
50. Ben
Sonntag, 28. Dezember 2009
Wir lassen das Holz fallen und rennen los. Kies und Gestrüpp rauschen unter uns hinweg, während eisige Luft durch meinen Körper pocht. Vor uns hetzen die drei Silhouetten zum ersten Steinhaufen. Weshalb stehen sie noch nicht dort? Weshalb sind sie so langsam?
Mit einem Satz springe ich über einen Felsbrocken und überhole May. Außerhalb des Lichtkegels der Taschenlampe stolpere ich weiter, stütze mich auf Kyrenes Speer und erreiche den zweiten Haufen als Erster.
Die anderen haben ganze Arbeit geleistet. Die Steine gehen mir bis zur Brust, doch es wird nicht reichen. Der erste Haufen überragt die Silhouetten um mehrere Steine. Schon er muss genügen.
Keuchend erreicht mich May. Sie entreißt mir den Speer und rammt ihn zwischen die Felsen. Dann bedeckt sie die Taschenlampe mit einer Hand.
Schwer atmend lauschen wir in die Dunkelheit.
Das Bellen verstummt. Der Wind trägt das Wispern und Raunen der Bäume über das Plateau und singt in den Felsspalten des Abgrundes. Unter uns ertönt ein Schnüffeln. Wir halten den Atem an. Es kommt näher.
May blitzt mit der Taschenlampe in Richtung des ersten Haufens. Von dort unten kann man den Strahl unmöglich sehen. Kyoyas emporgestreckter Daumen zeichnet sich silbern im Mondlicht ab, bevor er sich mit den anderen beiden gegen die Steine lehnt und schiebt.
Ein Vogel landet zwischen uns und ihnen. Ein kleines Ding, kaum größer als meine geballte Faust. Doch seine Stimme hallt laut und klar durch die Nacht.
Das Schnüffeln stoppt.
Für eine Sekunde starre ich in May schreckgeweitete Augen. Dann lege ich mich ohne Nachzudenken auf den Bauch und robbe zur Kante. May gleitet neben mich und wir lauschen auf ein Hecheln. Das nicht kommt.
May nimmt die Hand von der Taschenlampe und leuchtet in den Abgrund. Zwei Scheinwerfer aus geschmolzenem Bernstein blicken aus der schwarzweiß gefleckten Dunkelheit zu uns herauf, bevor sich der Hund herumwirft und zum Ausgang der Schlucht wetzt.
Ich springe auf und reiße am Speer. Polternd stürzen die Steine in die Tiefe. May fährt herum und brüllt den anderen etwas zu. Sie drücken noch heftiger gegen ihre Felsen und der Haufen setzt sich in Bewegung, rutscht, stürzt über die Kante. Die Schläge hallen durch das Gebirge, erfüllen es mit Glockenklängen und Staub. Ein Jaulen höre ich nicht.
Wir warten. Einen Herzschlag lang, zwei Herzschläge, noch einen. Bevor May den Strahl der Taschenlampe auf den vorderen Felshaufen richtet.
Ich kneife die Augen zusammen. Ist das dort eine Pfote oder ein Stück Fell? Ein Glühwürmchenschwarm aus tanzenden Staubkörnern wabert über den Boden der Schlucht. Als würde es dort unten brennen.
Neben mir stößt May einen erstickten Ruf aus. Am Rande des Trümmerfeldes schält sich ein Schatten aus der Wolke, schüttelt kleine Steine aus seinem Fell und trabt auf den Ausgang der Schlucht zu. Ein Felsbrocken schlägt knapp neben seinem Kopf auf und zerspringt in tausend Splitter. Mit einem Jaulen prischt der Hund los und verschwindet zwischen den Bäumen.
Kyrene lässt ihre Hand sinken. Im Mondlicht tauschen wir einen glänzend-verstehenden Blick. Wir haben ihn nicht getroffen. Auch May weiß das. Ich spüre wie sie sich versteift und wie eine Schlafwandlerin auf die anderen zuschreitet.
Wir treffen uns in der Mitte zwischen den beiden Orten, an denen eben noch unsere Pläne aufgetürmt lagen. Der Vogel ist im Nachthimmel verschwunden. Kyrene schiebt Elias vor sich her, der immer wieder über seine Schulter zum Rand der Klippe späht. Kyoya zupft an seiner Brille herum, bevor er May anblickt.
„Kyrene, gibt es einen Weg, der von hier auf die andere Seite des Berges führt?", fragt sie und das Eisen braucht einen Moment, um das laubartige Zittern aus ihrer Stimme zu vertreiben. Ich lächle schwach. So kenne ich sie. Hier liegt ein akutes Problem vor, keine unbekannte neue Gefahr, die sie langsam in den Wahnsinn treibt. Für sie hat unser Feind nun ein Gesicht und vielleicht reicht das.
