Kapitel 34 - Blut
Lern schnell, welche Dinosaurier dir am gefährlichsten werden können. Die Gefahr, die von manchen Pflanzenfressern ausgeht, sollte nicht unterschätzt werden.
Der Scheiterhaufen wuchs und wuchs unter unseren Händen. Am Ende standen wir in einer Reihe davor, Pablo mit der brennenden Fackel einen Schritt näher an dem grotesken Holzgebilde als der Rest. Er zögerte.
„Es hätte jeden treffen können", sagte er, ohne sich umzudrehen. „Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest. Du hast Besseres verdient. Und ich hoffe, das hier ist der letzte Scheiterhaufen, den ich jemals anzünden muss." Er senkte die Fackel in das trockene Gras und die Funken breiteten sich aus. Immer größer werdende Flammen fraßen sich durch das Stopfmaterial und begannen schließlich das Holz zu verschlingen. Wir wandten dem Scheiterhaufen den Rücken zu und prozessierten langsam durch den Sand zurück zur Basis.
„Danke", sagte Nicky zu Pablo. „Dass du das immer wieder machst."
Er brummte. „Es ist das Mindeste. Wenn wir sie schon nicht retten konnten, dann können wir zumindest verhindern, dass ihr Körper gefressen wird."
Ich wusste, er sprach nicht nur von Savannah. Sondern auch von Priscilla, Tim und den Mitgliedern des grünen Stammes, für die er auch Scheiterhaufen errichtet hatte. Memento Mori, dachte ich bitter. Sei dir deiner Sterblichkeit bewusst.
Sophie ging schlafen, sobald wir die Hütte wieder erreicht hatten, der Rest von uns setzte sich um das Lagerfeuer herum ins Gras. Der Feuerschein des Scheiterhaufens am Strand spiegelte sich in den seichten Wellen.
„Was denkt ihr, ist auf dem Berg mit dem blauen Turm?", fragte Yin in die stille Runde.
Nur Nastya traute sich, diese Frage zu beantworten. „Was Schlimmes."
„Vielleicht auch nicht", wiedersprach Nicky, doch es klang halbherzig. „Vielleicht ist es nur das Ende der Rätsel und dann der Weg nach Hause."
Ich beobachtete Nastya über die Flammen hinweg. Ihr gräulich-grüner Iro klebte an ihrem Kopf, in ihren dunklen Augen spiegelte sich das Feuer. Sie musterte Nicky, als wolle sie sie gleich an all die Grausamkeiten erinnern, die hier passiert waren, entschied sich aber dagegen und schwieg.
„Wer warst du eigentlich vorher?" Ich hatte gar nichts sagen wollen, aber meine Neugier war stärker. „Was für ein Leben hattest du?"
Nastya erwiderte meinen Blick. „Würdest du nicht glauben."
„Versuch's doch."
Ein halbes Grinsen huschte über das blasse Gesicht. „Sagen wir einfach, ich hatte schon sehr oft die Wahl, ob ich leben will oder nicht. Was für ein Leben das war, ist egal, Hauptsache es ist überhaupt eins."
Sie würde nicht mehr preisgeben, das war mir klar. Aber ich konnte mir trotzdem so einiges über sie zusammenreimen. Sie wusste, wie man mit Waffen umging – abgesehen von dem riesigen Scharfschützengewehr hatte sie mit keiner der Schusswaffen bisher Probleme gehabt. Sie hatte sich innerhalb von Sekunden aus den Fesseln um ihre Handgelenke befreit und ich war mir ziemlich sicher, dass sie auf der ARK nicht zum ersten Mal getötet hatte.
„Denkt ihr, es gibt wirklich einen Ausweg?", fragte Nastya in die Runde und ihre raue Stimme holte mich aus meinen Gedanken zurück. „Könnte auch nur ein großer Witz von denen sein."
Mehrere Leute begannen gleichzeitig zu reden. „Natürlich gibt es einen."
„Es gibt einen."
„Es muss einen geben."
Nastya lachte leise. „Ich meine, klar, sie haben euch das so verkauft, aber wieso vertraut ihr denen?"
