Kapitel 4 - Sonde
Die Leuchtfeuer halten Überraschungen bereit.
Lance und Himaya bauten im Sonnenaufgang Speere.
Es war nicht viel mehr, als ein möglichst gerader Stock, an den sie mit Pflanzenfasern einen spitzen Feuerstein gebunden hatten, aber jeder von uns bekam einen Speer und vielleicht half er zumindest gegen kleinere Tiere.
Einen Raptor würden sie uns nicht vom Hals halten können. Trotzdem fühlte ich mich sicherer, als ich mit dem Speer in der Hand neben den anderen herlief. Wir wanderten am Strand entlang nach Osten zum Fluss. Himaya schätzte, dass es ungefähr drei Kilometer bis dorthin waren.
Anfangs begegneten uns außer ein paar Dodos und zwei Riesenschildkröten nichts. Beide Arten nahmen nicht sonderlich viel Notiz von unserer Gruppe.
Als wir den Fluss schon fast sehen konnten, begegnete uns ein neuer Dinosaurier und der ignorierte uns nicht.
Es war ein recht kleines Tier, ungefähr einen Meter groß und es lief auf zwei Beinen. Als es uns bemerkte, blieb es stehen und schaute uns an - es sah fast neugierig aus.
„Zähne", sagte Himaya nur und hob vorsichtshalber ihren Speer.
Der Dino hatte tatsächlich eine ganze Menge spitzer Zähne. Und anscheinend stufte er uns jetzt als Bedrohung ein, denn er stieß einen schrillen Schrei aus und eine Art orangefarbener Schirm flatterte plötzlich um seinen Hals herum.
„Der gefällt mir nicht", sagte Nicky mit zitternder Stimme.
„Man muss Dominanz zeigen", meinte Lance, packte seinen Speer fester und schritt auf das Tier zu. Dabei breitete er die Arme aus, um größer zu wirken.
„Idiot", flüsterte ich.
„Na, komm schon!", sagte Lance laut zu dem Dino und bestätigte meine Worte. „Los! Traust du dich nicht? Hast du etwa Angst vor mir?"
Der Dino machte einen Schritt zurück, beugte seinen Oberkörper nach vorn und schrie nochmal. Es sah aus wie eine Warnung. Lance kapierte wie immer nichts und zielte mit dem Speer auf den Dino.
Ehe wir noch richtig mitbekamen, was passierte, spuckte der Dino eine zähe, grün-schwarze Masse auf Lance, schrie ein letztes Mal und rannte über den Strand davon in den Dschungel.
Lance schrie wie ein Baby und versuchte am Boden liegend das klebrige Sekret aus seinem Gesicht zu bekommen.
„Was zur Hölle!", brüllte er, „wo ist das Drecksvieh! Ich kann nichts mehr sehen!"
Nicky versuchte, ihm zu helfen. „Keine Sorge, es ist weg", meinte sie beruhigend.
„Fass mich bloß nicht an, du Schwuchtel!", schrie Lance sie an. Nicky schluckte und wich zurück.
Himaya nahm mit grimmigem Gesicht ihren Platz ein. „Nenn sie noch einmal so und du kannst alleine zusehen, wie du den Scheiß aus deiner Visage bekommst", knurrte sie.
Lance stöhnte nur unverständlich. Wir mussten ihn stützen, um ihn ans Meer zu bugsieren. Das Zeug, das der Dino auf ihn gespuckt hatte, war so zäh und klebrig, dass es nicht anders ging, als Lance' Kopf unter Wasser zu halten, um es abzukriegen.
„Was hat er?", fragte Nicky besorgt. Selbst aus einem Meter Sicherheitsabstand bemerkte sie als erste, dass etwas nicht stimmte. Lance verzog das Gesicht als hätte er Schmerzen. Obwohl nur noch ganz wenig von dem Zeug auf seiner Haut war, wirkten seine Bewegungen fahrig und unkontrolliert. Außerdem machte er Geräusche wie ein Zombie.
„Nicky, guck in dein Buch, ob da irgendwas drinsteht", kommandierte Himaya und fing an, beruhigend auf Lance einzureden. Ihre Stimme war trotz aller Mühe von Panik durchsetzt. Ich sah Nickys Hände zittern und nahm ihr das Notizbuch ab. Es gab ein ganzes Kapitel mit zusammengewürfelten Informationen über Dinosaurier.
„Ich hab was: Dilophosaurus spuckt ein klebriges Sekret mit lähmender Wirkung: Weich besser aus!"
Ich blickte auf und musterte Lance. Seine Gesichtsmuskeln wirkten schwach, ein Mundwinkel hing nach unten, wie bei manchen Schlaganfallpatienten.
„Steht da, ob das dauerhaft lähmt?"
Ich überflog die Seiten, aber es gab sonst keinen Eintrag zum Dilophosaurus.
Lance konnte die Augen nicht mehr offen halten, die Lähmung befiel anscheinend auch seine Augenlieder. Ebenso seine Kiefermuskulatur und seine Lippen - er brachte nur unnatürliches Stöhnen hervor. Es war eigentlich ganz angenehm, dass er mal die Klappe hielt.
„Luana, nimm seinen Speer", befahl Himaya. „Nicky, das Buch. Hilf mir, ihn zu stützen." Mit grimmiger Selbstverständlichkeit übernahm sie die Führung und ich war dankbar, dass wir Himaya hatten. Nicky und ich waren lange nicht so entschlossen wie sie. „Wir gehen weiter."
Wir kamen ab jetzt deutlich langsamer voran, was zwei Gründe hatte. Lance zu stützen war nicht sonderlich einfach, er konnte zwar eigentlich normal laufen, war aber praktisch blind. Das Dreiergespann eierte dicht am Wasser entlang, wo der Sand nass und fest war. Ich lief auf der Dschungelseite neben ihnen her und hatte die Augen überall, soweit das möglich war. Ich hatte Angst.
Ich hatte auch Durst.
Und es war fast unerträglich heiß am Strand in der Mittagssonne. Ich wusste, wenn wir jetzt umkehren und es morgen noch mal versuchen würden, wäre die Chance, dass es alle von uns bis zum Fluss und zurück schaffen, zu gering für das Risiko. Auf dieser Insel gab es unzählige Bedrohungen. Temperaturen, Tiere und vielleicht sogar Menschen. Ich wollte den Durst nicht der Liste hinzufügen.
Vor uns machte der Strand einen Knick und verengte sich. Das Gras und der Dschungel wichen steinigem Boden und dann einer ansteigenden Klippe. Auf unserer Seite des Flusses gab es etwa zehn Meter Sand und Uferschlamm, bevor die Felswand das Tal einschloss. Auf der anderen Seite war mehr Platz und dort tummelten sich einige Tiere. Ein Pärchen Riesenschildkröten watete durch den Strom. Direkt gegenüber von uns trank ein Triceratops. Der Fluss war nur ein paar Meter breit und ich war noch nie so nah an so einem großen Tier dran gewesen. Ich hielt inne, um es ehrfürchtig anzustarren. Zum Glück war Himaya wie immer Herrin der Lage und hatte bereits die Umgebung nach Raubtieren gescannt und grünes Licht gegeben. Sie und Nicky setzten Lance ins seichte Wasser und befahlen ihm, zu trinken. Ich setzte mich neben ihn und genoss, dass er immer noch still war.
Das kühle Wasser umspielte meine Beine und ich kam vielleicht zum ersten Mal, seit ich hier gelandet war, zur Ruhe. Es war eine Illusion, natürlich. Ein Teil von mir wusste, dass mich gleich etwas von hinten anspringen könnte und ich vollkommen machtlos dagegen wäre, es aufzuhalten. Ein Teil von mir wusste genau, dass der Tod hier jederzeit und überall präsent war.
Ich formte meine Hände zu einer Schale und trank ein paar Schlucke Wasser. Es linderte den leise im Hintergrund dröhnenden Kopfschmerz fast sofort. Ziemlich schnell steckte ich einfach den Kopf ins Wasser und trank direkt aus dem Fluss. Lance neben mir versuchte dasselbe, aber es fiel ihm sichtlich schwer.
Mit dem Gefühl von Wasser in meinem Bauch lehnte ich mich zurück und beobachtete das Treiben auf der anderen Seite des Flusses. Außer den Triceratops waren da noch ein paar andere Tiere, die ich allerdings überhaupt nicht einordnen konnte. Sie waren etwas kleiner als Nilpferde, hatten aber ebensolche Haut. Keine Schuppen, es sah tatsächlich aus wie dicke, dunkelgraue Haut. Sie hatten einen kleinen Rüssel und Stoßzähne. Alles in allem sahen sie nicht sonderlich bedrohlich aus. Sie benutzten ihre Stoßzähne, um Pflanzen aus dem feuchten Uferboden zu graben, ich bezweifelte, dass sie gut mit den Zähnen kämpfen konnten.
„Isch höe viele Tie-e", nuschelte Lance neben mir undeutlich. Zeit zu gehen, dachte ich, die Stille ist vorbei.
„Hier ist einiges los", bestätigte ich trotzdem und beobachtete einen kleinen Flugsaurier, der wie ein Drache aussah. Er flog dicht über der Wasseroberfläche dahin und schnappte sich einen Fisch, der ungefähr so lang war wie mein Unterarm. Jedes Tier schien wie gemacht für diese Insel. Alle wussten, wo ihr Platz war - alle außer uns.
„Schlechte Nachrichten!", teilte Himaya uns mit. Sie hielt eine ihrer geflochtenen Schalen nach oben. Ein stetiger Strom Wasser tropfte durch den Boden. „Ich hab alles versucht, aber ohne anderes Material wie Leder, bekomme ich die nicht dicht. Wir können das Wasser nicht mitnehmen."
„Heißt das, wir müssen morgen wieder hierherlaufen?" Nicky klang mutlos.
Ich konnte das verstehen und dachte an den anderen Fluss, der näher bei unserer Basis lag, allerdings auf der anderen Seite des Dschungels. Wie viele Tage würde es dauern, bis uns der Weg hierher zu weit wurde und Durst und Erschöpfung stärker wurden, als unsere Angst?
Würde uns die Verzweiflung letzten Endes das Leben kosten?
Resigniert machten wir uns auf den Rückweg. Lance schien es mit jedem Schritt besser zu gehen. Auf halbem Weg zur Basis konnte er die Augen wieder öffnen. Seine Augenlider wirkten nach wie vor schlaff und müde, aber er brauchte zumindest keine Hilfe beim Laufen mehr und konnte seinen eigenen Speer wieder tragen.
Meine Füße fingen an, wehzutun. Immerhin hatte keiner von uns Schuhe. Der Sand fühlte sich nicht mehr weich unter meinen Sohlen an, eher so als würde ich auf einer Millionen stumpfer Nadeln laufen.
Ich setzte gerade an, mich zu beschweren, da lief ich direkt in Lance hinein.
„Bleib nicht einfach stehen, du-"
Alle hatten angehalten.
Unsere Basis war von hier aus gut sichtbar, eine minimalistische Hütte im Gras, hinter der in weniger Entfernung ein malerischer, grasbewachsener Hügel aus dem Boden wuchs. Dahinter wiederum war ein gleißend weißer Lichtstrahl aufgetaucht, genau wie die, die am ersten Abend hier jede Basis markiert hatten. Eine Lichtkugel bewegte sich langsam den Strahl hinunter, als wäre sie eine Perle, aufgefädelt an einer Kette aus Licht.
„Es gibt keinen weißen Stamm", stellte Nicky fest.
„Was bedeutet es dann?"
„Dass wir uns das ansehen werden", sagte Lance, wieder ganz der Alte. Er ging voraus und uns blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Wir erreichten den Hügel jenseits unserer Basis, als die Lichtkugel weit genug an dem Strahl herabgeglitten war, um zu sehen, dass sie nicht nur pures Licht war.
Es war eine Art ... Sonde, die grell weißes Licht abstrahlte. Sie sah ein bisschen aus wie der Monsterturm, nur in klein. Lance winkte uns heran und bedeutete uns, uns knapp unterhalb der Hügelkuppe ins hohe Gras zu legen. Also zog er wenigstens in Betracht, dass es eine Falle sein könnte.
Die Lichtsonde berührte den Boden und hörte ganz plötzlich auf zu strahlen. An den Kanten leuchtete sie immer noch schwach weiß. Sie war ungefähr zwei Meter groß.
„Das muss eine Versorgungssonde sein!", flüsterte Nicky aufgeregt.
Himaya und ich tauschten einen Blick. Wir wussten beide, es war riskant. Aber es war vermutlich riskanter, nicht hinzugehen. Vielleicht enthielt die Sonde Wasser. Essen. Kleidung.
Einen Weg nach Hause.
Lance mahnte uns zur Geduld. Er wollte abwarten, ob ein anderer Stamm ebenfalls der Sonde auflauerte. Als sich nach ungefähr zehn Minuten nichts gerührt hatte, schlichen wir zu viert den Hügel hinab auf die Sonde zu. Sie bestand aus einem kühlen, dunklen Metall und hatte von vorn dieselbe diamantene Form wie unser Implantat. Auf jeder Fläche des dreidimensionalen Diamanten waren flache Griffe in die Oberfläche eingearbeitet. Lance holte tief Luft und öffnete das erste von vier Fächern.
Es enthielt vier Jagdmesser. Himaya konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als Lance ihr eins reichte. Es sah aus, als hätte man ihr damit einen unglaublich großen Gefallen getan. Ohne Himaya wären wir jetzt schon arm dran gewesen und ich verspürte eine Art Vorfreude bei dem Gedanken, zu sehen, wozu eine Himaya mit einem scharfen Jagdmesser fähig war. Wortlos, aber mit einem Leuchten im Gesicht reichte Lance uns allen ein Messer.
