Kapitel 22 - Turm
Eine eigenartige Macht geht von diesen Obelisken aus.
Kannst du sie in deinen Knochen spüren?
Es war schon lange dunkel geworden und wir hatten uns mit den Fackeln den Weg durch den Dschungel zurück zur Basis suchen müssen. Obwohl außer den Geräuschen der Allosaurier nichts zu hören war, saß uns allen die Anspannung im Nacken. Nachts im Dschungel zu sein war gefährlich, falls uns etwas angriff, würden wir es wahrscheinlich nicht einmal kommen sehen.
Ein Seufzer der Erleichterung ging durch unsere kleine Gruppe, als wir die letzten Bäume hinter uns ließen und ein paar hundert Meter zu unserer linken den Zaun und die Hütte entdeckten. Jemand stand auf dem Dach und winkte uns zu.
Wir wurden erst einmal mit Essen und frischem Wasser versorgt und Kemen schaute sich der Reihe nach unsere Verletzungen an. Auch bei Sophie schien es schlimmer auszusehen als es letztendlich war. Über gebratenem Fisch und Beeren erzählten wir von dem Aufstieg auf den Berg, von dem Artefakt, dem Riesendinosaurier – Sophie meinte, es müsste wohl ein Giganotosaurus gewesen sein – und dem mittlerweile toten Diplodocus.
Im flackernden Licht des Lagerfeuers dann öffnete Chiyo den Rucksack mit dem Artefakt und reichte es an Yin weiter, wie es inzwischen Tradition war. Sie und Himaya hatten es einfach raus, mithilfe der Karten die Rätsel zu lösen. Der rosa Schein beleuchtete von unten Yins elfenhaftes Gesicht, während sie das Artefakt abtastete und schließlich einen Zacken abschraubte.
„Artefakt der Himmelsfänger", las sie vor und ließ den kleinen Zettel neben sich ins Gras fallen, ehe sie den nächsten herauszog. Das Papier wirkte verwittert und war an den Ecken ein wenig angesengt.
„Es gibt einen Turm, grün wie Gift
Hinauf euch nur Geschicklichkeit hilft,
Überlegt euch gut, was ihr hinterher bereut,
Dieses Mal ist die Zeit nicht euer Freund."
Was unsere Aufgabe war, wurde mit einem Schlag klar, als Tim den Rucksack auskippte, den wir zusammen mit dem Artefakt gefunden hatten. Zuerst breitete sich allgemeine Verwirrung aus beim Anblick der merkwürdigen Kleidungsstücke und Schnüre, aber dann räusperte sich Diego. Er griff in den Haufen von Zeug im Gras und zog einen einzelnen Schuh heraus. „Das ist Kletterausrüstung", sagte er. „Die wollen, dass wir auf den grünen Turm klettern."
Die Ausrüstung war für zwei Leute gedacht. Es gab zwei Paar Schuhe, zwei ärmellose Oberteile mit Metallhaken und zwei hautenge Hosen aus einem gummiähnlichen Material. Normalerweise hätten wir jetzt erst einmal überlegt, wo dieser grüne Turm eigentlich war, aber alle begannen sofort, sich die Ausrüstung näher anzusehen und zu diskutieren, wer am ehesten geeignet zum Klettern war. Es war, als Tim sich einen offensichtlich viel zu kleinen Kletterschuh an seinen Fuß hielt, als mir der Gedanke kam, dass wer auch immer uns diese Aufgaben stellte, bereits zwei ganz bestimmte Leute im Kopf gehabt hatte.
„Mir passen sie", verkündete Chiyo, als sie sich probeweise einen der kleinen Schuhe anzog.
„Und mir passen die anderen", sagte Diego.
Ich schaute ihn an, wie er sich den Schuh zuband. Er war so dünn und zerbrechlich, wie sollte er es schaffen, einen Turm hochzuklettern? Den Blicken nach zu urteilen, war ich nicht die einzige, die sich diese Frage stellte.
„Schon okay", meinte Diego und schlug die Augen nieder. „Zuhause habe ich das oft gemacht. Klettern, meine ich. Das war mein Sport." Er ließ die Finger über die Ausrüstung wandern und zog die Augenbrauen zusammen, als müsste er scharf nachdenken.
„Was ist?", fragte Chiyo, die Diego nicht aus den Augen gelassen hatte, einen Finger unter den Schnürsenkel ihres Kletterschuhs geschoben.
„Es ist ... eigenartig. Das ist keine normale Ausrüstung." Diego blickte auf und hielt einen schwarzen Handschuh hoch. Die Handinnenflächen schimmerten leicht metallisch. „Seht ihr das? Ich glaube ... die könnten magnetisch sein. Die Schuhsolen sehen auch so aus."
„Magnetisch?", wiederholte Tim und besah sich einen anderen Handschuh. „Wieso?"
„Ist doch offensichtlich", erwiderte Chiyo und zog sich den Schuh wieder vom Fuß. „Der grüne Turm ist aus Metall. Das wird kein normaler Kletterausflug. Und sie haben uns die Entscheidung abgenommen, wer von uns klettern wird."
Alle Augen richteten sich auf sie und Diego, die einzigen aus der Runde, denen die Schuhe passten. Es wurde überlegt, trotzdem jemand anderen zu schicken, aber am Ende meinte Chiyo, dass es keine Rolle spielte. Diego müsste es so oder so machen, weil er immerhin etwas vom Klettern verstand und das Risiko, jemanden mit nicht passenden magnetischen Schuhen den Turm hinauf zu schicken, war zu hoch.
„Wo ist der Turm überhaupt?", fragte Sophie zwischendurch.
Yin wedelte mit einem Kartenstück. „Er ist hier drauf verzeichnet. Wir müssen wieder nach Süden."
Zuerst aber hieß es, schlafen zu gehen. Sophie und ich teilten uns eines der unteren Betten und einen Schlafsack und uns fielen fast sofort die Augen zu. Ich bekam nur noch am Rande mit, dass Nicky draußen Wache hielt und Himaya das Feuer vor der Hütte im Auge behielt. Der Tag war so lang und anstrengend gewesen, aber auch so voller Anspannung, dass mir erst jetzt auffiel, wie sehr mir alles wehtat.
Alle, die mit auf dem Berg gewesen waren, waren auch am nächsten Morgen noch von Erschöpfung gezeichnet. Chiyo war besonders fertig und entschied, wir würden definitiv heute nicht zum grünen Turm aufbrechen, sondern uns um die Vorräte und Ausbesserungsarbeiten an der Hütte kümmern.
Irgendwann war das eine entspannte Art geworden, einen Tag zu verbringen. Wir bewegten uns in Gruppen, wir waren zumindest ansatzweise bewaffnet und hatten gelernt, welche Bedrohungen wir vom Strand und vom Waldrand zu erwarten hatten. Wir wussten, die Schildkröten würden uns nichts tun, für Triceratops waren wir uninteressant und Parasaurier flohen vor uns, wenn wir zu laute Geräusche machten. Dilos waren nur im Rudel gefährlich oder wenn man sie provozierte und Raptoren verschlug es nicht an den Strand. Wir hatten nicht mehr andauernd Angst. Es war beinahe ein bisschen so, als wären wir Teil der Insel geworden, so wie die ganzen anderen Geschöpfe. Aber natürlich war das gelogen. Immer wieder musste ich an Lance' Schreie denken und an Priscillas Scheiterhaufen. Ich fragte ich unwillkürlich, was wohl mit dem pinken Stamm passiert war. Ein gebrochener Arm konnte hier durchaus ein Todesurteil sein und Jarianis Arm war definitiv gebrochen gewesen. Ob sie es zur orangefarbenen Basis geschafft hatten? Hätten wir sie vielleicht nicht wegschicken sollen? Aber sie hatten Priscilla getötet, also was hätten wir tun sollen? Mit ihnen in derselben Hütte schlafen? Bestimmt nicht.
Ich verstand nur einfach nicht, wieso sie sich nicht mit uns hatten verbünden wollen. Immerhin hatten sie ein Artefakt gefunden, sie müssten also eigentlich wissen, dass es eine Möglichkeit gab, wie mehr als ein Stamm die ARK überleben konnte. Wieso war ihnen das so egal? Orange. Pink. Grün. Gelb. Vier Stämme, die sich entweder nicht verbünden wollten oder von denen wir bisher keine Spur zu Gesicht bekommen hatten. Die Hütten des gelben und grünen Stammes mussten weiter im Westen liegen, noch weiter als Sophies Basis. Das war die einzige Richtung, in die wir noch nicht gegangen waren, abgesehen vom Norden. Vielleicht lagen die Hütten auch weiter nördlich als die rote Basis, aber das hielt ich für eher unwahrscheinlich.
Sophie versuchte mich immer wieder abzulenken und aus meinen Gedanken herauszuziehen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir von Seiten der anderen noch mit etwas zu rechnen hatten. Jeder Stamm verfolgte inzwischen seine eigene Strategie. Und wenn sich einer dazu entschlossen hatte, die Konkurrenz auszuräumen und dieses Spiel richtig zu spielen, dann könnte es für uns noch viel gefährlicher werden.
Es war der neununddreißigste Tag, als wir früh morgens nach Süden aufbrachen, um den grünen Turm zu erklimmen. Alle von uns machten sich auf den Weg, denn zwischen uns und unserem Ziel lag die pinke Basis und dort lauerten möglicherweise Feinde. Es wurde inzwischen recht mühsam, alle fünf Artefakte mitzuschleppen, aber darüber wollte ich mich nicht beschweren.
Sie irgendwo zu verstecken war uns allen viel zu riskant, da waren wir uns einig. Also trugen wir ausgebeulte Rucksäcke mit Artefakten, trugen Schlafsäcke und Waffen mit uns und waren gegen Mittag schon ziemlich ausgelaugt. Wir beobachteten die Hütte viel länger, als notwendig gewesen wäre. Der Scheiterhaufen davor war beinahe nur noch Asche, aber davon sehr viel. Ein grauer Schandfleck in der paradiesischen Landschaft. Vielleicht hatte er die Mitglieder des pinken Stammes davon abgehalten, sich wieder in ihrer Hütte einzunisten. Mich hielt er beinahe davon ab, überhaupt da vorbeizugehen. Priscilla. Mir schnürte sich die Kehle zu, als ich an Diegos Abschiedsworte an sie denken musste. Wir werden dich nie vergessen.
Schweigend stiefelten wir durch den Sand, vorbei an der Hütte und dem ehemaligen Scheiterhaufen. Es dauerte eine lange Zeit, bis wieder jemand von uns sprach.
„Halt", sagte Yin, die sorgfältig ihre Karten studierte. Himaya lugte ihr über die Schulter. Die beiden sahen sich an und nickten. „Wir müssen hier in den Dschungel."
Grimmiges oder auch ängstliches Nicken von mehreren Seiten, dann packte Tim seinen Speer fester und marschierte drauflos. Der Dschungel jagte uns allen immer noch Angst ein. Zwischen den hüfthohen Farnen, palmenartigen Sträuchern, hohen Bäumen und unter dem Dach aus Blättern sah man Unheil erst viel zu spät kommen. Unsere Schritte waren zu laut in totem Laub, das Summen der Insekten verschluckte fast alles andere. Am Strand saßen wir vielleicht wie auf dem Silberteller für andere Menschen, aber hier im Wald waren wir ein unfassbar leichtes Ziel für weitaus versiertere Jäger, die sich auch von der Größe unserer Gruppe nicht abschrecken lassen würden.
Yin und Himaya gingen zusammen mit Tim an der Spitze des Zuges, aber nach einer Weile wurde klar, wir brauchten ihre Anweisungen gar nicht mehr. Der grüne Turm sendete eine Art Anziehungskraft auf uns aus, die mein Blut zum Vibrieren brachte. Es war wie ein unhörbares Dröhnen, wie ein Bass gerade so auf der Hörschwelle, sodass man das Geräusch eher unterbewusst wahrnahm, statt es wirklich zu hören. Möglicherweise war der Dschungel hier deshalb nicht bewohnt von Tieren, denn es war beinahe verdächtig still. Abgesehen von Insekten waren wir seit einiger Zeit keinem einzigen Tier mehr begegnet. Ich hoffte inständig, dass das nicht der Auftakt für etwas Größeres war.
Die Spannung steigerte sich, als das Geräusch des Turms immer intensiver wurde, je näher wir kamen. Nicht lauter, nur spürbarer. Es war eine so eigenartige Erfahrung, dass ich nicht wusste, wie ich es beschreiben sollte. Dann brach Tim vorne durch die letzten Büsche und betrat als erster die Lichtung.
Der grüne Turm schwebte ein paar Meter über dem Boden, der ebenfalls metallisch war. Grünes Leuchten ergoss sich über die offene Lichtung und spiegelte sich in unseren Augen. Der Turm war nicht annährend so groß wie der rote, den man beinahe von überall sehen konnte. Er bestand aus drei Segmenten, die frei schwebten und erst oben zu einer Spitze miteinander verbunden waren. Wie durch Zauberhand befand sich im Freiraum in der Mitte, ziemlich weit oben, in der Luft schwebend eine Kiste, die zweifellos das Artefakt enthielt.
Wir umkreisten den Turm einige Male, um einen Weg zu finden, überhaupt hinauf zu gelangen, als Pablo etwas rief. Er kniete in der Mitte der Metallplatte, über der der Turm schwebte. Alle versammelten sich um ihn. Nahtlos in den Boden eingearbeitet befand sich ein Display, das sehr schwach leuchtete und in grünen Ziffern die Zahl 60 anzeigte. Darunter befand sich ein kleiner schwarzer Knopf, der in den Boden gedrückt werden konnte.
„Was bedeutet das?", fragte ich und schaute mich argwöhnisch um.
„Dieses Mal ist die Zeit nicht euer Freund", zitierte Himaya mit düsterem Blick aus dem Rätsel. Sie schaute Chiyo an. „Das ist ein Timer. Und der Knopf startet ihn."
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