir jetzt nicht sofort abhauen!", nuschelte Kaemon mit zusammengepressten Lippen und sah währenddessen zu Boden, um zu vermeiden, dass ihn noch jemand anhand seines Gesichts identifizierte. Ich schüttelte jedoch entschlossen den Kopf: "Nein, ich will Nolan nicht noch einmal verlieren. Nie wieder!". Einer der Männer kam plötzlich auf uns zu und meinte: "Kaemon Cane, was für eine erfreuliche Überraschung! Schön, dich hier zu treffen. Nolan hat ja leider versagt, als er dich töten sollte - jetzt wird er dafür büßen müssen. Und nur weil Nolan Mist gebaut hat, heißt das selbstverständlich nicht, dass du weiterleben darfst. Uns wurde der Auftrag übergeben und du wirst sicher verstehen, dass wir dich nicht entkommen lassen dürfen, also-", weiter bekam ich seine Worte nicht mehr mit, denn Kaemon nahm mich auf einmal hoch und flüsterte: "Tut mir Leid, aber wenn wir hierbleiben, wirst du nicht nur Nolan verlieren. Es geht nicht anders." Ich versuchte mich zu wehren und schlug wild um mich, doch es war vergeblich. Kaemon hielt mich fest und trug mich auf seinen Armen die Straße entlang. Genauer gesagt, rannte er mit mir davon und suchte hinter einem alten Gebäude Schutz, als plötzlich Schüsse ertönten und tödliche Kugeln in rasender Geschwindigkeit durch die Luft flogen.
Ich hörte auf einmal die verängstigten, hysterischen Schreie der Partygäste, immerhin waren die Schüsse nicht zu überhören gewesen. Für einen Moment war Kaemon abgelenkt, ich ergriff die Chance und schlug ihm meine Faust mit aller Kraft ins Gesicht. Dann riss ich mich sofort aus seinen Armen und rannte wieder zum Auto - das hatte ich jedenfalls vorgehabt, denn es stand nicht mehr am Straßenrand, sondern fuhr ein paar Meter von mir entfernt um die nächste Abbiegung. Diese Typen hatten Nolan einfach mitgenommen! Mich packte eine unermessliche Wut und ich rannte ihnen hinterher, bis ich ihr Auto aus den Augen verlor, mich meine Beine nicht mehr trugen und ich auf der Stelle zusammenklappte. Nun saß ich hoffnungslos und erneut in Tränen versunken, zusammengekauert neben der Straße und bewegte mich nicht. Minutenlang verharrte ich zitternd und weinend am Boden. Die Arme hatte ich um meine angezogenen Beine geschlungen und meinen Kopf legte ich erschöpft auf meine Knie ab. Es dauerte eine Weile und dann vernahm ich leise Schritte hinter mir. Jemand setzte sich neben mich und sah mich nur an - seine sorgenvollen Blicke konnte er sich sonst wohin schieben! Ich konnte unmöglich in Worte fassen, wie enttäuscht und verletzt ich von Kaemon war. Er hatte seinen besten Freund kampflos und feige im Stich gelassen und mir gleichzeitig mit dieser beschissenen Aktion noch die letzte Chance genommen, ihn zu retten. Das war doch allein meine Entscheidung, ob ich Nolan helfen wollte oder mich ebenfalls verdrückte, wenn er seine Freunde am meisten brauchte. Kaemon hatte kein Recht mich mitzunehmen und Entscheidungen zu fällen, deren Folgen Nolan tragen musste. Und ich war nun dazu verdammt, mit diesen Schuldgefühlen zu leben, da ich nichts für ihn getan hatte, um ihn zu beschützen. Ich hoffte, dass Kaemon sich mindestens genauso mies fühlte, wie ich mich gerade in diesem Augenblick, denn was ich spürte, war eine nicht ausfüllbare Leere tief in meinem Inneren - ein schwarzes Loch, das in meinem Herzen klaffte. Das war alles nur seine Schuld. Ohne Vorwarnung verlor ich die Kontrolle über meine Gefühle und brüllte Kaemon ungebändigt an: "Du kannst dich nicht einfach einmischen und Entschlüsse für mich ziehen, denn du bist verdammt noch mal nicht mein scheiß Bodyguard und was ich mit meinem Leben mache und wem ich es opfere, geht dich einen Dreck an. Jetzt wird er sterben - und zwar deinetwegen! Du solltest in diesem Auto sitzen, nicht Nolan. Wie kannst du nur bestimmen, was das Richtige für uns alle ist, wenn du nicht derjenige bist, der mit den Konsequenzen leben muss?! Wegen deiner Feigheit, wegen den Fehlern, die du gemacht hast, muss Nolan mit seinem Leben bezahlen! Wie konntest du nur?! Du denkst ausschließlich an dich und nimmst dafür sogar den Tod deines einzigen Freundes in Kauf. Ich würde dich jetzt auf der Stelle umbringen, wenn ich wüsste, dass es mir nur ein bisschen Frieden beschert, aber so ein Mensch bin ich nicht! Rache ist ein einsamer Weg und du bist es wirklich nicht Wert, Kaemon. Also verschwinde und komm bloß nie wieder! Die Schuldgefühle, die du hoffentlich hast, sind zwar nicht einmal ansatzweise Strafe genug, aber ich hab einfach keine Kraft mehr gegen dich und deine bescheuerte Art anzukämpfen. Das Einzige, was ich will, ist ihn retten, aber du musst immer alles ruinieren, du Arschloch. Lebe mit dem Wissen, dass du für seinen Tod verantwortlich bist!", schrie ich in die Nacht hinein und brach daraufhin wieder in Tränen aus. Völlig am Ende mit den Nerven schniefte ich bitterlich und legte mir dann eine Hand auf die Augen. Ich schluchzte und weinte ununterbrochen und starrte aufgelöst eine verschmutzte Hauswand an, nur um nicht Kaemon ansehen zu müssen. Er war Nolans Mörder - ich konnte ihm nicht ins Gesicht blicken, ohne mich beinahe übergeben zu müssen.