„Welche andere Wahl haben wir denn?", fragte ich zurück. „Wenn wir nicht zum Turm gehen, was sollen wir tun? Hier bleiben? Das heißt auch nur, später gefressen zu werden oder auf irgendeine andere ekelhafte Weise zu sterben." Mein Blick huschte unwillkürlich in Richtung des nach wie vor lodernden Scheiterhaufens.
Nastya lehnte sich zurück. „Hmm. Wir werden's ja sehen."
Mir war nicht ganz klar, wieso Nastya überhaupt mit auf den Berg wollte, wenn sie doch nicht an einen Ausweg glaubte. Aber ich musste wohl oder übel zugeben, dass mit ihr unsere Chancen besser standen als ohne sie. Sie brachte uns bei, wie man Waffen sicherte und entsicherte, wie man sie reinigte, das Magazin wechselte und wie man richtig schoss. Mit der Munition mussten wir haushalten, aber wir hatten ohnehin nicht für jeden eine Schusswaffe.
Einige Tage nach dem Zwischenfall mit Savannah hatten wir genug Vorräte, um weiter zur grünen Basis zu ziehen. Vor uns lang unbekanntes Terrain, mit dem nur Nastya einigermaßen vertraut war und das machte uns alle etwas nervös und schreckhaft. Bevor wir allerdings losziehen konnten, mussten wir uns einem anderen Problem stellen.
Am späten Nachmittag bevor wir am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang losziehen wollten, schleppten Nicky, Sophie und Pablo all unsere Habseligkeiten aus der Hütte und breiteten sie im Gras aus. Artefakte, Schlafsäcke, Winterkleidung, mehrere Wurfzelte, Waffen, Nahrung und andere Ausrüstungsgegenstände lagen haufenweise vor uns.
Das Problem war offensichtlich. Wir waren zu neunt und das, was sich da vor uns türmte, war viel zu viel.
Sophie begab sich an die undankbare Aufgabe, mehrere Stapel zu machen, aus unverzichtbaren Sachen wie den Artefakten, Vorräten und Waffen und schob viele andere Gegenstände auf einen anderen Haufen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine hitzige Diskussion entbrannte.
„Wir können nicht alle Schlafsäcke hierlassen, wir werden erfrieren!"
„Wir schlafen so oder so nicht auf dem Berg", entgegnete Sophie, einen Schlafsack unter den Arm geklemmt, ein Glas mit Insektenschutzmittel in der anderen Hand.
„Aber zur Not?", fragte Nicky.
Letzten Endes übernahmen Himaya und Yin das Kommando, die nicht nur ein unschlagbares Team im Rätsellösen waren, sondern auch beide auf Farmen aufgewachsen waren und dadurch gelernt hatten, möglichst effektiv möglichst viel zu schleppen. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen und jeder wurde beladen wie ein Maultier mit allem, was die beiden irgendwie unterbringen konnten. Ich bekam einen Rucksack mit dem Artefakt, das wir auf dem Meeresboden gefunden hatten, dazu wurden die Taschen meiner Hose bis zur Unkenntlichkeit ausgebeult mit Kleinkram wie Medizin, Messern, Mützen und Socken. Mein Rucksack wurde mit allem Möglichem vollgepackt, bis der Reißverschluss nicht mehr zuging und ich dachte, ich würde beim kleinsten Windstoß das Gleichgewicht verlieren und hintenüber in den Sand kippen wie eine umgedrehte Schildkröte. Himaya klopfte mir auf den Rucksack, ehe sie dann noch einen Schlafsack daran festzurrte. Ich unterdrückte ein Stöhnen und biss die Zähne zusammen. Alle anderen waren mindestens genauso schwer bepackt.
Am Ende mussten wir nur wirklich überflüssige Sachen zurücklassen, wie einige Paar Sandalen, die zwar die Reise komfortabler machen würden, uns aber sobald wir die letzte Basis auf unserem Weg erreichten, nutzlos sein würden. Wir hatten so viele Klamotten bekommen, dass keiner von uns den Berg ohne festes Schuhwerk würde erklimmen müssen. Und im Gegensatz zu den fadenscheinigen Klamotten aus den weißen Versorgungssonden, hatte auch jeder Schuhe in seiner Größe bekommen können. Einerseits war das unfassbar gut, andererseits auch verdächtig.
Obwohl die Wanderung von der blauen zur grünen Basis die anstrengendste werden würde, die wir bisher in Angriff genommen hatten, gingen wir doch mit gutem Gefühl schlafen. Es wäre schwerer, die mühsam erkämpften Schlafsäcke und Vorräte hier zurückzulassen, als sie den ganzen Weg zu schleppen.
An diesem Gedanken klammerte ich mich fest, als Pablo mir am nächsten Tag unter dem noch dunklen Himmel half, den Rucksack zu schultern. Jeder einzelne Schritt durch den Sand kostete Anstrengung. Meine Füße schwitzten in den Stiefeln, die Träger des Rucksacks schnitten mir trotz Polsterung in die Schultern. Ich hatte die Finger fest um einen Speer geschlossen, um mir selbst vorzumachen, dass ich nicht völlig wehrlos war. Fakt war jedoch, falls eine Bedrohung vor uns auftauchte, war an Weglaufen nicht mal zu denken.
Mittags machten wir Rast nahe des Wassers. Es war eine Wohltat, den Rucksack abzunehmen und sich zu strecken und für den Moment konnte ich die Strecke ignorieren, die noch vor uns lag und versuchte mir nicht vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, den Rucksack gleich wieder aufzusetzen. Himaya verteilte Dodofleisch und Nastya diskutierte mit Nicky, die fischen gehen wollte. So war der Plan eigentlich gewesen: mittags ausruhen, Feuer machen und Fische grillen. Wir kamen allerdings so viel langsamer voran als geplant, dass dafür keine Zeit blieb.
Ich konnte mir ein Stöhnen nicht verkneifen, als es soweit war, das Gepäck wieder zu schultern und weiterzugehen. Die Sonne knallte vom strahlend blauen Himmel herab, Sophie setzte sich trotz der Hitze eine Mütze auf, um ihre helle Kopfhaut zu schützen. Niemand verlor viele Worte, wir trotteten in einer Reihe im festeren Sand am Ufer weiter und immer weiter.
Es gab eine kurze Pause, als Yin auf einen Felsen kletterte, ein Kartenstück studierte und dann verkündete, es würde nur noch etwa eine Stunde dauern, bis wir die grüne Basis erreichten. Eine Stunde noch die Zähne zusammenbeißen. Ich verbrachte ein paar Minuten damit, abzuwägen, ob es sich lohnen würde, mich zu bücken um mir kühles Meerwasser ins Gesicht zu spritzen, oder ob das Gewicht des Rucksacks mich dabei zu viel Kraft kosten würde, dass ich zu spät bemerkte, dass die Gruppe angehalten hatte.
Vor uns am Strand, mittig zwischen dem Meer und den ersten Dschungelpflanzen war ein Dinosaurier. Er stand reglos auf seinen kräftigen Hinterbeinen und blickte uns aufmerksam an. Sein kleiner Schädel thronte auf einem langen Hals mehr als zwei Meter über uns, insgesamt kam das Vieh bestimmt auf eine Länge von zehn Metern. Aber all das war nicht das Seltsamste. An jedem seiner Arme hatte der Dino drei Krallen, die jeweils geschätzt einen Meter lang waren. Mein Herzschlag beschleunigte sich und Gänsehaut überzog meine Arme trotz der Hitze. Ich erinnerte mich schon einmal so einen Dinosaurier auf der Insel gesehen zu haben, aber nicht aus der Nähe. Ich nahm den Speer in eine Hand und schob die andere unter einen Träger des Rucksacks, um ihn im Notfall schnellstmöglich abwerfen zu können. Als hätten wir im Kampf gegen dieses bizarre Monster auch nur den Hauch einer Chance.
„Leute, es ist okay", sagte Sophie leise. Sie drehte dem Saurier den Rücken zu und brachte ein Lächeln zustande. „Das ist ein Therizinosaurus. Er hat die Krallen, um gut an Äste und Blätter zu kommen."
„Das da", sagte Himaya mit einem enorm verwirrten Gesichtsaudruck, „ist kein Fleischfresser?"
„Nein. Er wird uns nichts tun, alles gut." Sie winkte dem Dino zu und er machte ein leises, kehliges Geräusch und legte den Kopf schief.
„Putzig", sagte Himaya trocken.
Wir warten noch eine Minute, doch der Dino schien zu neugierig auf uns zu sein, um sich anderen Dingen zu widmen. Langsam und vorsichtig gingen wir hintereinander weiter, Schritt für Schritt. Der Therizinosaurus stand nach wie vor unbeweglich im Sand und folgte uns mit den Augen, als wir ihm immer näher kamen. Sophie ging vorneweg, mehrere andere waren zwischen uns und das machte mich noch viel nervöser. Die Gruppe verharrte unwillkürlich, als der Therizinosaurus einen Schritt auf uns zu machte. Ehe ich richtig verstehen konnte, was passierte, überschlugen sich die Ereignisse. Ein lautes Klicken ertönte, dann ein noch lauteres Röhren, als der Dinosaurier auf uns zustürmte. Chaos brach aus, ich konnte mich vor Schock nicht bewegen, bis ich einen Ellbogen von jemandem ins Gesicht bekam und taumelnd zu Boden ging. Schmerz, der mich Sterne sehen ließ und unbeschreibliche Panik, die jedes andere Gefühl verschlang. Der feuchte Sand unter meinen Händen färbte sich rot, ich hatte meinen Speer losgelassen. Strampelnd und blind vor Schmerz und Tränen befreite ich mich aus den Trägern meines Rucksacks und versuchte verzweifelt auf die Beine zu kommen. Ich konnte nicht sagen, wie lange die Schreie schon andauerten, als ich sie hörte. Gurgelnde, von Todesangst getriebene Schreie, aus vollem Hals. Diese Schreie erschütterten mich bis ins Mark.
Jede Faser meines Körpers wollte fliehen. Ich kämpfte mich auf die Beine, zwang mich dazu, zuerst nach Sophie zu suchen, konnte sie aber in dem Chaos nicht finden. Ein paar Schritte vor mir war der Therizinosaurus, ich war auf Augenhöhe mit seinen meterlangen Klauen, die inzwischen in Blut getränkt waren. Er stieß einen Schrei aus und senkte mit einer kantigen Bewegung die Krallen mit einem ekelerregenden schmatzenden Geräusch in einen Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. Ehe ich begreifen konnte, was ich gerade mit angesehen hatte, zog der Saurier die Krallen wieder heraus und schlitzte den Körper stattdessen mit den Klauen seiner anderen Hand auf. All das war begleitet von Todesschreien, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Mir drehte sich der Magen um, ich taumelte und fiel rückwärts ins seichte Meerwasser. Krabbelnd entfernte ich mich von dem Dino, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Bald wurde das Wasser zu tief und ich hätte mich hinstellen müssen, blieb aber vorsichtshalber nur mit dem Kopf über Wasser.
Am Strand war von meinen Freunden niemand mehr zu sehen, mit Ausnahme des Opfers, das der Therizinosaurus noch immer malträtierte. Die Schreie erstarben und ich hasste mich dafür, wie sehr mich die Stille erleichterte.
Der Saurier schien ebenfalls bemerkt zu haben, dass er den Menschen zu seinen Füßen getötet hatte und er blickte sich um. Ehe er mich bemerken konnte, tauchte ich unter und zwang mich, vom Strand wegzutauchen, am Sandboden entlang.
Aus dem Nichts tauchte etwas vor mir im Wasser auf und schwamm mir ins Gesicht. Brennender Schmerz entflammte auf meiner Haut, ich schrie unwillkürlich und schluckte eine Menge Salzwasser. Panisch strampelte ich mich nach oben und schnappte hustend nach Luft. Würgend und prustend zog ich die Beine an und versuchte zu erkennen, was auf dem Meeresboden unter mir los war. Durch die Wellen und den aufgewirbelten Sand war es schwer zu erkennen, aber etwas bewegte sich dort unten.
