Kapitel 27 - Tyrannosaurus
Feuer hält dich warm, also hol eine Fackel raus oder mach ein Lagerfeuer, wenn es zu kalt wird.
Der T-Rex hielt inne, brüllte, erschütterte die Luft, brachte die Erde zum Beben. Ich war gelähmt vor Angst, konnte nicht denken, alles lief wie in Zeitlupe vor meinen Augen ab.
Die Welt kippte mit einem Schlag wieder in die normale Geschwindigkeit zurück, als Chiyo einen so durchdringenden Schrei ausstieß, dass mir das Blut in den Adern gefror.
Sie hatte bloß dagesessen. Und doch hatte der Rex sie bemerkt. Er richtete seine Bernsteinaugen auf sie und brüllte nicht mehr.
Kemen schrie ihren Namen und ich sah aus dem Augenwinkel, wie er sich bereitmachte, loszustürmen. Tim hielt ihn gewaltsam auf, selbst als Kemen nach ihm schlug. „Das schaffst du nicht!", brüllte er direkt in Kemens Gesicht.
Alle anderen kamen jetzt auch auf die Füße. „Dort!", rief Himaya und machte bereits die ersten Schritte in die Richtung, in die sie deutete. Ganz in unserer Nähe befand sich der dritte Pfad. Was auch immer uns dort erwarten würde, es konnte nur besser sein, als das hier.
„Wir können sie nicht hierlassen!", schrie Kemen und ich spürte seinen Schmerz, spürte ihn in meinem ganzen Körper.
„Wir haben keine Wahl!" Pablo half Tim, Kemen in die Richtung des Ausgangs zu bugsieren.
„Kemen!" Chiyos panische Stimme, verzerrt vor Angst, schallte zu uns herauf. Kemen begann wieder gegen Tim und Pablo zu kämpfen und nun versuchte auch Nicky ihn davon abzuhalten, in den sicheren Tod zu laufen. „Nein!", schrie dann wieder Chiyo. „Nein! NEIN!"
„Chiyo!"
Die Hälfte von uns rannte, die andere kümmerte sich um Kemen, der es wohl irgendwann einsah und verstummte. Wir rannten, rannten so schnell wir konnten über den ebenen Pfad, vorbei an einer kleinen Gruppe Dodos, durch niedrig gewachsene Pflanzen bis hin zu Felsen, die über dem Pfad und den Klippen eine Art natürlichen Bogen bildeten.
„Lasst uns hier hochklettern!", schlug Diego außer Atem vor und diesmal befolgten wir seinen Rat. Der Bogen funktionierte wie eine Brücke und wir fanden alle darauf Platz. Stille breitete sich um uns herum aus und die Geräusche des Dschungels schienen in unserer Wortlosigkeit umso lauter zu werden. Mit der Zeit atmeten wir alle nicht mehr so schwer, beruhigten uns. Chiyos Abwesenheit lastete tonnenschwer auf jedem einzelnen von uns.
Ich wusste nicht, wie lange wir so dahockten und niemand ein Wort sprach. Himaya war die erste, die die Stille durchbrach. Nach einem kurzen Blick zum Himmel sagte sie: „Wir müssen noch mal zurück."
Mehrere Leute reagierten darauf mit ungläubigen „Was?!"
„Natürlich müssen wir zurück!", ereiferte sich überraschend Kemen. „Vielleicht konnte sie sich retten, vielleicht hat sie sich versteckt, vielleicht –"
Niemand brachte es über sich, ihm zu sagen, wie gering die Wahrscheinlichkeit dafür war.
„Was, wenn der Rex noch da ist?", gab Sophie zu bedenken.
„Wir können jedenfalls nicht hier übernachten", entgegnete Himaya.
Also kletterten wir wieder runter. Auf dem Pfad zwischen den Steinwänden war es bereits dämmrig und kaum ein Sonnenstrahl schaffte es durch den Blätterbaldachin über uns bis auf den Boden. Zum Glück war es leicht, dem Pfad zu folgen und wir begegneten keinem Tier. Es war merkwürdig, ohne Gepäck und den Speer in den Händen unterwegs zu sein, doch auf der Flucht vorhin hatten wir uns nicht damit aufhalten können, irgendetwas mitzunehmen. Einige von uns hielten ihre Jagdmesser in unsicheren Händen, aber andere Waffen hatten wir zurücklassen müssen.
Der Weg kam mir weiter und länger vor, als vorhin, aber diesmal rannten wir auch nicht und außer Kemen war niemand von uns erpicht darauf, den Durchgang zum geheimen See zu erreichen. Als es so weit war, musste Tim ihn erneut zurückhalten. Wir kauerten uns ins Gebüsch und beobachteten die im Dämmerlicht daliegende Lichtung. Der T-Rex war ohne jeden Zweifel weg, aber wir hatten ja alle gesehen, wie schnell er auftauchen konnte.
„Seid alle still!", zischte Yin in die Runde, blickte aber besonders Kemen streng dabei an. Er durfte nicht nach Chiyo rufen, egal, wie schwer das war.
Wir teilten uns in Gruppen auf, Kemen und Tim sollten runter zum See laufen, nach Chiyo suchen und das Artefakt aus der Mitte des Sees bergen. Der Rest von uns musste Rucksäcke mit den anderen Artefakten und Vorräten holen, die Schlafsäcke aufrollen und unsere Waffen untereinander verteilen.
Selbst im schwachen Licht des sterbenden Tages konnte man von dem Steinplateau aus erkennen, was vorhin hier passiert sein musste und das schreckliche Szenario wurde mit jedem Detail, das meine Augen erkannten, noch schrecklicher. Aufgewühlter Uferschlamm und zertrampelter Schilf. Gestrandete Wasserlilien. Und die dunkelrote Blutlache, die sich vom Ufer aus in den halben See ausgebreitet und ihn gefärbt hatte. Es war sonst nichts übrig. Nur Blut in klarem Wasser. Mir wurde augenblicklich schlecht und ich musste mich abwenden.
Wir sammelten schweigend alle Sachen ein und auch als ich meinen Speer wieder in den Händen hielt, fühlte ich mich nicht besser oder sicherer. Wir hätten sie nicht retten können, sagte ich mir immer wieder. Es hätte nichts gebracht. Aber es gar nicht erst versucht zu haben, konnte ich mir nicht so leicht verzeihen. Falls unsere Gruppe so etwas wie einen Anführer gehabt hatte, das war Chiyo gewesen. Lance hatte mir das einmal gesagt, weil er dachte, ich würde mit ihr um die Rolle konkurrieren. Aber so war es nie gewesen.
Vom See her ertönte das schabenden Geräusch von Stein auf Stein und ich riskierte einen Blick. Tim schob mit ganzer Kraft allein den Deckel vom Steinsarg, weil Kemen am Ufer zusammengebrochen war und mit leerem Blick in die Blutpfütze im Wasser starrte.
Sophie schulterte ihren Rucksack und Schlafsack, dann ging sie den seichten Grashügel nach unten und kniete sich neben Kemen. Vielleicht konnte sie von uns allen am besten nachvollziehen, wie es sich anfühlte, seinen Lebenswillen zu verlieren.
Tim watete zurück ans Ufer und ließ Sophie und Kemen allein. Im letzten Licht des Tages konnte man das unheilvolle rote Leuchten des Artefakts besonders gut erkennen. Er wollte es direkt in einem Rucksack verstauen, aber Himaya streckte die Hände aus und nahm es von ihm entgegen. Sie tastete ein wenig daran herum, dann entdeckte sie einen der Zacken, der sich hineindrücken und dann herausnehmen ließ. Im Inneren steckten wie immer zwei Zettel.
„Artefakt des Verschlingenden", las sie mit zitternder Stimme vor. Auf dem zweiten Zettel stand etwas mehr Text. „Alle sieben Steine –"
„Warte auf die anderen", unterbrach ich sie. „Kemen soll wissen, wofür wir all die Opfer gebracht haben."
„Wir müssen sowieso hier weg", entgegnete Tim und verstaute das Artefakt jetzt doch. Dann schulterte er mit merkwürdigem Ausdruck den schwersten der Rucksäcke. Ob es für ihn schon seltsam geworden war, Chiyo nicht durch die Gegend zu tragen?
Irgendwie brachte Sophie Kemen dazu, wieder aufzustehen. Sein Gesichtsausdruck war vollkommen leer, als die beiden bei uns ankamen und auf meine Frage hin, ob er die Nachricht aus dem Artefakt hören wollte, reagierte er überhaupt nicht. Er setzte sich mechanisch einen der Rucksäcke auf und wir machten uns alle auf den Weg zu dem Pfad, der vorhin unser Fluchtweg gewesen war. Yin meinte, er würde uns direkt beim Fluss ausspeien und uns den langen Weg am Strand entlang ersparen. Im Dschungel war es bereits dunkel und wir entzündeten zur Sicherheit unsere Fackeln. Die Stimmung war unbeschreiblich angespannt. Es wurde beinahe gar nicht gesprochen, während wir alle wieder und wieder im Kopf durchgingen was passiert war und gleichzeitig darauf warteten, erneut angegriffen zu werden. Aber wir hatten Glück und erreichten den Strand unbeschadet, soweit man das nach diesem Tag sagen konnte.
Der Himmel war am Horizont noch rosa gefärbt und ging langsam in samtenes Nachtblau über, doch es war hell genug, um problemlos unser Nachtlager aufzuschlagen. Kemen wurde nahe beim Lagerfeuer, das Himaya mit flinken Fingern entzündet hatte, in einen Schlafsack gewickelt und in Ruhe gelassen, weil wir keine Ahnung hatten, wie man ihm helfen konnte.
Unsere Vorräte waren zur Neige gegangen, aber es hatte sowieso niemand Hunger. Schweigend saßen wir um das Feuer herum, Messer und Speere griffbereit und jederzeit bereit, es mit neuen Gefahren aufzunehmen.
„Er hat sie geliebt", flüsterte Sophie in die Flammen, als alle anderen schliefen und wir beide Nachtwache hielten. „Er hat sie wirklich, wirklich geliebt. Und bis heute hatte ich keine Ahnung."
Ich wollte ihr so gern mehr über Liebe sagen, doch diese Nacht war dafür die falsche. „Ich weiß", murmelte ich deshalb bloß ins Feuer, „ich weiß."
Für Sophie gab es diese Nacht geschätzt bloß eine Stunde Schlaf. Als wir Yin und Nicky weckten, um uns bei der Wache abzulösen, hatte sich der sternenklare Nachthimmel bereits mit dicken, schwarzen Wolken zugezogen. Wir wurden geweckt vom Regen und weil wir unser Lager am Strand aufgeschlagen hatten, hätten wir uns höchstens in den Dschungel zurückziehen können.
Das Feuer erlosch zischend und fauchend, die Schlafsäcke waren bald durchnässt und alle waren jetzt noch unglücklicher als vorher, falls das überhaupt möglich war. Wir mussten heute die Basis erreichen, fischen und jagen, sonst würden wir unseren Kampfgeist endgültig verlieren. Leider war es noch zu dunkel, um loszugehen.
„Verkriecht euch in die Schlafsäcke, bis es vorbei ist", schlug ich vor und schaute kurz zu, wie die anderen wortkarg die Kapuzen der ledernen Schlafsäcke über ihre Köpfe zogen. Trocken bleiben würden wir so nicht, aber etwas Besseres fiel mir einfach nicht ein. Das hier war bei weitem die kälteste Nacht, die wir bisher auf der Insel durchmachen mussten. Schutzlos, abgesehen von der Schicht Fell und Leder lagen wir am Strand wie auf dem Präsentierteller.
Ich hatte keine Ahnung, wie viele Stunden es noch dauerte, bis der Himmel sich endlich von seinem Pechschwarz in ein Dunkelgrau zu verfärben begann. Aber als es so weit war, konnte ich meine Zehen kaum noch spüren.
Der Regen ließ nicht nach.
Die Sicht war zwar immer noch katastrophal, aber ich hielt es nicht mehr aus. Zitternd und unkoordiniert schälte ich mich aus dem durchweichten Schlafsack und stand auf.
„Lasst uns weiter gehen!", rief ich in die Runde und musste mich räuspern, damit ich überhaupt einen Ton herausbrachte. Bisher hatte ich noch nie darüber nachgedacht, aber wenn sich heute Nacht jemand eine Lungenentzündung eingefangen hatte, dann konnte das durchaus ein Todesurteil sein.
Mühsam erhoben sich die anderen, Diego und Kemen brauchten Hilfe. Während alle in der Dunkelheit die Schlafsäcke zusammenrollten und ihre Rucksäcke suchten, nahm ich mir jemanden beiseite, der hoffentlich Yin war.
„Yin?"
Ich bekam nur eine Art zustimmendes Grunzen als Antwort.
„Findest du den Weg zum Fluss im Dunkeln?"
Sie hustete. „Ja. Schaffe ich."
Der Regen prasselte unerlässlich auf das Meer ein und veranstaltete einen Höllenlärm. Absolut keine Chance, auf Raubtierschritte im nassen Sand zu lauschen, oder auf das Flüstern von Stimmen, das verräterische Rascheln von Blättern am Rand des Dschungels.
Wir ignorierten die Formation und liefen mit den Speeren in den Händen zu zweit nebeneinander. Niemand durfte in dieser Dunkelheit bei dem Regen verloren gehen, das war das Wichtigste. Falls wir angegriffen wurden, wir hätten ohnehin nicht den Hauch einer Chance unter diesen Bedingungen.
„Hört ihr das?", fragte Yin nach einer gefühlten Ewigkeit.
Niemand antwortete, aber wir wurden langsamer, lauschten in das Prasseln des Regens.
„Das ist der Fluss", erklärte sie schließlich. „Ich höre den Fluss."
Der Gedanke an den Carnotaurus und die wütenden Triceratops tauchte auf und an diesem Punkt wurde mir bewusst, wie übermüdet ich war, denn ich hatte keine Angst. Zumindest keine unmittelbare, sie war eher klebrig und zäh im Hintergrund, aber das war sie immer. Die Machtlosigkeit, die es mit sich brachte, in der Dunkelheit und im Regen einen Strand entlangzulaufen und bloß hoffen zu können, dass uns nichts auflauerte – sie hatte die Angst in die Flucht geschlagen. Stattdessen war ich vollkommen bereit, meinen Tod am Ufer dieses Flusses jetzt doch in Kauf zu nehmen.
Und das war ganz und gar nicht gut.
Zur Machtlosigkeit gesellte sich ein neues Gefühl, das ich nicht benennen konnte. Es kroch meinen Nacken empor, entgegengesetzt zum eisigen Regenwasser. Es saß mir noch tiefer in den Knochen als die Kälte und je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto deutlicher konnte ich es fühlen. Und dann war ich ein wenig erleichtert über den Regen, denn mir traten Tränen in die Augen und ich konnte nichts dagegen machen. Am liebsten wäre ich zusammengebrochen, ich musste immer wieder an Lance denken, an Priscilla, an Chiyo. Alles, was mich dazu brachte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war Sophies Hand in meiner.
Es wurde langsam hell genug, um wenigstens zu erkennen, als wir eine Stelle des Flusses erreicht hatten, an der wir ihn halbwegs sicher durchqueren konnten. Das Wasser war eiskalt. Dafür wussten wir in etwa, wie lange wir von der anderen Seite des Flusses noch bis zur Basis brauchten. Weil wir ein ganzes Stück flussaufwärts hatten wandern müssen und langsamer als gewohnt unterwegs waren, meinte Yin, es würde noch etwa zwei Stunden dauern.
Es regnete weiterhin hartnäckig, aber es war jetzt immerhin nicht mehr so dunkel.
Wir schleppten uns vorwärts und Erleichterung breitete sich aus, als endlich die Basis in Sicht geriet, der Zaun allem Anschein nach intakt.
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