Kapitel 31 - Cnidaria
Die Ozeane beherbergen unzählige Gefahren. Überschätze nicht deine Fähigkeiten.
Die pinke Basis lag verlassen im Sonnenuntergang, wie wir es schon nicht mehr anders erwartet hatten. Blicke tauschend und hin und wieder Worte flüsternd näherten wir uns der Hütte vorsichtig.
Unsere eigene Basis im Morgengrauen zurückzulassen, hatte sich eigenartig angefühlt. Bisher hatten wir immer geplant gehabt, wieder dorthin zurückzugehen, dieses Mal war der Abschied für immer. Wir würden entweder auf dem blauen Turm um unser Überleben kämpfen oder wir würden auf dem Weg dorthin sterben. Ich hätte gerne gewusst, der wievielte Tag auf der Insel das hier war, aber das Feuer hatte Yins sorgfältige Kohlestriche an der Hüttenwand fast gänzlich verschlungen und nur schwarze Asche übriggelassen.
„Ich frage mich, was mit denen passiert ist", sinnierte Himaya und rückte die Rucksackträger auf ihren Schultern zurecht.
„Vielleicht finden wir es gleich raus", entgegnete Nastya mit ihrer rauen Stimme und nickte mit dem Kinn in Richtung der Hüttentür. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie einen spaltbreit offenstand.
Wir sammelten uns vor der Tür und niemand schien besonders erpicht darauf, den ersten Schritt in die Hütte zu machen.
„Wo ist das Problem?", fragte Nastya irgendwann.
„Was, wenn sie tot sind?", flüsterte Yin.
Nastya schnaubte verächtlich. „Warum sollten sie alle tot in der Hütte sein? Ah, fuck this." Sie machte eine schnelle Bewegung mit ihren Händen, es ertönte ein Übelkeit erregendes Knacken und im nächsten Moment ließ sie ihre Fesseln in den Sand fallen, zog Sophie ihren Speer aus den Händen und stieß damit die Tür auf, während wir wie vom Donner gerührt dastanden.
„Da ist so ein ... Viech drin", verkündete Nastya wenig später und trieb ein kleines Tier mit der Speerspitze vor sich her zur Hüttentür.
„Tu ihm nichts!" Sophies Prioritäten waren eindeutig verschoben. „Das ist ein Lystrosaurus. Die sind harmlos."
Der Dino hatte vier kurze Stummelbeine, einen flachen Körper und ein breites Maul mit nach unten gezogenen Mundwinkeln, sodass es so aussah, als wäre er über seine Behandlung überaus unerfreut.
„Woher zur Hölle kennst du diese ganzen Viecher?", fragte Nastya, die sich als einzige noch über Sophies schier unermessliches Dinosaurierwissen wunderte.
Sophie hob die Schultern und wurde ein bisschen rot im Gesicht. „Es steht viel in dem Notizbuch."
Aber das war nicht die ganze Geschichte. Und dass sie Nastya nicht mehr erzählen wollte, befriedigte mich ziemlich. Ich wusste nämlich ganz genau, woher sie all das wusste. Sie hatte fast jeden Tag mit ihren Geschwistern Dokus im Fernsehen geguckt, über Tiere und meistens über ausgestorbene Tiere. Oft reichte ihr ein Blick, um sofort einen Namen zuzuordnen und ob die Dinos uns gefährlich werden konnten. Aber all das war für sie ein intimes Detail ihres Lebens und sie hatte es mir im Vertrauen erzählt.
Während alle ihre Sachen in die Hütte brachten, hielt ich Sophie zurück.
„Sie hätte das die ganze Zeit machen können", sagte ich mit einem Blick auf Nastyas am Boden liegende Fesseln.
„Hat sie aber nicht", entgegnete Sophie kalt und riss sich los.
***
Ich bohrte gerade eine Stabfackel tief in den sandigen Boden, als Diego auf dem Hüttendach plötzlich aufsprang. Meine Hand hatte die Fackel gegen einen Messergriff getauscht, ehe ich überhaupt darüber nachdenken konnte. Das war das erste Mal: Ich fing an, mich selber zu verabscheuen, aber dafür hatten wir keine Zeit.