Es war offensichtlich zu viel verlangt, die Klappe zu halten und mich in Ruhe zu lassen, denn Kaemon hatte mir wohl nicht zugehört und meinte in gemäßigtem Ton: "Josy, sie werden ihn nicht töten. Wenn sie das gewollt hätten, würden sie ihn nicht in ein Auto verfrachten und eine Flucht riskieren. Wenn sie das wirklich gewollt hätten, wäre er schon längst tot. Wieso warten? Es gibt keinen Grund zu warten. Ich schwöre dir, sie werden ihn nicht töten. Alles, was sie mit Nolan tun werden, ist ihn seinem Vater lebendig auszuhändigen - so lautet ihr Auftrag." Ich fasste mir ungläubig an den Kopf und erwiderte gereizt: "Und was denkst du, was sein Vater mit ihm machen wird?! Vielleicht wollte er ihn ja nur persönlich umbringen. Hör auf, mir Versprechen zu geben, von denen du selbst nicht einmal weißt, ob du sie halten kannst!". Meinen letzten Satz ignorierte Kaemon und murmelte etwas leise vor sich hin, da er nicht wollte, dass ich es hörte, doch das tat ich. Ich verstand seine Worte klar und deutlich: "Sein Vater wird ihn nicht töten. Er wird ihn solange foltern, bis er darum bettelt, sterben zu dürfen." Als ich diese Aussage realisierte, weiteten sich meine Augen und ich bekam für einen Moment keine Luft mehr, weil sich meine Kehle zuschnürte und ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Dann stand ich plötzlich voller Tatendrang und vor Entschlossenheit strahlend auf und entgegnete: "Wir werden ihn uns zurückholen! Du weißt doch, wo sie ihn hinbringen werden, oder?" "Na klar, weiß ich das. Ich werd's dir nur nicht sagen, weil du gerade nicht vernünftig denken kannst und dich auf dem besten Weg in die Hölle befindest. Das wäre Selbstmord, Josy. Egal, was wir machen, wir werden Nolan nie wieder sehen. Am besten, du findest dich schnellstmöglich damit ab, bevor du dich noch in Gefahr begibst, ohne zu wissen, was dich erwarten wird, wenn du diesen Todespfad einschlägst." Ich wollte nicht hören, was Kaemon zu meinem Vorschlag zu sagen hatte, ich brauchte nur eines - Informationen. Wenn es sein musste, würde ich Nolan allein retten, aber was unter keinen Umständen in Frage kam, war, dass ich ihn solchen Qualen überließ, nur weil ich schlichtweg zu unfähig war, ihm zu helfen. Darum antwortete ich stur: "Wo bringen sie ihn hin, Kaemon? Welche Stadt, welcher Bundesstaat? Sag irgendetwas!" Kaemon schüttelte unnachgiebig den Kopf: "Nein, Josephine! Jetzt reicht's echt. Du hast wirklich alles für ihn getan, was du konntest und was in deiner Macht lag, obwohl er uns beide umbringen wollte. Aber jetzt, zu diesem Zeitpunkt, ist es nicht mehr deine Aufgabe, ihn zu retten. Sein Leben ist nicht in deiner Verantwortung. Du hast schon mehr für ihn zu Stande gebracht, als er verdient hätte - du hast seine Operation ermöglicht und dafür gesorgt, dass er in Sicherheit ist, jedenfalls einen halben Tag lang. Ich meine, du hast ihn sogar mit in die Schule genommen, trotz der unbestreitbaren Tatsache, dass Nolan ein eiskalter Killer ist. Damit hast du das Leben deiner Mitschüler und das deiner besten Freundin, ohne Überlegung aufs Spiel gesetzt. Und weißt du was? Ich bin mir sicher, dass dieser Tag einer der glücklichsten und schönsten für ihn war. Es war eine neue, wunderbare Erfahrung, die er dank dir, in Erinnerung behalten durfte - denn ich weiß ja nicht, was er dir so erzählt hat, aber Nolan war noch nie an einer richtigen Schule mit normalen Leuten gewesen und an diesem Tag hast du's geschafft, dass er sich einmal in seinem gesamten Leben dazugehörig gefühlt hat. Und zum krönenden Abschluss hast du ihm auch noch erlaubt, auf eine Party mitzukommen. Also ich weiß nicht, was du darüber denkst, aber ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass noch nie jemand so viel für ihn getan hat, wie du heute. Wenn er sterben sollte, dann wird er nur die schönen Augenblicke, die er mit dir verbracht hat, mit ins Grab nehmen. Außerdem musst du dich nicht schuldig fühlen, denn ich bin derjenige, der Nolan seinem Schicksal überlassen hat, weil ich ihm immer noch nicht verzeihen kann.", gab er zu, doch ich konnte mit diesem Geständnis nicht wirklich etwas anfangen, wenn ich keinen Schimmer hatte, was genau Kaemon ihm nicht verzeihen konnte. Daraufhin fuhr er mit seiner Ansprache fort, auch wenn ich tatsächlich bisher nichts davon geahnt hatte, wie viel Mitgefühl er mit einer einzigen, improvisierten Rede vermitteln konnte. Ich merkte, dass ich wieder den Tränen nahe war, als er weitersprach: "Wenn ich so über sein Leben und die letzten 24 Stunden nachdenke, würde ich den Entschluss daraus ziehen, dass Nolan einfach ein verlogener Mistkerl war, der mir bei Weitem zu oft mit dem Messer in den Rücken gefallen ist, aber dennoch hast du ihm ein paar unvergessliche Momente bereitet und trotz allem war er mein bester Freund. Und wenn du glaubst, dass das alles an mir vorbeigeht und ich nicht verzweifelt bin und mir Vorwürfe mache, dann liegst du falsch. Ich wünschte auch, dass wir ihn retten könnten, aber nicht um jeden Preis, nicht wenn der Preis dein Leben beinhaltet, Josy. Von mir aus, können wir die Polizei in die ganze Sache mit einweihen, aber das bedeutet eben auch, dass er nach seiner Befreiung sofort in den Knast wandert. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob die Cops den Fall bis nach Chile verfolgen würden. Was meinst du?", wollte er nachdenklich von mir wissen, woraufhin ich ihn mit Erleichterung ansah. Er hatte verraten, wo sie Nolan hinbringen würden. Nach Chile. "Kommst du auch da her? Ich dachte, da gibt es nur Hitze, Sand und endlose Wüste. Kein Wunder, dass es dich hierher verschlagen hat.", kommentierte ich. Kaemon schüttelte nur den Kopf und erwiderte: "Vielleicht hast du recht, aber ich habe dieses Land trotzdem geliebt oder besser gesagt, gerade deshalb. Chile war meine Heimat, aber Nolan und sein Dad haben dort nur einen Haufen Trümmer und Berge an Leichen hinterlassen - und zwar wortwörtlich. Die beiden haben mein Zuhause zerstört und ich konnte nicht länger dort leben, ohne mich ständig daran erinnern zu müssen. Deshalb ist meine Mom mit mir weit weg gezogen, damit wir dieses Kapitel abschließen und den Lebensabschnitt hinter uns lassen können. Wir brauchten einfach einen Neuanfang.", erklärte er mit belegter Stimme und ich fragte neugierig: "Hasst du Nolan deswegen so?". Abermals verneinte er und entgegnete: "Nein, natürlich nicht. Dass ich ihn hasse, hat einen anderen Grund. Es braucht mehr, als nur ein zerbombtes Haus, um mich aus meiner Heimat zu vertreiben und meinen größten Hass zu verdienen. Eigentlich bin ich ein ganz friedlicher Mensch und es muss wirklich eine Menge passieren, damit ich so rachsüchtig werde. Ich hab das wirklich nicht gewollt, dass aus unserer Freundschaft eine Feindschaft entsteht. Einerseits hasse ich ihn, aber trotzdem wollte ich nie, dass er stirbt. Und das ist die Wahrheit.", stellte er klar. "Aber nicht die ganze Wahrheit, stimmt's?", meinte ich mit vorwurfsvollem Unterton.
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