Kapitel 9 - Stiche
Es gibt nur einen Weg wie mehr als ein Stamm überleben kann.
Könnt ihr herausfinden, welcher das ist?
Der Morgen war kalt und neblig. Der Sand war nass unter unseren Füßen – die Hälfte von uns hatte noch immer keine Schuhe.
Sophie und ich gingen planmäßig nebeneinander. Ihre Spuren im Sand erinnerten mich an etwas.
„Ganz schön mutig von dir, allein am Strand rumzulaufen."
Sie zuckte die Achseln und schob sich eine lästige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es war ja nicht so weit."
„Na ja, vom Fluss aus dauert es bestimmt eine Stunde zu unserer Basis und du warst ja schon fast hier."
Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du?"
„An dem Tag, als wir uns am Fluss getroffen haben, bin ich Spuren am Strand in deine Richtung gefolgt", erklärte ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. „Ich dachte, es waren deine?"
„Nein, ich hätte mich allein nie über den Fluss getraut." Sie schaute mich argwöhnisch an.
„Wessen Fußspuren waren es dann?"
„Es war keiner von uns", erwiderte sie und blickte nervös über die Schulter. „Glaubst du, jemand hat uns belauscht?"
Wenn das so war, dann gab es außer uns Acht noch jemanden, der jetzt von dem Rätsel wusste. Hatte dieser Jemand es vielleicht vor uns gelöst und war schon auf dem Weg nach Carnivore Island?
***
Wir füllten unsere Trinkschläuche an dem Fluss im Osten auf, wo wir schon einmal gewesen waren. Es war alles noch sehr still und uns begegnete niemand. Ich hielt Ausschau, fand aber keine frischen Fußspuren im Sand. Durch den Fluss zu waten machte in der Kälte heute nicht so viel Spaß. Es wurde erst wärmer, als endlich die Sonne aufzugehen begann.
Gegen Mittag überquerten wir gerade eine Landzunge, nach einem ermüdenden Umweg um eine Bucht herum, als etwas vor uns am Strand in Sichtweite geriet. Es war unschwer zu erkennen, um was es sich handelte.
„Eine andere Basis", raunte Tim und blieb unschlüssig stehen.
„Kommt mit, wir verstecken uns erst mal und beobachten, ob jemand da ist", schlug Himaya aus ihrer Position in der Nachhut vor. Wir hielten Abstand und gingen hinter ein paar Büschen und Gestrüpp am Rand des dichten Dschungels in Deckung. Es dauerte nicht sehr lange bis der fremde Stamm aus der anderen Richtung am Strand entlangkam. Sie hatten Speere und die beiden Mädchen trugen außerdem jede zwei große Fische.
„Die Implantate sind orange", flüsterte Yin, die die vier durch das Fernglas beobachtete.
Die beiden Mädchen und der kleinere der Jungen gingen in die Hütte. Der andere Junge war muskelbepackt und verdammt groß. Er setzte sich vor einem Baumstamm in den Sand und fing an, die Fische mit einem Messer auszunehmen.
„Sollen wir sie fragen, ob sie sich mit uns verbünden wollen?", wisperte Pablo.
Es entbrannte eine geflüsterte Diskussion, bis wir uns dafür entschieden, uns am orangenen Stamm vorbeizustehlen und mit ihnen zu reden, falls wir noch mal irgendwann hier vorbeikommen sollten.
Gegend Abend dann passierte uns etwa dasselbe noch mal. Im orangeroten Sonnenuntergangslicht tauchte vor uns am Strand eine weitere Hütte auf. Ohne uns absprechen zu müssen, versteckten wir uns im Dschungel. Und diesmal waren wir eine ganze Weile da. Es wurde langsam dunkel und aus der Hütte am Strand drang nicht der kleinste Lichtstrahl.
Lance zog seine übliche das-ist-eine-Falle-Nummer ab, aber das machte aus vielen Gründen keinen Sinn. Irgendwann hatte Himaya dann die zündende Idee, als schon kaum mehr Licht in den Dschungel gelangte und die Geräusche um uns herum immer lauter wurden.
„Lasst uns die Hütte einfach selber beanspruchen. Wenn die doch noch kommen, verbünden wir uns."
Meine Nerven waren bereits bis zum Zerreißen gespannt und ich glaubte, es ging nicht nur mir so. Die immer lauter werdenden Geräusche aus dem undurchdringlichen Dickicht hinter uns verschluckten schon fast unser Flüstern. Es war den ganzen Tag über ruhig gewesen, am Strand. Außer Dilos hatten wir nichts Gefährliches zu Gesicht bekommen und selbst die Dilos waren vor unserer Gruppe geflohen. Jetzt allerdings, im Schutz der Dunkelheit unter dem Blätterbaldachin und zwischen den hohen Farnen, kam es mir vor, als könnte sich aus jeder Richtung etwas lautlos anpirschen; etwas, das keine Angst vor unserer Überzahl hatte. Vielleicht wurde Himayas Vorschlag deshalb so schnell angenommen. Weil wir alle die unbekannten Dinosaurier mehr fürchteten, als die anderen Menschen auf der Insel.
In unserer abgesprochenen Formation nährten wir uns der Hütte. Jeder hatte entweder einen Speer oder ein Messer in der Hand. Tim öffnete die hölzerne Hüttentür mit einem beherzten Tritt.
Die Basis war völlig leer. Das Feuer war unberührt, als wäre noch nie jemand hier gewesen.
Langsam betraten wir alle nacheinander die Hütte und verteilten uns auf die Betten oder setzten uns an der Feuerstelle auf den Boden.
„Ihre Notizbücher sind weg", sagte ich nach einem kurzen Blick in die Kiste in der Ecke.
„Dann müssen sie zumindest einmal hier gewesen sein", meinte Sophie und breitete ihren Schlafsack auf dem Boden aus. „Wahrscheinlich am ersten Abend. Schätze, wir durften uns eigentlich erst von der Basis entfernen, nachdem sie die Dinos rausgelassen haben."
„Wir sollten ein Feuer machen", verkündete Himaya, wie immer eher praktisch orientiert. „Es ist zu dunkel hier drin, um vernünftig Wache halten zu können und wenn der Stamm zurückkommt, sollen sie vorher wissen, dass wir hier sind."
Lance diskutierte eine Weile mit ihr, aber Himaya setzte sich durch. Wenig später prasselte ein kleines Feuer und spendete angenehme Wärme. Wachen wurden eingeteilt und alle anderen legten sich hin. Ich durfte in einem Schlafsack schlafen weil ich ihn heute den ganzen Tag getragen hatte, und obwohl ich erschöpft war und jeden Muskel meiner Beine unangenehm spüren konnte, kam der Schlaf nicht sofort.
Was war mit dem Stamm passiert, dem diese Basis gehört hatte? Waren sie am Leben? Versteckten sie sich vielleicht in diesem Moment draußen im Wald und trauten sich nicht in ihre eigene Hütte? Oder hatten sie ihre Basis ganz aufgegeben, so wie wir es auch getan hatten? Wenn ja, welchen Grund hatten sie dafür? Denselben wie wir?
Oder waren sie aus einem anderen, sehr viel schlimmeren Grund nicht hier?
***
Am späten Vormittag des nächsten Tages machten wir Rast neben ein paar Felsen, die ins Meer ragten und aßen unser übrig gebliebenes Fleisch und ein paar Beeren von Büschen in der Nähe, als Yin von einem der höheren Felsen aus verkündete, sie könne Carnivore Island sehen. Einer nach dem anderen erklommen wir die Felsen und reichten das Fernglas herum. Die Insel lag im Norden, schaute man parallel zum Land sah es aus, als könnte man vielleicht sogar hinschwimmen. Ich konnte keine Bäume oder einen Wald auf der Insel erkennen, sie wirkte kahl und ungastlich. Riesige graue Felsen ragten aus ihrer Mitte empor wie Reißzähne. Wir waren zu weit weg, um zu erkennen, ob sich dort etwas regte, aber wir gingen alle davon aus.
Je weiter wir liefen, desto schmaler wurde der Strand. Der feine Sand wechselte sich mit Kies und Steinen ab und der Dschungel streckte seine Wurzeln immer weiter nach dem Meer aus. Hätte keiner von uns die Blätter der Büsche und Sträucher berühren wollen, hätten wir alle hintereinander gehen müssen.
„Seid vorsichtig!", rief Tim aus der Vorhut. „Hier liegt ein toter Dodo – guckt euch den lieber nicht allzu genau an."
Die Kiesel um den Dodo herum waren dunkelrot gefärbt, aber trocken. Fliegen summten um uns herum, als wir über das Tier stiegen. Er hatte eine klaffende Wunde am Bauch, sie war gefüllt mit dicken, weißen Maden. Mir wurde schlecht, obwohl ich nicht länger als einen Augenblick hinschaute.
Das Summen der Fliegen in der Mittagshitze war fast unerträglich laut. In einer dichten schwarzen Wolke stoben sie um den Kadaver herum. Ich entfernte mich bereits weiter den Strand entlang, aber das Summen wurde nicht leiser.
Sophie hinter mir stieß einen spitzen Schrei aus und schlug mit dem Arm nach etwas. Es dauerte nur eine Sekunde, bis uns allen klar wurde, dass das ein Fehler gewesen war. Die riesenhafte Libelle erhob sich schleudernd aus der Fliegenwolke und fand ihr Gleichgewicht wieder. Ihr wütendes Summen verfolgte Sophie, die ihre Position links liegen ließ und platschend durch das Wasser nach vorn an die Spitze rannte, die Libelle dicht hinter ihr. Von links aus dem Dschungel drang weiteres Summen und ein ganzer Schwarm Libellen schwirrte plötzlich um uns herum, alle mindestens so lang wie mein Unterarm. Wir schlugen mit unseren Speeren nach ihnen, aber es brachte nichts. Sie flogen um uns herum und stachen uns, wo immer sie uns erwischen konnten.