„Ein Strahl!", verkündete Diego. „Er ist gelb!"
Der Strahl war gerade am Himmel erschienen und die Lichtkugel bewegte sich abwärts, viel schneller, als wir es bisher gesehen hatten. Und er war nicht einmal an Land, nein, er befand sich draußen im Meer, vielleicht wieder auf einer Sandbank. Aber es war inzwischen zu dunkel, um Genaueres erkennen zu können.
„Schnell!", rief Nastya, „nicht zögern! Wenn ihr ihn wollt, dann müsst ihr jetzt los!"
Sophie zog sich ihr Oberteil über den Kopf und stolperte, als sie ihre Hose abtreifte, dann rannte sie los. Ich wollte ihr hinterher, aber Kemen hielt mich auf. „Ich mach das."
„Pass auf sie auf", flüsterte ich und er nickte grimmig.
Er holte sie am Strand ein, doch sie schwamm schneller als er. Vom Strand aus beobachteten wir alle, wie sie im dunklen Wasser verschwanden. Und dann war das Wasser gar nicht mehr so dunkel. Überall tauchten nach und nach grünlich leuchtende Punkte auf, die sich unter der Oberfläche bewegten. Da unsere Expertin gerade selbst im Wasser von diesen Punkten umgeben war, holte Yin ihr Notizbuch heraus und schlug hektisch nach. „Cnidaria", sagte sie dann, langsam. „Glaube ich. Riesenquallen."
Ehe ich wusste, was ich tat, riss ich ihr das Buch aus der Hand, doch wirklich hilfreich waren die Informationen nicht. „Cnidaria ist eine Riesenqualle mit außergewöhnlicher Biolumineszenz. Nimm dich in Acht vor ihren Tentakeln." Ich ließ das Buch sinken und starrte aufs Meer hinaus, wo ich Sophie und Kemen längst nicht mehr zwischen den leuchtenden Punkten ausfindig machen konnte. Waren die Quallen giftig wie Feuerquallen? Schlimmer? Vielleicht sogar tödlich?
„Es gibt immer irgendwas richtig Gefährliches bei gelben und roten Strahlen", sagte Nastya, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Auch sie suchte das dunkle Wasser zwischen den Quallen mit den Augen ab. „Kannst davon ausgehen, dass mit den Viechern nicht zu spaßen ist."
Niemand reagierte. Meine Fingernägel hinterließen kleine Halbmonde auf den Buchseiten, so fest umklammerte ich es. Die Lichtkugel erreichte die Wasseroberfläche und tauchte ein, schraubte sich weiter abwärts. Und dann, es können nur ein paar Minuten vergangen sein, erlosch sie und der gelbe Strahl verschwand und hinterließ einen brennenden Streifen in meine Netzhaut eingebrannt.
„Glaubt ihr, sie haben es geschafft?", fragte Diego beklommen.
Ich schluckte. „Wir müssen die Fackeln anmachen."
Nastya war die einzige, die mich nicht perplex anschaute, sondern auf mich hörte und mir half. Ich konnte nicht mehr dastehen und warten und mir vorstellen, dass Sophie vielleicht nicht zurückkam. Es ging nicht.
„Sei nicht dumm." Nastya packte mich am Arm, sodass die Fackel in meiner Hand zitterte.
„Lass. Mich."
Und sie ließ mich. Ich musste einfach runter zum Wasser, ich stellte mich in die Brandung, die Wellen leckten um meine Knie, meine Zehen gruben sich in den Sand und ich wartete. Hielt die Fackel hoch, damit sie sehen konnten, wohin sie schwimmen mussten. Und dann begannen die Schreie.
Gurgelnd und unheimlich trieben sie mit den Wellen zu uns an den Strand. Es wurde mit jeder Minute dunkler, das Leuchten der Quallen setzte sich unwirklich von dem schwarzen Meerwasser ab.
Manchmal glaubte ich, einen Kopf erkennen zu können, aber dann war er in der nächsten Sekunde verschwunden. Ich wollte mich ins Wasser stürzen und Sophie finden, sie an Land zerren, aber es war zwecklos. Ich würde sie niemals finden.
