Kapitel 29 - Grün
Nur die Stärksten werden überleben.
Die Panik ließ sich unmöglich im Zaum halten und ertränkte das leuchtende Gefühl des Triumphs fast vollständig. Tim hatte eine Kugel abbekommen und krümmte sich stöhnend im Gras, sein Gesicht wächsern, grau und schweißbedeckt. Er schrie, als sich Kemen seine Wunde ansehen wollte und musste auf ein Stück Holz beißen, damit das überhaupt möglich war. Ich warf nur einen kurzen Blick auf Tims Bauch und hätte mich am liebsten übergeben. Wie seine Muskeln sich um die Schusswunde herum anspannten, Adern traten deutlich unter der Haut hervor, das Einschussloch wie ein dunkler Schlund. Es gab keine Austrittswunde. Die Kugel steckte noch immer irgendwo in ihm und es gab keine Möglichkeit, sie herauszuholen, nicht für uns. Niemand sprach es aus, aber jedem von uns war klar, dass wir Tim nicht helfen konnten.
Zumindest denen von uns, die bei Bewusstsein waren. Diego und Sophie waren bewusstlos, Diego hatte eine Platzwunde an der Schläfe, und Sophie hatte offenbar einen Streifschuss an der Schulter abbekommen. Schnittwunden, ein verstauchtes Handgelenk, eine Bisswunde, eine Gehirnerschütterung und viele, viele blaue Flecken waren der Rest.
Wir waren noch vor Sonnenaufgang vollkommen übernächtigt, durchgefroren, erschöpft und trauernd hier angekommen, hatten den Tag ohne Essen mehr schlecht als recht überstanden, hatten am Abend noch gejagt und uns durch eisernen Willen allein wieder auf die Füße gekämpft und hatten dann auch noch diesen Kampf überstanden.
Ich biss die Zähne zusammen und half Pablo und Kemen dabei, unser improvisiertes Wasserauffangbecken in Form der Holzkiste am Meer mit Salzwasser zu füllen und wieder hoch zur Hütte zu tragen, um das Feuer zu löschen. Als klar wurde, dass das Feuer nicht auf die Hütte übergreifen würde, in der Himaya die Verletzten bewachte, stellten wir die leere Kiste wieder an ihren angestammten Ort zurück und wandten uns an die beiden vermummten Angreifer, die entweder bewusstlos oder tot neben dem zerstörten Zaun lagen. Ich griff beherzt zu und zerrte die Brille und den Kopfschutz vom ersten der beiden herunter. Langes dunkles Haar ergoss sich über meine Hände, in den großen braunen Augen spiegelte sich silbern das Licht der Sterne. Als ich die Hände aus ihren Haaren zog, waren sie klebrig mit geronnenem Blut.
Der andere Vermummte war ebenso eindeutig tot, das Messer steckte ihm noch im Rücken zwischen den Wirbeln. Es war ein riesiger Typ mit kahl rasiertem Schädel, dunkler Haut und so muskulös, dass er mich vermutlich hätte durchbrechen können. „Wisst ihr, wer das war?", fragte ich und zog das Messer aus seinem Rücken.
Pablo und Kemen schüttelten wortlos die Köpfe, aber eine Stimme antwortete zögerlich. „Ich war das. Glaube ich." Nicky trat vor und kniete sich ebenfalls neben den Toten. „Er hat auf Tim geschossen."
Ich senkte den Blick und nickte. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie es gut gemacht hatte, aber die Worte kamen mir nicht über die Lippen. Stattdessen zerschnitt ich mit dem Messer den Stoff am Unterarm des Toten, wo ich sein Implantat fühlen konnte, doch es leuchtete nicht mehr.
„Sie hören auf zu leuchten, wenn man stirbt", murmelte Kemen tonlos. „Ist mir bei Priscilla schon aufgefallen."
Ich ließ den Arm des Jungen zurück auf den Boden plumpsen. „Dann müssen wir uns wohl jemanden ansehen, der nicht tot ist."
Einzig das Adrenalin hielt mich auf den Beinen, als wir auf das immer noch vermummte Mädchen zugingen, das an die Hüttenwand gelehnt dasaß, die Arme auf dem Rücken zusammengebunden. Yin saß ihr gegenüber, noch immer die Waffe in den Händen. Pablo stolperte einmal und musste von Kemen gestützt werden – er war derjenige mit der Gehirnerschütterung, hatte aber seine Platzwunde nur einmal unter Wasser gehalten, die Schultern gestrafft und das Angebot abgelehnt, sich hinzulegen. Anscheinend wollte er das Stolpern wieder gutmachen, denn er machte sich von Kemen los, kniete sich neben dem Mädchen hin und zerrte ohne Rücksicht auf Verluste ihre Brille und die eng anliegende Kapuze von ihrem Kopf.
Sie zischte und zeigte ihre Zähne. Ich blieb stehen und schaute in ein blasses Gesicht voller verwischter, schwarzer Kriegsbemalung. Sie hatte einen verschwitzten, plattgedrückten Irokesenschnitt, der wahrscheinlich mal blau gewesen war und jetzt im Feuerschein ausgewaschen und gräulich wirkte. Sie erwiderte Pablos Blick voller Trotz und sah nicht im mindesten ängstlich oder besiegt aus.
„Welcher Stamm seid ihr?", fragte Pablo eisig.
Ich rechnete nicht damit, dass sie antworten würde, aber sie überraschte mich mit einer Stimme, die kratzig und heiser klang. „Grün."
„Warum habt ihr uns angegriffen?"
Sie tat etwas, was für mich nicht nachvollziehbar war. Wenn ich gefesselt in den Händen eines feindlichen Stammes gewesen wäre, alle meine Freunde verloren hätte und mit einer Waffe bedroht würde, hätte ich alles getan, bloß nicht gelacht. Doch unsere Gefangene lachte kurz und warf den Kopf zurück. „Wir wollten nur nach Hause", sagte sie und presste die Lippen aufeinander. Kopfschüttelnd schaute sie uns an. „Das Spiel gewinnen."
„Ist wohl nicht so gut gelaufen, hm?", fragte Kemen und verschränkte die Arme.
Sie lachte wieder, diesmal war es eher ein erschöpftes Seufzen. Kopfschüttelnd blickte sie zu Boden. „Wir wussten nicht, dass ihr so viele seid."
„Wir werden weniger", entgegnete ich kalt, griff Kemens Arm und zog ihn ein Stück zur Seite. „Wir brauchen einen Scheiterhaufen."
Er blinzelte perplex. „Jetzt? Sofort? Und wo ist eigentlich der vierte von denen?"
„Um den hab ich mich gekümmert." Ich deutete mit dem Kopf in die grobe Richtung. „Er dürfte nicht weit gekommen sein." Ich blickte mich um. „Der Zaun ist hinüber, wir können viel von dem Holz für den Scheiterhaufen benutzen. Wenn wir – "
Kemen legte mir die Hände auf die Schultern. „Luana."
„ – alle zusammen, also alle, die können, dann – "
Er begann, mich zu schütteln und ich brach ab. „Luana, du hast einen Schock."
„Was? Nein, hab ich nicht!"
„Setz dich hin."
Ich war nicht zittrig oder irgendetwas, meine Sinne waren alle wieder da und funktionierten.
Trotzdem ließ ich mich von ihm ins Gras drücken.
„Hier." Er reichte mir einen Trinkschlauch. „Trink was."
Ich gehorchte, damit er mich in Ruhe ließ. Wir hatten hier drei Leichen liegen – jedenfalls ging ich davon aus, dass ich meinen Gegner auch umgebracht hatte – und wir würden damit nur Raubtiere anlocken. Das war das Letzte, was wir brauchen konnten.
„Du solltest dich hinlegen", sagte Kemen, als ich ihm den Trinkschlauch zurückgab. „Wirklich."
Ich versuchte ihm zu erklären, dass wir dafür keine Zeit hatten, aber er zog mich auf die Füße und schob mich zur angelehnten Hüttentür. Beim ersten Schritt in die Hütte wusste ich, dass ich hier nicht würde bleiben können. Himaya saß neben dem kleinen Lagerfeuer in der Ecke, den Blick auf Tim gerichtet, der in einem der unteren Betten lag und erstickte Schmerzenslaute von sich gab. Der Saft von Narcobeeren mischte sich auf seinem Bauch mit dem Blut, der schwere Geruch von Metall und Salz füllte die Hütte aus und mir wurde augenblicklich schlecht. Schnell wandte ich mich zu Sophie um, die im Bett über Diego lag und scheinbar schlief. Die Wunde an ihrer Schulter war notdürftig verbunden worden.
„Er wird die Nacht nicht überstehen", sagte Himaya sehr leise, sodass es über das Knistern des Feuers kaum zu verstehen war.
Tim murmelte etwas Unverständliches und obwohl ich am liebsten geflüchtet wäre, kniete ich mich neben ihn und strich ihm das nasse blonde Haar aus der Stirn.
„Mum?"
Seine Augen waren nur halb geöffnet, seine Lippen waren trocken und aufgesprungen.
„Ich bin's, Luana", flüsterte ich.