Und dann folgte es mir nach oben.
Es war ein riesiges, ekelerregendes Ding aus Scheren, Beinen und einem Stachel am Schwanz. Ehe es mich noch einmal erwischen konnte, schwamm ich parallel zum Strand davon, so schnell ich konnte.
„Luana!"
Gegen das grelle Sonnenlicht blinzelnd und noch immer hustend blickte ich mich um. Etwas weiter draußen auf einem Felsen winkte mir jemand mit beiden Armen zu.
Pablo und Himaya griffen mir unsanft unter die Arme und zogen mich aus dem Wasser. Himyaya fluchte „Was ist mit deinem Gesicht passiert?!"
„Skorpion." Meine Stimme war so mitgenommen, man konnte mich kaum hören. Ich rieb mir unsanft Wasser und Blut aus den Augen und versuchte aus der Situation schlau zu werden. Nicky, Himaya und Pablo schienen unverletzt zu sein – verstört und verängstigt, aber unverletzt. Dasselbe konnte man nicht über Sophie sagen. Sie hatte sich auf dem Felsen zusammengerollt, und presste einen Arm gegen den Oberkörper. Der Arm war in nassen, blutgetränkten Stoff eingewickelt, der sich als Nickys Oberteil herausstellte. Sie musste es sich vom Leib gerissen haben, um Sophie zu helfen.
„Sophie?", fragte ich sanft, doch sie antwortete nicht. „Was ist mit ihr?"
„Sie hat eine sehr, sehr tiefe Wunde im Arm", erklärte Nicky besorgt und strich Sophie die nassen Haare aus dem aschfahlen Gesicht. „Eine Kralle muss sie übel erwischt haben."
Ich schluckte. „Kann ich mal sehen?"
Nicky schüttelte vehement den Kopf. „Sie muss unbedingt weiter den Stoff draufdrücken. Und sobald wir wieder am Strand sind, muss ich das nähen."
Bei der bloßen Vorstellung eine ernsthafte Wunde mit unserer mehr oder weniger improvisierten Ausrüstung zu nähen, drehte sich mir der Magen um.
Eine Minute lang herrschte Schweigen. Alle blickten zum Strand, wo das Monster nicht mehr zu sehen war. Allerdings gab es auch kein Zeichen von Kemen, Diego, Nastya und Yin. Einen von ihnen würden wir nicht lebendig wiedersehen. Ich wagte nicht zu fragen, ob die anderen wussten, wen.
„Lasst uns zurück", sagte Himaya schließlich.
Sophie konnte nicht allein schwimmen und wir mussten ihr helfen. Das Wasser brannte mit jeder Welle, die meine Wange traf höllisch in dem Schnitt den der Skorpion hinterlassen hatte. Ich wollte mir nicht mal vorstellen, wie groß Sophies Schmerzen waren. Als wir seichtes Wasser erreichten, wirkte sie völlig blutleer.
Unsere Rucksäcke lagen herrenlos im Sand. Ich kniff die Augen fest zu und wappnete mich für den Anblick, der auf mich wartete. Irgendjemand erbrach sich in den Sand.
Ich öffnete die Augen.
Was ich sah, war nicht mehr als Mensch zu erkennen. Eine blutige Masse, ekelhaft schimmernd in der Sonne. Hier und da konnte man blutgetränkte Kleidungsfetzen erkennen, hier und da stach ein Knochen hervor. Es war mir so völlig unbegreiflich, was ich sah, dass es eine geschlagene Minute dauerte, bis ich erkannte, wen ich da vor mir hatte. Es war Yin.
Von diesem Punkt an gab es auch für mich kein Halten mir, ich konnte mich gerade noch so wegdrehen, ehe mein Mageninhalt im Sand landete. Keuchend würgte ich Meerwasser und Magensäure hoch, und dann würgte ich trocken weiter, schnappte nach Luft und stützte mich auf Händen und Knien ab. Dunkle Punkte tanzten mir vor den Augen.
„Luana. Trink das." Nicky hielt mir eine der metallenen Wasserflaschen unter die Nase. Ich setzte mich hin, kickte Sand über die Pfütze aus Erbrochenem und gehorchte ihr. Sie wirkte fahrig in ihren Bewegungen, blass und ihre Augen hatten einen unergründlichen Ausdruck.
„Wo ist Kemen? Ich brauche Kemen", murmelte sie.
„Kemen?", fragte ich schwach. „Wieso?"
„Er hat die Schmerztabletten", antwortete Himaya, nachdem sie einen Mundvoll Wasser in den Sand gespuckt hatte.
Gänsehaut kroch mir über die Arme und Nickys Worte über Sophies Verletzung echoten in meinen Ohren. Sophie saß völlig apathisch im Sand und ich war mir nicht sicher, ob sie uns zuhörte.
„Haben wir Zeit, Kemen zu suchen? Oder auf ihn zu warten?", fragte ich leise an Nicky gerichtet.
Sie presste die Lippen fest aufeinander und zögerte, bevor sie den Kopf schüttelte.
„Sollen wir versuchen ihn zu rufen?", fragte Himaya unbehaglich. Der Strand schien verwaist zu sein, aber auch ohne Yins verstümmelten Körper wäre Rufen zu riskant.
„Es muss jetzt auch so gehen." Nicky straffte die Schultern, als würde sie sich wappnen. Sie fing meinen Blick auf und nickte zu Pablo hinüber, der sich hingesetzt und den Kopf zwischen die Knie gesteckt hatte. Ich ließ Sophie nur ungern aus den Augen, hockte mich aber trotzdem vor Pablo hin und legte eine Hand auf seinen Arm. Er zitterte merklich unter der Berührung.
„Pablo", sagte ich so sanft, wie ich es aufbringen konnte. „Wir brauchen dich jetzt. Okay?"
Er hob ein Stück den Kopf und ich erhaschte einen Blick auf sein tränenüberströmtes Gesicht. Er atmete hastig und rasselnd, schluckte heftig und krümmte sich in sich selbst zusammen. Ich hätte ihn gern getröstet, aber wie hätte ich das anstellen sollen? Ich glaubte nicht, dass es Worte gab, die diese Situation hätten besser machen können.
„Bitte, Pablo, du musst uns helfen", flehte ich.
„Ich will ... keine Scheiterhaufen mehr", schniefte er und vergrub sein Gesicht wieder in seinen Armen.
Hilfesuchend blickte ich hoch zu Himaya.
„Pablo", sagte sie mit Härte, „es geht um Sophie. Nimm deine verdammte Waffe und gib uns Deckung."
Er tauchte wieder aus seinem Versteck auf und blinzelte sich angestrengt Tränen aus den Augen. Himaya ließ unversöhnlich die Axt neben Pablo in den Sand plumpsen und wandte sich wieder zu den anderen beiden um. Nicky hatte eine winzige Flasche Desinfektionsmittel in der einen und eine große Knochennadel mit einem groben Faden in der anderen. Und sie wirkte alles andere als zufrieden damit.
Hinter uns kämpfte sich Kemen auf die Füße und blickte mir über die Schulter auf eine kreideweiße Sophie mit ihrem improvisierten und blutgetränkten Verband. Pablo räusperte sich, als müsste er ein Würgen damit kaschieren und drehte sich weg, um nach Gefahren Ausschau zu halten.
Die ganze Zeit war mir die Anwesenheit von Yins zerfleischtem Körper mehr als bewusst.
„Ihr beide", sagte Nicky. „Haltet sie fest."