Die Spannung war fast greifbar, als er sich dem nächsten Fach zuwandte. Es enthielt einen gefütterten Schlafsack aus Leder. Innen war er mit weichem Fell ausgekleidet, sodass man sich direkt hineinkuscheln wollte. Allerdings gab es nur einen Schlafsack und nicht vier.
„Immerhin", murmelte Lance. „Besser als keiner."
Da konnte man nicht widersprechen.
Die letzten beiden Fächer befanden sich auf der Rückseite der diamantförmigen Sonde.
Das Dritte beinhaltete etwas, das ich nicht identifizieren konnte, aber es löste buchstäbliche Freudenschreie bei Himaya aus. Sie nahm sich zwei der seltsamen Gegenstände, von denen es dieses Mal wieder vier gab und führte einen Freudentanz auf. Ihr Lachen tropfte von ihrem Gesicht, als sie uns bemerkte. „Ihr kennt das nicht, oder?", fragte sie und hielt eines der Dinger hoch. Wir schüttelten einträchtig die Köpfe.
„Das sind Trinkschläuche! Aus Leder! Wir können Wasser nach Hause transportieren!"
Ich nahm eines der übrigen Dinger aus der Sonde und betrachtete es im Licht des Strahls über uns. Es war ein kleiner Sack aus zusammengenähtem Leder mit einem Plastikschlauch, der durch die einzige Öffnung in den Sack führte. Vielleicht würde dieses primitive Ding unser Leben retten.
„Seid ihr bereit für das letzte Fach?", fragte Lance.
Er öffnete das Fach und der Inhalt kam ihm bereits entgegen. Diesmal war ich es, die den Freudenschrei nicht zurückhalten konnte - ich hatte Schuhe gesehen. Aber nicht nur das. Das Fach quoll über vor Hosen, Hemden, Handschuhen, Hüten und Schuhen. Es war eine volle Ausstattung für jeden von uns dabei.
Es folgte der Schock meines Lebens. Als Nicky das letzte Teil aus dem Fach gefischt hatte, ertönte ein mechanisches Zischen, der weiße Lichtstrahl erlosch und die Sonde zerfiel vor unseren Augen in ihre Einzelteile. Das dunkle Metall begann sich blitzschnell zu verändern, es rostete in unglaublicher Geschwindigkeit und eine Minute später wurden die Überreste davon mit der leichten Briese als kupferroter Wind davongetragen.
Über dem Meer ging bereits der Mond auf, die Sonne war hinter den Baumwipfeln verschwunden. Im letzten Licht des Tages saßen wir im Gras und tauschten Kleidungsstücke. Wir hatten mit den Größen nur manchmal Glück, so bekam ich eine Hose, die perfekt saß und Himaya bekam Schuhe in ihrer Größe, aber der Rest passte mehr schlecht als recht. Es waren natürlich keine hochwertigen - oder ansatzweise normale - Klamotten. Sie waren aus einem Material wie ein Kartoffelsack. Gegen Kälte würden sie kaum Schutz bieten, aber wenigstens boten sie etwas Schutz gegen die Sonne. Ich bekam nicht leicht Sonnenbrand, aber Lance war bleich wie ein Glas Milch und hatte jetzt schon rote Schultern und Arme.
„Ich kann morgen die Sachen so nähen, wie ihr sie braucht", bot Nicky schüchtern an. „Ich hab schon viele Kostüme gemacht, das kriege ich sicher hin."
Himaya nickte begeistert und auch Lance sprach sich nicht gegen den Vorschlag aus. Er wollte wahrscheinlich einfach nur Schuhe, die keine Größe 36 waren. Wenigstens hatten wir alle einen Hut und Handschuhe aus Leinen, die uns bis zu den Ellbogen reichten. Die Schuhe waren sogar aus Leder und dem Kartoffelsackstoff zusammengenäht.
In unheimlich guter Stimmung machten wir uns auf den kurzen Weg zurück zur Basis, wo Himaya ein munteres Feuer anzündete. Lance durfte heute Nacht den Schlafsack benutzen, weil wir ihn über die Dilo-Attacke hinwegtrösten wollten - außerdem war es sein Entschluss gewesen, uns den weißen Strahl anzusehen. Ehrlich gesagt, hätten wir anderen uns ohne ihn wahrscheinlich nicht getraut.
Nicky und Himaya übernahmen die erste Wache. Nicky saß mit dem Haufen nicht passender Klamotten neben dem Feuer und benutzte ihr neues Messer und einige der Pflanzenfasern, die vom Speeremachen am Morgen übrig geblieben waren zum Nähen. Ich schaute ihr zu, bis mir die Augen zufielen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro