Kapitel 6 - Zaun
Grasländer beherbergen die größten Kreaturen und viele Ressourcen.
Nimm dich in Acht vor gigantischen Fleischfressern!
Ein neues Licht schoss vom Himmel und schlug lautlos auf der Erde ein. Geräuschlos formte sich am oberen Ende die Lichtkugel, die zweifellos eine weitere Versorgungssonde enthielt. Dieser Strahl allerdings leuchtete smaragdgrün und er befand sich viel weiter weg von uns, in Richtung des Flusses.
Trotzdem ließen wir wie auf Kommando alles stehen und liegen, bewaffneten uns mit Messern und Speeren, und marschierten los. Etwa auf halbem Weg zum Fluss befand sich am oberen Endes des Strands eine Felsformation. Dahinter, auf einer flachen Lichtung, hatte sich die Sonde auf den Boden geschraubt. Eifrig kletterten wir die Felsen nach oben. Der höchste war eben, sodass man bequem darauf sitzen konnte.
Die Sicht auf die leuchtende Sonde war gut.
Die Sicht auf das, was außerdem auf der Lichtung war, war sogar noch besser.
Auf den ersten Blick war es ein gigantischer Fleischberg. Blutig und zerfetzt. An vielen Stellen fehlten Stücke. Während ich gerade zu dem Schluss kam, hier ein totes Triceratops vor mir zu haben, erhob sich etwas Ungeheuerliches hinter dem Triceratops und plötzlich wirkte es wie ein Kuscheltier.
Das Tier, das das Triceratops getötet hatte, richtete sich zu voller Größe auf, öffnete sein gigantisches Maul und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Mir gefror das Blut in den Adern.
Keiner von uns musste ins Notizbuch sehen, um zu wissen, was wir hier vor uns hatten.
Tyrannosaurus Rex, mehr als sechs Meter hoch und über zehn Meter lang. Er hätte mich vermutlich ohne kauen zu müssen verschlucken können.
Da kauerten wir, auf dem ebenen Felsblock, noch nicht einmal auf Augenhöhe mit dem T-Rex. Er thronte über uns, nicht mehr als zwanzig Meter entfernt, sein Maul blutverschmiert, seine Zähne glänzend rot. Keiner von uns atmete oder bewegte sich. Es gab dieses Gerücht, dass der T-Rex nur das sehen konnte, was sich bewegte, und ich betete, dass es stimmte. Er konnte wahrscheinlich mit zwei Schritten bei uns sein, er brauchte dann nur den Kopf zu senken und den Kiefer zu schließen und der gesamte violette Stamm wäre Geschichte.
Himaya neben mir begann zu zittern. Ich spannte jeden Muskel meines Körpers an und als der Dinosaurier endlich seinen gigantischen Kopf senkte, um ein Stück Fleisch aus dem toten Triceratops zu reißen, war ich als einzige bereit. Ich packte Himaya am Oberarm und zerrte sie mit zurück, zitternd und verängstigt. Lance und Nicky starrten noch immer wie gebannt den T-Rex an. Ich unterdrückte einen Fluch, ließ Himaya alleine weiterklettern und packte Lance am Knöchel. Er zuckte so stark zusammen, dass er fast runterfiel. Aber wenigstens verstand er den Wink. Er stieß Nicky an und wir kletterten Himaya hinterher nach unten. Sie rannte bereits den Strand entlang zurück zur Basis. Allerdings stolperte sie immer wieder und blieb irgendwann einfach im Sand sitzen.
Erst als wir bei ihr waren, bemerkte ich, dass sie nicht mehr nur zitterte. Sie wurde geschüttelt von einem heftigen Weinkrampf.
Nicky und Lance wirkten vollkommen hilflos, also kniete ich mich vor Himaya und zwang sie, mich anzusehen. „Steh auf", sagte ich deutlich. „Wir müssen zur Basis. Verstehst du mich?"
Sie nickte zwar, aber es sah nicht so aus. Ich blickte hoch zu Lance. „Hilf mir, sie zu stützen." Auch er reagierte langsam und sah blass aus. Wenn er sich jetzt übergibt, drehe ich durch, dachte ich.
Zu zweit stützten wir Himaya und ließen Nicky ihren Speer tragen. Sie lief stumm vor uns her. Ich war noch nie so glücklich gewesen, die Basis zu erreichen. Sie wirkte zwar jetzt klein und instabil, aber sie war der sicherste Ort, den wir hatten.
Lance brachte Himaya ins Bett, während Nicky sich am Strand in den Sand gesetzt hatte und aufs Meer hinaus starrte.
„Hey." Lance setzte sich zu mir neben den flachen Stein, den wir an unserem ersten Morgen hier geholt hatten. „Danke."
Ich starrte ihn an. „Wofür?"
„Du hast als einzige einen kühlen Kopf bewahrt." Er riss ein Büschel Gras aus dem Boden. „Keine Ahnung, wo wir jetzt ohne dich wären."