Er atmete hektisch. „Bitte", sagte er, „bitte, ich muss zu meiner Mum, ich muss ihr sagen – "
„Ist schon gut." Ich versuchte meine Stimme beruhigend klingen zu lassen, während ich ihn anlog. „Es wird alles wieder gut. Versprochen."
Lance' Tod war grausam gewesen, aber immerhin schnell und ich hatte es nicht mit angesehen. Ebenso bei Chiyo. Priscillas Tod war genauso schnell passiert und der darauffolgende Kampf hatte mich abgelenkt. Neben jemandem an seinem Sterbebett zu knien, war etwas ganz anderes. Und da wusste ich, dass Kemen recht hatte. Ich hatte definitiv einen Schock, ansonsten hätte ich das hier niemals gekonnt. Etwas beschützte mich vor all den Gefühlen, Ängsten und den Gedanken.
Tim tastete nach meiner Hand und ich nahm sie. Seine Haut war erschreckend kalt und das Implantat an seinem Arm flackerte etwas.
„Es wird alles wieder gut", wiederholte ich, mehr zu mir selbst, als zu ihm.
Tim murmelte vor sich hin, die Worte verfingen sich und stolperten übereinander und ich konnte nur immer wieder verstehen, dass er zu seiner Mum wollte. Als er still wurde, leuchtete sein Implantat nur noch ganz schwach. Ich stand auf und die Welt drehte sich um mich herum.
„Luana?"
Ein Schritt und etwas kippte, ich trat ins Leere und alles wurde schwarz.
***
Leise Stimmen. Das Klopfen von etwas auf Holz. Rascheln und Knistern. Und dann der unverwechselbare Geruch von Blut.
Als ich mühsam die Augen öffnete, stellte ich fest, dass ich nicht allein war. Jemand hatte mich in das freie obere Bett gehoben und unter mir auf dem Boden, angebunden an einen Bettpfosten, saß unsere Gefangene und blickte aus dunklen Augen zu mir hinauf.
Ich setzte mich vorsichtig hin und rieb mir den Kopf. „Wie lange hab ich geschlafen?"
Das Mädchen zuckte die Schultern. „Ein paar Stunden."
Stöhnend ließ ich die Beine vom Bett baumeln und beugte mich über die Bettkante, um in das Bett unter mir zu schauen. Es war leer bis auf einen großen Blutfleck auf der Strohmatratze.
„Er ist tot", sagte das Mädchen mit der heiseren Stimme und klang sogar mitfühlend.
Ich war zu erschöpft, um gemein zu ihr zu sein, also fragte ich sie einfach nach ihrem Namen.
„Nastya", antwortete sie, ohne mich anzusehen. „Warum fragst du?"
Jedes Gelenk und jeder Muskel tat mir weh, als ich die drei Leitersprossen nach unten kletterte.
„Wir werden dich töten", erklärte ich matt und schaute von oben auf den gesenkten, blassen Kopf mit den grünlichen Haaren hinab. „Und ich brauche einen Namen, um mit den anderen darüber zu reden."
Nastya streckte die Beine aus und schaute ungerührt zu mir hoch. Für mich war es das erste Mal, darüber zu reden, jemanden hinzurichten, für sie nicht. „Dann solltest du deinen Freunden sagen, dass sie Platz auf dem Scheiterhaufen für mich einrichten sollen."
Ich erwiderte nichts, sondern stolperte aus der Hütte hinaus ins Tageslicht. Es war noch Vormittag, immerhin. Die anderen schichteten unten am Strand einen riesigen Scheiterhaufen auf, aber alle wirkten erschöpft und schwach. Sophie sah mich und lief auf mich zu. Ihre Umarmung war ungelenk, weil ihr linker Arm in einer notdürftigen Schlinge vor ihre Brust gebunden war.
„Wie geht's dir?", fragte sie besorgt.
Ich zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Und dir?"
Ihr Gesicht war so rot und fleckig und verheult, dass sich die Frage eigentlich erübrigte. Sie wischte sich einmal über die Augen und drehte sich zum Meer und zum Scheiterhaufen um. „Er hat das nicht verdient", wisperte sie.
„Was ist mit deinem Arm?"
„Oh. Streifschuss. Es tut höllisch weh und ich kann nicht viel helfen." Sie gestikulierte mit der rechten Hand zu dem Scheiterhaufen.
„Der ist echt ... gigantisch", murmelte ich, unsicher, was ich davon halten sollte.
Sophie nickte. „Immerhin müssen vier Leute reinpassen."
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Fünf."
Sophie starrte mich eine Sekunde lang wortlos an. „Fünf?"
„Was denkst du, was wir mit Nastya da drinnen machen sollen?"
Sie schüttelte ungläubig den Kopf und verzog das Gesicht vor Schmerz. „Du willst sie umbringen? Bist du verrückt geworden?" Ich kam gar nicht dazu, das zu beantworten. „Du warst es auch, die hinter dem Jungen her ist, oder? Das war keine Selbstverteidigung."
Ich schluckte und schüttelte den Kopf. „War es nicht."
Etwas in Sophies Haltung straffte sich. „Und du wusstest, wer er ist?"
Verständnisloses Blinzeln, dann traf mich die Erkenntnis. Ich hatte es nicht gewusst, als ich ihn getötet hatte, aber nachdem Nastya uns verraten hatte, zu welchem Stamm sie gehörte, hätte es mir klar werden müssen. Der Junge, dem ich zweimal mein Messer in die Seite gerammt hatte, war Asnee. Wir waren zusammen gestartet.
„Also wusstest du es nicht", sagte Sophie. „Immerhin."
„Ich hätte es trotzdem getan", entgegnete ich.
„Nein", widersprach sie. „Hättest du nicht. Niemals. So bist du nicht."
Ich drehte den Kopf, biss mir auf die Lippe und rang um meine Beherrschung. „Sophie", begann ich, meine Stimme zitterte, „ich dachte, ich wäre so nicht. Aber – "
„Luana, hör auf."
„Nein, es ist die Wahrheit, okay? Ich hab dir geschworen, dass wir hier rauskommen und du hast es mir geschworen. Und wenn ich sage, ich tue alles dafür, dann meine ich das."
„So bist du nicht", wiederholte sie und schüttelte milde den Kopf.
„Hör auf, es abzustreiten!", fuhr ich sie an und sie zuckte.
„Was ist los da vorne?", rief Pablo.
Einer nach dem anderen ließen sie ihre Arbeit liegen und versammelte sich in einigem Abstand um Sophie und mich. Wir starrten einander an und versuchten uns gegenseitig etwas klar zu machen, aber ich glaube nicht, dass es funktionierte.
Dann warf sie die Haare zurück. „Luana möchte gern das Mädchen umbringen, das gerade in unserer Hütte sitzt."
„Was?!"
Ich war kurz davor, ernsthaft die Geduld zu verlieren. „Was sollen wir denn sonst mit ihr machen?!", brüllte ich die anderen an. „Sie freilassen? Natürlich! Sie kam ja auch nur her, um uns alle zu ermorden und das hätte sie auch getan, wenn sie die Chance bekommen hätte! Tim ist tot! Wegen ihr!" Meine Stimme drohte, zu brechen, also räusperte ich mich und machte gnadenlos weiter, ließ mich von der Wut tragen und ignorierte alles andere. „Wir haben gar keine andere Wahl! Und sie verdient es!"
Schwer atmend schaute ich der Reihe nach in die Gesichter der anderen. Sophie. Yin. Himaya. Pablo. Kemen. Nicky. Diego.
„Ich glaube, keiner hier verdient es, zu sterben", sagte Nicky leise in die drückende Stille hinein und sie erntete überall zustimmendes Nicken.
„Wenn ihr sie freilasst, dann stirbt sie so oder so." Meine Stimme war allmählich wirklich heiser. „Ihr wollt nur das Blut nicht an euren Händen haben."
„Uns ist schon klar, dass du das mit dem Blut nur allzu gerne übernimmst", erwiderte Sophie angeekelt.
„Wir könnten sie behalten", schlug Diego vor, als wäre das Mädchen irgendein Hund und keine Mörderin.
„Hast du sie noch alle?" Aber mir hörte ohnehin keiner mehr zu. Sie begannen, abzuwägen, wie man das am ehesten anstellen könnte, während sie sich alle wieder der Arbeit am Scheiterhaufen widmeten und mich einfach stehen ließen. Und die behaupteten, ich hätte den Verstand verloren? Sie wollten das Mädchen in die Gruppe aufnehmen, das mitten in der Nacht hierhergekommen war, um möglichst viele von uns am liebsten im Schlaf zu erschießen. Sie mochte Tim zwar nicht persönlich erschossen haben, aber sie war mit einer geladenen Waffe gekommen und hatte alles versucht, um uns auszulöschen. Niemals würde ich ihr vertrauen oder mit ihr in derselben Hütte schlafen.
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Hallo allerseits, ich sitze momentan mit Corona in Quarantäne, deswegen dachte ich, ich traumatisiere euch alle und meine Charaktere pünktlich zum Wochenende ein bisschen. Lasst mich gerne wissen, wie ihr es findet und bleibt gesund!
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