Doch Kyrenes heruntersackende Schultern ersticken diesen winzigen Funken Hoffnung. „Gibt es, aber unter guten Bedingungen dauert es bereits einen Tag."
„Die Hütte?", frage ich. „Wie ist sie gesichert?"
„Schneller erreichbar. Verteidigbar, aber nicht ewig. Dort sitzen wir fest."
May sieht mich an und ich nicke leicht, bevor sie sich an Kyrene wendet. „Nimm die anderen beiden. Wir ha-"
Das Knurren zerfetzt die Nachtluft. Das Schwert aus der Scheide reißend fahre ich herum. Der Schatten schält sich aus der Dunkelheit, dort wo der Pfad auf den Rand der Klippe trifft.
Ich schubse Kyoya hinter mich. „Rennt!", rufe ich, während der Hund beinahe gemächlich auf uns zu trottet, doch mit jedem Schritt an Fahrt aufnimmt, bis die Steine unter seinen Pfoten spritzen. Nicht umdrehen, nicht stehen bleiben.
„Was? Nein!", protestiert Elias, doch Kyrene packt ihn und Kyoya am Arm und zerrt sie hinter sich her.
„Nicht gerade eine Gruppenentscheidung", murmelt May, das Schwert bereit, den Blick auf die heranrasende Gestalt geheftet.
„Drei gegen zwei ist eine gute Quote", erwidere ich, bevor die Welle aus Fell und Zähnen über uns zusammenkracht.
Der Aufprall kommt erwartet. Ich hechte zur Seite und ramme den Speer nach oben. Der Schwung des Hundes reißt mich von den Füßen, doch ich kralle mich am Speer fest. Spitze Kiesel graben sich in meine Hosenbeine, bevor ich ihn herauszerre und aufspringe, während Mays Klinge auf der anderen Seite des Hundes aufblitzt. Gedämpft höre ich die Rufe der anderen. Ihre Taschenlampe rollt über den Boden.
Der Hund schnappt nach ihr, doch sein Kopf zuckt zurück, als ihre Klinge hervorschnellt und sein Ohr aufschlitzt. Seine Pranke wirft May von den Füßen. Bevor er sich auf sie stürzen kann, versenke ich mein Schwert in seiner Schulter und rolle im nächsten Moment unter seinem zusammenschlagenden Kiefer hinweg. Stechender Schmerz schießt begleitet von einem Jaulen durch meinen Oberarm.
May und ich rappeln uns gleichzeitig auf. Mein Schwert steckt tief im Fell des Hundes, doch von der Speerwunde und dem Schnitt am Ohr ist nichts zu erkennen. Ichortropfen glänzen auf den aufgewühlten Steinen. Ich packe den Speer fester und beiße die Zähne zusammen. Der zerfetzte Jackenärmel klebt an meinem Arm.
Japsend reißt May die Taschenlampe nach oben. Geblendet schüttelt Lailaps den Kopf. Ich nutze den Moment und sprinte auf seine andere Seite.
Hier ist das Problem: Lassen wir die Waffen stecken, heilt er nicht, aber wir haben keine Waffen mehr. Ziehen wir die Waffen heraus, heilt er. Doch selbst mit Waffen im Körper stirbt er nicht. Die Gleichung geht nicht auf und das einzige, was May und mir übrig bleibt, ist, den anderen Zeit zu verschaffen.
Erneut ramme ich den Speer in die Flanke des Hundes und stemme mich augenblicklich gegen das Schwert, doch das Monster fährt herum und schleudert mich zu Boden. Feucht-heißer Atem prickelt auf meiner Haut, als ich versuche, mich aufzurappeln. Wie in Chthonian, nur ist das das Ende der Jagd und nicht ihr Anfang.
Ein bronzener Blitz schießt aus der Dunkelheit und knallt dem Hund gegen den Hals. Heulend stolpert das Tier zurück. Ich springe auf und packe den Griff meines Schwertes. Die Sai-Gabel prallt am dichten Fell ab und schlittert unter das nächste Gebüsch. Aus dem Augenwinkel sehe ich Elias und Kyoya den Hang hinabstürmen, Kyrene hinterher. Diese Idioten!
May taucht neben mir auf und keucht „Klippe!", bevor uns der Hund wieder auseinandertreibt. In dem Chaos gelingt es mir, den Speer aus seinem Körper zu reißen. Als sich die beiden Jungen dicht gefolgt von Kyrene ins Getümmel stürzen, werfe ich der untoten Fast-Nymphe ihren Speer zu.
„Verschwindet!", fauche ich Kyoya atemlos an, der neben mir auf den Hund einhackt und mir dabei seinen Ellbogen in die Rippen rammt.
Ich erhalte keine Antwort, da der Hund sich herumwirft und uns trennt. Kyrene taucht auf, nur um von einer Pranke beiseite geschleudert zu werden. Eine Sai-Gabel zischt an May vorbei und bohrt sich in das Bein des Hundes. Zwei Kämpfer aus dem Spiel.
Den Rücken zum Abgrund weicht May zurück. Ich ducke mich unter einem Schlag hinweg und versuche, sie einzuholen. Der Hund schüttelt Kyoya ab und zieht die Sai-Gabel mit den Zähnen aus seiner ichorverklebten Pfote. Nach wenigen Schritten verfällt er vom Humpeln in einen lockeren Trott. Meine Arme beben vor Erschöpfung.
Als ich May erreiche, atmet sie zitternd aus. Ein rotes Rinnsal, beinahe schwarz in der Dunkelheit, läuft ihre Wange hinab. Hinter uns klafft der Abgrund.
Der Hund ist heran, ehe ich bereit bin. Er kracht in meine Brust. Ich schreie auf, als sich Steine in meinen Rücken graben, schaffe es jedoch mich mit einer Schulter abzufangen. Blut in meinem Mund. Ich reiße mein Schwert nach oben. Die Schnauze des Hundes zuckt in einem goldenen Sprühregen zur Seite, doch sein Gewicht tackert mich weiter auf den Boden. Aus der Nähe schimmern seine Zähne beinahe so silbern wie sein Sternbild über uns. Ich versuche, zurückzukriechen, doch der Boden verschwindet unter meinem Kopf. Ein Schatten taumelt auf uns zu, brüllt meinen Namen.
Das Gewicht verschwindet in einem Wirbel aus Fell und Klauen. Zwei Stimmen jaulen in den Nachthimmel und ich wälze mich beiseite, als eine Tatze neben meinem Gesicht zu Boden kracht. Nach Luft schnappend stolpere ich aus dem Kampfgebiet und werde von einem warmen Arm abgefangen.
May starrt mit aufgerissenen Augen auf den Fleck, an dem ich gerade noch vom Hund zerquetscht wurde. Im Licht der heruntergefallen Taschenlampe blitzen rostrotes Fell und schwarze Krallen auf.
Doch ich brauche die Taschenlampe nicht.
Goldenes Licht umhüllt die beiden kämpfenden Monster, verwandelt die Nacht um sie herum in helles Tageslicht. Lailaps setzt zum Sprung auf den riesigen Fuchs an, doch dieser tanzt in letzter Sekunde zur Seite, nur damit der Hund ihm den Weg abschneidet. Eine winzige menschliche Gestalt klammert sich in das Nackenfell des Fuchses und kämpft bei jeder scharfen Wendung um Halt.
„Loa?!", ächze ich.
„Was?", fragt May und zieht mich weiter von den Monstern zurück, dorthin, wo Kyoya, Elias und Kyrene kauern.
„Auf dem Fuchs!" Ich winde mich in ihrem Griff. Die Zöpfe und dieses grelle Hawaiihemd gehören eindeutig zu Loa.
„Ich sehe nichts, Ben." May schüttelt den Kopf. Vermutlich ist ihr das Blut in die Augen gelaufen oder...
„May, das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für euren Strei-"
Der Fuchs entwischt dem Hund erneut und sprintet über das Plateau. Sein Widersacher folgt ihm mit großen Sätzen. Wie eine Sternschnuppe rast ihre Sphäre aus Licht auf die Klippe und die Baumwipfel zu.
Ich brülle: „Lass los, du götterverdammte Idiotin!"
Und dann stürzen sie über die Kante. Hund, Fuchs und Loa verschwinden und wir stehen in der Dunkelheit.
Ich renne los, stolpere über Steine und Gestrüpp. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht. Nicht noch jemand. Sie ist zurückgekommen. Hinter mir nähern sich Mays wackelige Schritte. Schlitternd komme ich vor der Kante zum Stehen. Ich muss hinuntersehen, aber ich will nicht. Was ist wenn-
„Wenigstens einer lässt mich nicht hängen!"
Ich blinzle. Loa sieht mit angespanntem Gesicht zu mir auf. Die Hand, mit der sie an einem Felsen baumelt, wirft ein schwaches Licht auf ihre verkrampfte Gestalt. „Könntest du mich jetzt bitte hochziehen?"
Mit einem Lachen lege ich mich auf die Steine. Ihre freie – nicht leuchtende - Hand findet meinen Arm und ich ziehe. May kniet sich neben mich und gemeinsam hieven wir Loa über die Kante.
Loa lässt ihre Schultern kreisen und klopft sich den Dreck vom Hawaiihemd. „So... was habe ich verpasst?"
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Hat irgendwer Catchphrase-Ideen für Loa?
Wie immer gebührt den tapferen Korrekturlesern aller Dank der Welt.
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