Ich konnte es kaum fassen: Lance war nett zu mir?
Bevor ich mir sicher sein konnte, dass ich es mir nicht doch alles einbildete, stand er auf und schaute von oben auf mich herab - buchstäblich und im übertragenen Sinne.
„Wir brauchen neues Fleisch", sagte er. „Geh und bring Himaya zur Vernunft, ich rede mit Nicky."
„Himaya hat einen Schock", entgegnete ich und rührte mich nicht. „Sie kann wahrscheinlich noch nicht wieder - "
„Es geht hier ums Essen! Wenn diese Dilo-Viecher wiederkommen und wir nichts für die haben, greifen die uns an. Ein ganzes verdammtes Rudel von denen."
„Ich dachte, du bist so scharf drauf, gegen die zu kämpfen", erwiderte ich angriffslustig.
„Ich bin auch scharf drauf, was zu essen zu haben, also steh auf und hol sie."
„Schön." Ich erhob mich und funkelte ihn an. „Wenn du gemein zu Nicky bist, kannst du dir deinen Dodo alleine jagen, verstanden?" Ohne auf seine Antwort zu warten, stampfte ich in die Hütte und redete so lange beruhigend auf Himaya ein, bis sie mit mir nach draußen kam.
Wir erlegten einen Dodo, der etwas kleiner als der letzte war, aber uns alle definitiv satt machen würde. Himayas Handbewegungen beim Ausnehmen waren fahrig und ihr Blick glasig, aber all das lief bei ihr fast automatisch. Wir halfen, so gut wir konnten beim Rupfen, aber das Ausnehmen konnte außer Himaya niemand. Dafür durfte sie sich hinlegen, während wir Feuer machten und das Fleisch grillten. Lance und ich übernahmen die erste Wache. Die Stimmung war angespannt, so wie immer zwischen uns beiden, aber wir funktionierten zugegebenermaßen gut als Team. Ich mochte ihn nicht sonderlich, musste aber eingestehen, dass er meistens den richtigen Riecher hatte. Nur sein rechthaberischer Ton und sein Anführer Gehabe gingen mir tierisch auf den Keks.
***
Damit machte er auch am nächsten Morgen direkt weiter, als Nicky uns weckte. Himaya hatte die ganze Nacht durchgeschlafen und es schien ihr besser zu gehen. Es hatte über Nacht geregnet und unsere Wasservorräte waren aufgefüllt. Das kalte Wasser weckte ihre Lebensgeister und sie warf mir ein schmales Lächeln zu. Ich deutete das als gutes Zeichen.
„Wir bauen einen Zaun", verkündete Lance beim Dodo-Frühstück. „Esst auf, dann gehen Luana und ich Äste und Steine sammeln. Nicky, du spitzt sie mit dem Messer an - von beiden Seiten. Himaya, du machst Seile aus Gras oder wie auch immer du das machst. Wir bauen einen Wall um die Basis."
Da war es wieder: Die Idee war gut, aber der Befehlston war unnötig und weckte bei mir direkt den Drang, zu widersprechen. Aber Nicky und Himaya nickten beide, also hielt ich den Mund und ging mit Lance Stöcke und Äste sammeln. Es wurde uns ziemlich schnell klar, dass Lance' Vorstellung von einem Wall absolut utopisch war. Keine Chance, dass wir vier allein aus angespitzten Zweigen und großen Steinen, einen Wall bauen konnten, der Dilos fernhielt. Aber Lance hörte nicht auf Protest und spornte uns immer weiter an. Am Ende wagten wir uns zu viert sogar einmal weiter in den Dschungel, um Baumstämme zu holen. Himaya belud sich zusätzlich noch mit jeder Menge Lianen und Schlingpflanzen, mit denen sie die dünneren Äste zusammenbinden wollte. Abgesehen von einer Libelle, die etwa dreißig Zentimeter lang war, begegnete uns nichts.
Am Abend hatten wir unsere Hütte und ein Stück Wiese komplett eingezäunt. Leider reichte der Zaun uns an den allermeisten Stellen nur bis zu den Knien. Keinerlei Hindernis für einen Dilo oder sonst ein Tier, wahrscheinlich konnte sogar ein Dodo mühelos darüber hüpfen.
Da standen wir also im Licht der untergehenden Sonne und betrachteten ausgelaugt unser Tagwerk. Ich war sowieso schon total fertig und Lance hatte mich den ganzen Tag über immer wieder an die Grenzen der Weißglut getrieben und als er jetzt die Hände in die Hüften stemmte und sagte: „Morgen bauen wir weiter", wäre ich fast explodiert.
Wir hatten kaum noch Beeren oder Dodofleisch, weil wir alle den ganzen Tag an dem dämlichen Zaun gearbeitet hatten. Die Sonne hatte erbarmungslos von morgens bis abends geschienen, der Himmel war klar und wolkenlos und unsere Wasservorräte gingen zur Neige. Und morgen wollte er das gleiche noch mal durchziehen? Oh nein, ohne mich.
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