Kapitel 33 - Gift
Je besser das Leuchtfeuer, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es genau das beinhaltet, was ihr gerade benötigt.
„Wer ist das?", flüsterte Sophie.
Wir waren hinter einem Baumstamm in Deckung gegangen und beobachteten, wie das Mädchen sich der Sonde näherte. Wir waren uns jedenfalls relativ sicher, dass es ein Mädchen war, wegen der langen Haare.
„Die Mädchen von Orange, Gelb und Grün sind tot, außer Nastya", antwortete Diego leise. „Aber keiner weiß, was mit dem pinken Stamm passiert ist."
Ich erinnerte mich ungern an unsere Begegnung mit dem pinken Stamm zurück. Wir hatten ihnen einen Waffenstillstand angeboten und dafür hatten sie Priscilla umgebracht. Tim hatte einem der Mädchen den Arm gebrochen, was auf der ARK durchaus ein Todesurteil sein konnte, doch das andere Mädchen war unverletzt davongekommen. Ich konnte mich nicht mehr an ihren Namen erinnern, aber Sophie hatte ihn nicht vergessen.
„Savannah", murmelte sie. „Glaubt ihr, sie ist es?"
Ehe noch einer von uns antworten konnte, zerriss ein hoher Schrei die Luft und das Mädchen – es war definitiv ein Mädchen – begann im Wasser panisch um sich zu schlagen. Sie war nur noch eine Armlänge von der Sonde entfernt, schien aber ihr Ziel aus den Augen verloren zu haben. Gurgelnd schrie sie immer wieder auf und versuchte sich an Land zu retten.
„Wir müssen ihr helfen!"
„Halt!" Ich packte Sophie am Hosenbund. „Weißt du nicht mehr, was sie getan hat?"
Sie riss sich los. „Wir wissen nicht mal, ob das da Savannah ist oder nicht."
Ich war nicht erfreut über diese Situation, doch auch ich wollte niemanden einfach so seinem Schicksal überlassen. Wir ließen unsere Deckung hinter uns und rannten so weit ins Wasser, wie wir uns trauten. Dann befestigte Diego einen großen Karabinerhaken an einem Seil und reichte es Kemen, damit er es zu dem Mädchen werfen konnte.
„Hey!", rief Kemen. „Hier rüber!"
Er warf das Seil und der Haken platschte etwa einen Meter entfernt von dem Mädchen ins Wasser. Sie tauchte sofort unter und das Wasser wurde still.
„Was passiert da unten?"
Wir alle hielten das Seil in beiden Händen, die Waffen waren leichtsinnig woanders verstaut und wir warteten. Ich wollte schon aufgeben und loslassen, als endlich Zug aufs Seil kam.
„Ziehen!"
Die Sonde zerfiel zu rostigem Staub und ich war kurz blind in der plötzlichen Abwesenheit des grellen gelben Lichts. Dann allerdings gewöhnten sich meine Augen an das Licht des Morgengrauens und ich konnte die Blutwolke im Wasser erkennen, in der es nur so wimmelte vor Fischen. Es waren ein paar der riesigen Piranhas dabei, sie bewegten sich im Wasser umher wie Schatten, doch auch andere Fische, die ich nicht kannte, folgten dem Blut.
Es war wirklich Savannah, ihr pinkes Implantat leuchtete und ich erkannte ihre hellen, rötlichen Haare. Kemen und ich hievten sie aus dem Wasser ans Ufer, wo wir erst richtig sehen konnten, was mit ihr passiert war. Überall an ihrem Körper hatten sich diese anderen Fische festgebissen. Sie waren länglich und schienen das Blut zu verdünnen, denn Savannahs Körper war vollkommen blutüberströmt. Ich riss eines der Viecher von ihr los und sie schrie auf vor Schmerz. Der Fisch hatte ein dunkles Loch in ihrer Haut hinterlassen aus dem das Blut nur so heraussprudelte.
„Was sollen wir machen?", fragte Sophie panisch. „Was sind das für Viecher?"
„Wieso fragst du uns das?", entgegnete Kemen, nicht weniger in Panik, „du bist die, die immer alles kennt!"
„Ich hab keine Ahnung von Fischen!"
„Hört auf zu streiten, sie verblutet!" Diego drückte beide Hände auf das Loch in Savannahs Bein, wo ich den Fisch rausgerissen hatte, und hellrotes Blut strömte zwischen seinen Fingern hervor. Es gab noch mindestens zehn andere Fische, die sich an ihr festgebissen hatten.
„Okay, okay, okay", sagte Kemen und ließ nervös die Hände über Savannahs Körper schweben, ohne etwas zu tun.
„Wir müssen sie zurückbringen", sagte Sophie entschlossen. „Sonst hat sie keine Chance."
„Zurück?", fragte ich, „zu unserer Basis?"
„Ja natürlich zu unserer Basis, wohin denn sonst?", schnappte sie. „Nicky kann das nähen und wir können eine bessere Art finden, die Viecher von ihr abzukriegen."
„Wie sollen wir sie zurücktransportieren?", fragte Kemen. „Sie sieht nicht aus, als könnte sie laufen."
Savannahs Augen waren halb geschlossen und sie wälzte sich vor Schmerzen im Uferschlamm. Sophie beugte sich über sie und sagte ihren Namen, doch es brachte nichts. Dann, völlig unerwartet, holte sie aus und gab Savannah ein paar kräftige Ohrfeigen und das schien Wirkung zu zeigen.
„Wir wollen dir helfen!", sagte Sophie laut, „Aber dafür musst du aufstehen, okay? Los!"
Kemen und Sophie stützten Savannah und sie schaffte zehn Schritte, ehe sie beim Laufen beinahe gar nicht mehr half und die beiden sie zum Rand des Dschungels zerrten.
„Du weißt, sie würde nicht dasselbe für dich tun, oder?", fragte ich an Sophie gerichtet.
„Ich weiß", antwortete sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Aber das sagt mehr über sie aus, als über mich."
Sie zogen und schoben den blutüberströmten Körper von Savannah durch den aufwachenden Dschungel. Insekten begannen zu summen und immer wieder mussten wir nach Moskitos schlagen, die vom Geruch des Blutes angezogen wurden. Als wir es endlich geschafft hatten, grenzte es an ein Wunder, dass Savannah noch lebte.
Hektisch wuselten alle durcheinander, stellten Fragen, wurden hin und her geschickt. Nicky warf sich über Savannah, zog ihre Nadeln aus Knochensplittern aus der kleinen Tasche, die sie in ihren Stiefel genäht hatte und verlangte nach Wasser.
Wir wollten Savannah zu Trinken geben, aber sie war so ins Delirium abgedriftet, dass sie nichts davon schluckte.
„Können wir ihr helfen?", fragte Sophie, ihre Haut vom Schweiß glänzend, ihr ganzes Gesicht tomatenrot von der Anstrengung, Savannah zur Basis zu bringen.
„Ihr Herz schlägt viel zu langsam", murmelte Kemen. „Was immer das für Viecher sind, ich glaube, sie sind giftig."
Nicky spülte die Wunde aus, die der herausgerissene Fisch hinterlassen hatte und etwas Glibberiges, Schwarzes floss daraus hervor, hinterließ eine rote Spur auf Savannahs Bein und kullerte in den Sand.
„Was war das?", fragen Yin und ich gleichzeitig und beklommen.
Nicky nahm eine Muschel aus dem Sand und stieß das schleimige Etwas an. „Das ist ihr Blut."
„WAS?!"
„Ich kenne das, in Australien haben wir Tigerottern, die genauso ein Gift haben. Es lässt das Blut gerinnen." Sie richtete sich auf. „Tut mir leid, selbst mit Gegengift könnte man nichts mehr für sie tun."
„Nicky?", schniefte Sophie. „Wir ... warten wir jetzt einfach, bis sie stirbt?"
Nicky zog Sophie in eine Umarmung. „Es tut mir leid, ich weiß auch nicht weiter."
Sophie zog die Nase hoch. „Gib mir mein Buch."
„Dein –"
Sie stürmte in die Hütte und durchwühlte die Sachen, bis sie ein Notizbuch in den Händen hatte. Hektisch blätterte sie es durch und entfernte sich dabei ein paar Schritte von Savannahs Körper.
„Warum interessiert sie dich so sehr?", rief Nastya uns hinterher.
Sophie blickte nicht auf, doch ich sah eine Träne von ihrer Nasenspitze tropfen. „Sie ist ein Mensch", sagte sie. „Sie wollte nur leben."
Noch während Sophies Finger zitternd durch die Seiten blätterten hörte Savannah auf, sich zu krümmen. Ihre Lider flatterten nicht mehr und sie wurde still, bis auf ein paar geisterhafte Zuckungen.
Sophie schniefte laut und hielt inne, die roten Augen auf eine Stelle im Notizbuch gerichtet. Ich hob eine Hand, um ihr das Buch wegzunehmen, aber Nicky schüttelte den Kopf.
„Säbelzahn-Lachs." Sophies Stimme hörte sich fremdartig an, heiser und verschnupft. „Sie haben enorme Kraft, mit der sie sich an ihren Opfern festbeißen und sind vielleicht die giftigsten Geschöpfe auf der ARK. Ob es wohl ein Gegenmittel gibt?" Sie blickte auf. „Wenn sie es schon so formulieren, dann gibt es eins! Wie kommen wir da ran?"
„Sophie", sagte Nicky sanft und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Es ist zu spät. Sie ist tot."
Sophies Blick senkte sich auf Savannahs grotesken Körper hinab und jegliche Kraft, die sie dazu befähigt hatte, Savannah durch den Dschungel bis hierher zu schleppen, verließ sie mit einem Schlag. Langsam ging sie in die Knie und ließ sich in den Sand plumpsen.
Auch ich begann den Schmerz in meinen Beinen zu fühlen, blieb aber stehen und musterte Savannahs leblosen Körper. Blut, Wasser und Sand hatten ihre Haare zu dunklen Strähnen verfilzt, von ihrer blassen Haut war unter dem vielen Blut kaum etwas zu erkennen. Die Fische, die sich an ihr festgebissen hatten, zuckten ekelhaft hin und her, ehe sich einer nach dem anderen löste, um im Sand zu verenden. Jeder von ihnen hinterließ eine gerötete runde Stelle auf der Haut, umrandet von mehreren kleinen Löchern, in die sie ihre Zähne gebohrt hatten. Davon abgesehen war Savannah mager und unterernährt, hatte tiefe dunkle Schatten unter den Augen und unzählige Narben, halb verheilte Schnitte und Kratzer auf Armen und Beinen.
„Das hat keiner verdient", sagte ich leise, wurde jedoch von Yin übertönt, die vom Hüttendach sprang und eine weitere gelbe Versorgungssonde ankündigte. Wer zuvor nicht mit uns durch den Dschungel gerannt war, griff sich jetzt eine Waffe und rannte los Richtung Nordwesten, Yin vorneweg. Ich zwang Sophie nach ein paar erfolglosen Versuchen dazu, Wasser zu trinken und ein paar Beeren zu essen. Danach trugen wir mit der Hilfe von Pablo und Kemen Savannahs Körper nach unten zum Meer, um das Blut abzuwaschen.
Dann ging es wieder an die grausige Aufgabe, einen Scheiterhaufen zu errichten. Pablo zeichnete mit einem Stock die Umrisse in den Sand und wies uns an, Holz zu sammeln. Wir waren dafür ein paar hundert Meter von der Basis weggegangen, in der Hoffnung so den Gerüchen zu entkommen, da wir noch nicht bereit waren, weiterzuziehen. Nastya war natürlich der Ansicht, wir sollten „die Leiche" einfach ins Meer werfen, aber niemand schenkte ihr Beachtung.
Die andere Gruppe kehrte mit undefinierbaren Gesichtern zurück.
„Habt ihr es nicht geschafft?", fragte Diego besorgt.
„Doch", entgegnete Yin mit einem Zittern in der Stimme. Sie bebte vor Wut. „Es war sogar einfach! Kein Klettern, kein Tauchen, keine Fleischfresser. Nichts!"
Alle sammelten sich um die Gruppe und lauschten. „Als würden sie uns verspotten", sagte Himaya und schüttelte sich.
Sophie und ich warfen uns Blicke zu. „Wie meint ihr das?"
Himaya zog einen Gegenstand aus der ausgebeulten Tasche ihrer Cargohose und hielt ihn hoch. Sonnenlicht brach sich in den geschwungenen Kurven der dunklen Glasflasche, auf deren Etikett die unverwechselbare Silhouette eines Säbelzahn-Lachses abgebildet war.
„Nein", sagte Sophie tonlos. „Das ist nicht, das ich denke, oder?"
„Es ist genau das, was du denkst." Auch Nicky schien erschüttert von dieser Grausamkeit. „Das Gegengift."
Sophie drehte sich wortlos um und begann weiter Holz zu sammeln.
„Falls ihr es noch nicht wusstet", meldete sich Nastya zu Wort, „wir werden beobachtet. Egal, was wir machen, vierundzwanzig Stunden lang. Die wollen sehen, wie wir auf Sachen reagieren."
Sophie hatte diesen Gedanken auch schon mal geäußert, ganz am Anfang. Dass all das hier, die ARK, die Dinosaurier, alles, zu einer Art Fernsehshow gehörte. Mein Einwand war gewesen, dass in solchen Shows niemand starb, die Todesfallen auf der ARK aber durchaus real waren. Wir hatten es jetzt schon oft genug mit angesehen. Es schien mir ein Totschlagargument zu sein, niemand würde zusehen wollen, wie wir einer nach dem anderen auf grauenerregende Weise getötet wurden – jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher.
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