„Luana." Es war Nastya. „Bist du bereit?"
Verständnislos schwenkte mein Blick zu ihr und als ich sie nur schemenhaft ausmachen konnte, wurde mir erst klar, dass ich weinte. Sie hielt etwas Grünes in den Händen, das wie eine klobige Pistole aussah.
„Das ist eine Signalpistole", erklärte sie. „Haben wir aus einer der Sonden. Ich werd sie abschießen und du holst die beiden da raus."
Grimmig steckte ich die Fackel in den Sand, zog die nötigsten Klamotten aus und verkrallte meine Finger um den Griff meines Messers. Nastya watete noch ein Stück weiter ins Meer, bis das Wasser ihre mageren Hüften umspielte, dann streckte sie den Arm gen Himmel. Ein Zischen ertönte und eine grellpinke Lichtkugel schoss nach oben und tauchte die Welt in unwirkliches Licht.
Ich musste die Augen zukneifen und sah Sterne. Als der nächste gurgelnde Schrei ertönte, suchte ich so schnell ich konnte die Oberfläche ab und dann gab es kein Halten mehr.
Es war nicht weit. Kemen trieb neben einem Felsen im Wasser, den er gerade so nicht erreichen konnte, eine leuchtende Qualle neben ihm und weitere unverkennbar auf dem Weg. Ich schrie, um meine Angst unter Kontrolle zu kommen und rammte das Messer direkt in den glibberigen Schirm der Qualle.
„Schneid es ab!", bat Kemen mich gequält und zog angestrengt seinen Arm aus dem Wasser. Ein langer Tentakel war um ihn gewickelt. Es war nicht schwer, den Tentakel vom Rest der Qualle zu trennen, aber das tote Stück von Kemens Arm zu kriegen, stellte sich als unmöglich heraus.
„Wo ist Sophie?", fragte ich außer Atem.
Seine Gesichtszüge entgleisten kurz, ehe er ohne ein weiteres Wort tief Luft holte und untertauchte.
Sie war leicht zu erkennen, im Licht der riesigen Qualle neben ihr. Der Schirm der Qualle von eben hatte vielleicht dreißig Zentimeter im Durchmesser, diese hier sah doppelt so groß aus. Sophie schien bewusstlos zu sein, ein breiter Tentakel war um ihren Bauch gewickelt, ein weiterer um ihren Hals. Eine geisterhafte Krone aus langem blondem Haar trieb um ihren Kopf herum. Kemen war trotz aller Anstrengungen als erster bei ihr, hob ihren Kopf an und drückte seinen Mund auf ihren. Es dauerte ein paar schmerzhafte Sekunden, bis mir klar wurde, dass er sie beatmete und versuchte, sie am Leben zu erhalten.
Ohne weiter zu zögern rammte ich mein Messer in den Schirm der Qualle, die unkontrolliert zu zucken begann. Immer und immer wieder stach ich in ihr ekelhaftes Fleisch, bis sie flackernd erlosch. Sophie rührte sich nicht, auch nicht, als ich sie losschnitt und an mich zog. Auch an der Wasseroberfläche kam kein erleichterter Atemzug oder auch nur das Flattern eines Augenlids. Kemen half mir, sie zum Strand zu bringen, obwohl er mehr als nur ein bisschen erschöpft war.
„Was ist passiert?"
„Was ist das da um ihren Hals?"
„Ist sie tot?"
Kemen blieb einfach im Sand liegen, die Wange am Boden, die Augen geschlossen. Eilig stieg ich über ihn hinweg zu Sophie. Nur mit Gewalt konnten Himaya, Pablo und ich den Tentakel von ihrem Bauch ziehen. Ich kannte keine Quallenart, die Saugnäpfe an ihren Tentakeln hatte, aber diese hier hatte sie. Sie hinterließen rote Ringe auf Sophies heller Haut, in denen sich winzige Blutströpfchen sammelten. Mit dem Exemplar um Sophies Hals mussten wir vorsichtiger sein, wir schnitten Millimeter um Millimeter von dem teuflischen Ding ab, bis sich Sophies Atmung normaler anfühlte.