Bald rannten wir den Strand entlang, der Gott sei Dank wieder breiter wurde, aber wir konnten nie mehr als ein paar Meter zwischen uns und die Insekten bringen. Und es wurden nicht weniger. Im Gegenteil. Zu den Libellen gesellten sich Käfer, einige flogen brummend mit glänzenden Flügeln und grauenerregenden Mundwerkzeugen, andere krabbelten aus dem Saum des Dschungels über den Sand auf uns zu.
„Ins Wasser!", schrie Himaya, als klar wurde, dass wir den Schwarm weder abschütteln, noch besiegen konnten. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Ich warf den Schlafsack von meinen Schultern in den Sand und stürzte mich ins kalte Meerwasser. Algen und Seegras streiften meine Waden und Knie, der Sand unter meinen Füßen war durchsetzt mit Muscheln und ich war wieder einmal dankbar für meine Schuhe. Das Messer fest umklammert holte ich tief Luft und ließ mich auf den Meeresboden sinken. Es war höchstens anderthalb Meter tief und trotzdem eine ganz andere Welt. Mit offenen Augen starrte ich zum blauen Himmel über mir, immer wieder verdunkelten die ruckartigen Bewegungen der Insekten den Blick. Wir tauchten nur zum Luftholen auf, und immer nur für ein paar Sekunden. Das Salzwasser brannte bald in meinen Augen und in den Stichen und Kratzern, die die Libellen und Käfer auf meiner Haut hinterlassen hatten.
Irgendwann, vielleicht Stunden später, vielleicht Minuten, tauchte Pablo für mehr als ein paar Sekunden auf, erhob sich dann und ging zurück an den Strand. Wir anderen folgten nach und nach, atemlos, erschöpft und ängstlich. Ich hätte mich gerne ausgeruht, wollte dann aber doch diesen Horrorstrand so schnell wie möglich hinter mir lassen. Sophie, Nicky und ich schulterten die Schlafsäcke und wortlos wanderten wir alle weiter. Tim lief vor mir her und ich betrachtete seinen Rücken. Er hatte einen fiesen Sonnenbrand auf den Schultern und im Nacken, ansonsten war seine Haut fast weiß. Nur jetzt war sie überall von roten Punkten und kleinen Kratzern übersät. Die Stiche der Libellen begannen schnell anzuschwellen, was Tim das unschmeichelhafte Aussehen eines Streuselkuchens verlieh. Einige der Kratzer, die wahrscheinlich Käferbisse waren, bluteten leicht. Das Blut mischte sich mit den Wassertropfen auf seiner Haut und bildete Muster wie auf einer Leinwand.
Als das Salzwasser fast trocken war, merkte ich, dass auch ich einige Stiche vorzuweisen hatte. Meine Arme hatten einiges abbekommen und es sah nicht viel besser aus als bei Tim. Und das allerschlimmste war, dass es begann zu jucken. Nicky hinter mir hatte kurz angehalten und rieb sich händeweise nassen Sand über ihre Arme. Bald machten wir alle es ihr nach. Es half für eine Weile. Sobald man aufhörte, wurde es nur schlimmer.
Das Land vor uns machte eine Biegung nach rechts. Zu unserer Linken erhob sich hinter einem Streifen Dschungel ein majestätischer Berg. Wir konnten Vogelschreie hören, die klangen wie die von Adlern. Es wurde einstimmig beschlossen, nicht in unmittelbarer Nähe des Berges zu bleiben. Er strahlte eine furchteinflößende Erhabenheit aus, vielleicht nur, weil wir alle wussten, dass laut des Notizbuchs die größten und gefährlichsten Raubtiere in Berggebieten lebten.
„Oh nein." Lance blieb stehen und Tim tat es ihm gleich. Ich stellte mich neben sie und spürte sofort den Knoten in meinem Magen wieder, der mich begleitete, seit ich hier war. Wir befanden uns jetzt ein gutes Stück von dem Berg entfernt. Carnivore Island lag direkt zu unserer Rechten und es war mir seit einer Weile klar, dass man absolut nicht dort hinschwimmen konnte.
Und geradeaus am Strand, hinter einem Zaun, der ganz ähnlich aussah wie der von Lance, befand sich eine weitere Basis. Die nicht ansatzweise verlassen war. Jemand saß auf dem flachen Dach der Hütte, hob einen Arm und winkte.
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Ich entschuldige mich für die ewig lange Pause! Aber ich wollte sicherstellen, dass diese Geschichte meine volle Aufmerksamkeit bekommt, denn ich finde, sie verdient nicht weniger. Falls ihr zurückgekommen seid oder gewartet habt, vielen Dank!
Und ich bin sicher nicht die erste, die das schreibt, aber eure Kommentare motivieren mich sehr und ich freue mich über alle eure Gedanken. Welche Charaktere mögt ihr bisher? Wen findet ihr furchtbar? Was haltet ihr von den Änderungen zum Spiel, die ich vorgenommen habe?
Danke fürs Lesen und lasst euch nicht fressen :p
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