Himaya und ich tauschten einen Blick, dann taten wir, was verlangt wurde. Was nötig war. Ich setzte mich hinter Sophie, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und presste sie an mich. Himaya saß auf Sophies Beinen, um sie irgendwie zu fixieren und daran zu hindern, Nicky zu treten. Und dann begann Nicky mit einem tiefen Seufzen, die Stoffbinde von Sophies Arm zu lösen. Das Blut hatte bereits zu gerinnen angefangen und der Stoff klebte stellenweise in der tiefen Schlucht, die die Kralle des Therizinosaurus in Sophies Arm hinterlassen hatte. Mir drehte sich der Magen um, als Nicky den Verband endlich losbekam und die Wunde frei lag. Dunkles Blut sickerte über die helle Haut, Sehnen und Adern schauten hervor und ich glaubte unter alledem sogar den Knochen erkennen zu können. Ich verbarg mein Gesicht in Sophies blondem Haar und kniff die Augen fest zu, doch der Blutgeruch hing überall in der Luft und an unseren Körpern und verfolgte mich. Krampfhaft schluckte ich die Magensäure, die mir hochkam und zwang mich, die Augen wieder zu öffnen. Wie durch einen Nebel drang Nickys Stimme zu mir. Sie erklärte Sophie, was gleich passieren musste, dass es wehtun würde und wie leid ihr das tat. Sophie reagierte überhaupt nicht.
Das änderte sich allerdings schlagartig, als Nicky vorsichtig die Nadel durch ihre Haut stach. Sophies ganzer Körper spannte sich an und auch durch fest zusammengebissene Zähne konnte sie einen grunzenden Schmerzenslaut nicht unterdrücken.
„Luana, sie muss stillhalten!", zischte Nicky angestrengt.
Pablo brachte Sophie ein Stück Treibholz zum Draufbeißen, damit sie nicht schrie.
Als Nicky die Nadel auf der anderen Seite der Wunde erneut in Sophies Haut stach und dann den Faden durch die entstandenen Löcher zog, konnte ich nicht mehr hinsehen. Ich versuchte mich auf Sophies Gesicht zu konzentrieren, aber viel besser war das auch nicht. Sie war leichenblass, ihre Augen waren glasig und huschten panisch hin und her, ohne an etwas oder jemandem hängen zu bleiben.
Nicky stand der Schweiß auf der Stirn. Ihre Hände waren glitschig von Sophies Blut und immer mal wieder musste sie sie an ihrer Hose abwischen.
„Pablo", sagte sie irgendwann mit vor Erschöpfung rauer Stimme, „gib mir dein Shirt. Ich muss tupfen."
Pablo zog sich sein Hemd über den Kopf und beeilte sich, es Nicky anzureichen. Mein Blick fiel auf die knorrige Narbe an Pablos Bauch, die ihm von dem Angriff des Riesenskorpions geblieben war. Der Stich selbst war nicht allzu schlimm gewesen, aber ohne richtiges medizinisches Equipment war die Heilung langsam und schwerfällig vonstattengegangen, was zu einer blassen und garantiert schmerzhaften Narbe geführt hatte. So wie Sophies Arm jetzt gerade aussah, wollte ich mir nicht die Narbe vorstellen, mit der sie zurückbleiben würde. Aber solange sie nur überlebte, war es das mehr als wert.
Das winzige Fläschchen mit Desinfektionsmittel ging schnell zur Neige und Sophies Widerstand schwand Minute um Minute mehr. Die Anspannung wich aus ihren Muskeln bis ihr sogar das Treibholz aus dem Mund fiel und sie mit halb geschlossenen Augen in meinen Armen lag.
„Nicky, was ist mit ihr?" Meine Stimme konnte nicht verbergen, wie nah ich den Tränen war.
„Schock", entgegnete Nicky einsilbig. Die Wunde war ein bisschen über die Hälfte genäht.
Eine Bewegung zu meiner Linken ließ mich aufschauen: Pablo hatte die Axt gehoben und starrte in Richtung des Waldrands.
„Leute, da bewegt sich was", verkündete er nervös.
Himaya stand stolpernd auf und hob einen Speer aus dem Sand auf. Ich musste mich komplett von Sophie abwenden, um einen Teil des Waldrands sehen zu können, was nicht viel brachte. Die Spannung wuchs, bis ich das Rascheln in der Böschung hören konnte und dann ließ sie schlagartig nach.
„Diego."
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