„Können wir sie wecken?" Meine Stimme war ungewohnt kratzig und zittrig.
Himaya warf einigen anderen Blicke zu. „Versuchen wir's."
Ich rüttelte sie wach, sagte ihren Namen immer lauter, wir klatschten ihr Wasser ins Gesicht, aber am Ende war es Himayas saftige Ohrfeige, die Sophies Augenlider flattern ließ. Ich war das erste, was sie sah und es war offensichtlich, wie wenig sie mich einordnen konnte. Wach, aber nicht richtig anwesend. Es war mir egal. Schluchzend fiel ich ihr um den Hals und murmelte irgendetwas vor mich hin, ich konnte mich später nicht mehr daran erinnern, was es war. Sie schaffte es, kurz meine Hand zu streicheln, ehe ihr Körper schlaff wurde und sie wieder einschlief.
Wir trugen sie in eins der Betten und setzten uns dann draußen ums Feuer, um uns anzuhören, was Kemen zu sagen hatte.
„Sie sind aufgetaucht, als es dunkel wurde", begann er und nahm einen Schluck Wasser aus seinem Trinkschlauch. „Wenn die Tentakel dich einmal haben, kriegst du sie so schnell nicht wieder ab. Ich glaube, sie saugen damit Blut." Er hielt seinen Arm näher ans Feuer und zeigte uns die roten Ringe auf seiner Haut.
„Eklig", murmelte Yin angewidert.
„Was war in dem Strahl?", fragte Nastya unsensibel. „Habt ihr es geschafft?"
Kemen nickte und zog den Rucksack zu sich heran, den er mitgenommen hatte. Darin waren ein Paar gefütterte Lederstiefel mit passenden, durchnässten Wollsocken und –
„Eine Pistole?"
Mattschwarzes Metall plumpste in den Sand. Bevor ich auch nur einen Finger rühren konnte, hatte die Waffe ihren Weg in Nastyas Hände gefunden und sie spielte damit herum. „Geladen", verkündete sie und quittierte unsere erschrockenen Gesichter mit einem schiefen Grinsen. „Keine Sorge, ich geb sie zurück." Sie leckte sich die Lippen. „Aber wenn keiner von euch überhaupt damit umgehen kann..."
„Behältst du sie trotzdem nicht", schnappte Kemen.
„Dann lern lieber schnell, wie man die benutzt." Nastya lehnte sich ganz entspannt zurück, beobachtete Kemen aber wie eine Raubkatze auf der Pirsch. Ihr Blick flackerte einmal zu den Socken und Schuhen. „Denn die wissen, was wir vorhaben und sie wollen es sehen."
Ich hielt Feuerwache, damit ich dabei sein konnte, wenn Sophie wieder wach wurde, oder sich ihr Zustand verschlechterte. Sie schien ganz ruhig zu schlafen, aber die tiefroten Abdrücke der Tentakel um ihren Hals machten mir Sorgen. Ich wollte gerade Nicky wecken, weil ich mich nicht länger wachhalten konnte, als Sophie sich rührte und leise seufzte. Sofort war ich hellwach, stürzte an ihre Seite und stieß mir die Knie an.
„Luana?", murmelte sie überrascht, als ich sie zu mir zog und mein Gesicht in ihren Haaren vergrub. Sie rochen nach Salzwasser und ich musste unwillkürlich an unseren Tauchgang zu der Höhle mit dem Öl denken. Er schien mir ewig her zu sein.
„Es tut mir leid." Ich konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten und auch die Tränen nicht. „Es tut mir leid, es tut mir leid, ich war so ein Idiot, ich dachte, ich hätte dich verloren."
Sie schob mich weg und blinzelte mich an. „Was tut dir leid?"
„Ich war ... nicht ich selbst, ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich hatte zu große Angst."
Sie berührte sanft mein Gesicht. „Du bist also wieder da?"
„Und ich bleibe auch dieses Mal."
Sie war blass und sah völlig fertig aus, aber sie lächelte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro