Kapitel 20 - Kämpfe
Es gibt nichts Besseres als vier starke Wände und ein Dach über dem Kopf, um extremer Hitze oder Kälte zu trotzen.
Am folgenden Morgen wurde es offensichtlich, dass die Gruppe ihren Kampfgeist verloren hatte. Nicht einmal Chiyo versuchte großartig, uns zu motivieren. Wir machten uns auf den Weg zur verlassenen Basis meines Stammes und ich musste heftig schlucken, als ich Lance' Zaun um die Hütte erblickte. Über Nacht hatten wir alle unsere Motivation verloren. Ein Artefakt fehlte uns und somit auch der Hinweis, um das nächste zu finden. Wir hatten keine Aufgabe mehr, keinen Grund zu kämpfen und unsere Leben zu riskieren.
Immerhin redeten Yin und Himaya den ganzen Tag über nichts anderes, was nervig hätte sein können, aber es war eher aufschlussreich.
„Ich bin mir zu hundertzwei Prozent sicher, dass wir an der richtigen Stelle gesucht haben", mischte ich mich ins Gespräch ein, und half den beiden dabei, einen Dodo zu rupfen.
Yin stimmte mir zu, Himaya nach kurzem Zögern auch. „Es kommt mir nur so unwahrscheinlich vor, dass jemand zufällig dort das Artefakt gefunden hat", gab sie zu Bedenken.
„Es muss so gewesen sein", sagte Yin und riss an einer Handvoll grauer Federn. „Wir haben den Hinweis für das Artefakt, kein anderer."
„Das wissen wir nicht", widersprach ich. „Vielleicht gibt es noch andere Wege, Hinweise zu finden." Das wäre jedenfalls wahrscheinlicher, als dass jemand einfach so in den Sumpf vordringt.
Himaya hob die Schultern. „Vielleicht wollten sie auch zum roten Turm und haben das Artefakt zufällig entdeckt. Priscilla musste von ihrer Startposition ja auch da lang."
Ich schüttelte wortlos den Kopf. Die Theorie fühlte sich nicht richtig an. Ich musste an die Fußspuren im Sand denken, die mich ganz am Anfang zu Sophie geführt hatten. Wenn uns damals tatsächlich jemand belauscht hatte, vielleicht hatten sie es irgendwie geschafft, sich die Position der Artefakte zusammenzureimen. Aber das half uns alles nichts. Theorien brachten uns nicht weiter. Wir brauchten einen neuen Plan, ein neues Ziel. Wenn jemand anders das Artefakt an sich genommen hatte, nützte das niemandem was ohne die drei Artefakte von uns. Man brauchte alle sieben für einen Weg nach Hause.
Ich ließ den Blick über unsere Gruppe schweifen. Diego und Pablo, die mit dem Fernglas auf dem Dach saßen. Sophie, Priscilla und Nicky beim Fischen. Tim, Chiyo und Kemen, wie sie den Zaun verbesserten. Drei Stämme, die sich wegen der Artefakte verbündet hatten. Der Frieden würde halten, oder? Es war ausgeschlossen, dass wir anfangen würden einander umzubringen, damit ein Stamm von uns überleben konnte. Oder anfangen würden, fremde Stämme zu eliminieren. Das würde nicht passieren. Dafür waren wir nicht verzweifelt genug. Das hoffte ich zumindest. Es hieß letzten Endes allerdings immer entweder nach den Regeln zu spielen oder trotzig von einem Monster-Dino gefressen werden. Nüchtern wurde mir bewusst, wie viel geringer meine Überlebenschancen heute waren. Wenn wir das fehlende Artefakt und den Hinweis nicht fanden, dann gab es keinen Ausweg für Sophie und mich. Dann musste eine von uns sterben.
***
Wir schlichen uns im Dschungel an der Basis des orangefarbenen Stammes vorbei und wagten uns erst wieder an den Strand, als die Hütte nicht mehr zu sehen war. Keiner sprach viel, Lance' Abwesenheit wog immer noch schwer auf der Gruppe.
Am Abend erreichten wir die verlassen daliegende Basis, in der wir schon einmal übernachtet hatten. Ohne größere Diskussionen wurde die Tür geöffnet und die Betten verteilt. Sophie und ich teilten uns einen Schlafsack und schliefen in einem der unteren Betten, als wir von Nicky wachgerüttelt wurden.
„Schon Zeit für unsere Wache?", fragte Sophie verschlafen und rieb sich die Augen.
Nicky schüttelte den Kopf und legte einen Finger an die Lippen. Im schwachen Feuerschein sah ich bereits Tim und Himaya, die ebenfalls wach waren. Himaya war gerade dabei das Feuer zu löschen und eine Sekunde später war die Hütte in Dunkelheit getaucht.
Sophie und ich hielten uns aneinander fest und lauschten in die Stille.
So still war es allerdings gar nicht. Vom nächtlichen Klangvorhang des Strandes und des Dschungels hob sich ein Geräusch ganz deutlich ab: Stimmen. Und sie kamen näher.
Möglichst geräuschlos weckte Nicky die anderen auf und jeder griff nach seinen Waffen. Mit Lance hatten wir auch die Spitzhacke verloren, aber Pablo hielt den Griff der Axt fest umklammert. Das helle Metall schimmerte im Mondlicht, das durch die Ritzen der Holzbretter fiel.
Flüsternd beratschlagten wir, was jetzt zu tun war. Wir konnten schlecht einfach hier warten, ob die Fremden hier reinkommen würden oder nicht. Wir mussten selber rausgehen und unsere Anwesenheit deutlich machen. Nachdem Chiyo erklärte, dass die Hütte schnell zur Todesfalle werden konnte, wenn wir nichts unternahmen, öffnete Tim die Tür und trat gefolgt von Pablo nach draußen. Wir anderen kamen ebenfalls schnell hinterher, bis sich dann elf Leute vor der Basis versammelt hatten und die vier anderen betrachteten, die wie zu Salzsäulen erstarrt ein paar Meter weiter am Strand innegehalten hatten, ganz klar unterwegs zu dieser Hütte.
Zuerst einmal sagte niemand etwas, alle beäugten einander nur misstrauisch.
Bei unseren nächtlichen Besuchern handelte es sich um den vollständig versammelten pinken Stamm.
„Hallo", sagte ein großgewachsenes Mädchen, dessen helles Haar im Mondlicht schimmerte. „Das ist unsere Hütte. Würdet ihr bitte verschwinden?" Sie hatte ein langes Messer in der Hand.
Priscilla lachte kurz ungläubig auf, riss sich aber ansonsten zusammen.
Ein dunkelhäutiger Junge, etwa von Tims Statur, stellte sich neben das Mädchen. Er ließ seinen Rucksack in den Sand fallen und hob sein Messer. Gerade als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam ich ihm zuvor. „Was ist in dem Rucksack?"
Der wasserabweisende Stoff war merkwürdig ausgebeult und dem Geräusch nach zu urteilen, mit dem er im Sand gelandet war, war der Inhalt recht schwer.
„Das geht dich gar nichts an", sagte das hellhaarige Mädchen.
„Antworte auf die Frage." Tim hob bedrohlich seinen Speer, anscheinend hatte er verstanden, worauf ich hinauswollte.
Die Stimmung kippte noch weiter, als sich nicht mehr leugnen ließ, dass ein grünes Leuchten durch die winzigen Lücken im Reißverschluss des Rucksacks drang.
„Okay." Chiyo trat mit erhobenen Händen nach vorn. „Wir beruhigen uns jetzt mal alle. Ihr habt das Artefakt gefunden? Das ist gut, aber eins alleine nützt euch nichts."
Der große Junge verzog den Mund und schüttelte den Kopf. „Dann holen wir uns die anderen eben auch noch."
„Wir haben schon drei", sagte ich triumphierend. Die Rucksäcke mit den Artefakten befanden sich in der Kiste im Inneren der Hütte. Wir würden sie mit unseren Leben verteidigen, weil es uns oft fast das Leben gekostet hatte, sie zu bekommen.
Das Mädchen, das wohl die Führung im pinken Stamm innehatte, zeigte ihre Zähne. „Denkt ihr wirklich, wir würden euch einfach unser Artefakt schenken?"
„Wir können uns verbünden", sagte Chiyo schlicht. „Wir sind zwö- elf Leute aus drei Stämmen, wir können euch ohne Probleme in die Allianz aufnehmen."
„Savannah", meldete sich das andere Mädchen des pinken Stammes zu Wort. „Vielleicht sollten wir-"
Savannah brachte sie mit einem Zischen zum Schweigen.
„Ihr wollt unser Artefakt unbedingt", sagte sie genüsslich. „Immerhin sammelt ihr ja, oder? Also, was gebt ihr uns dafür?"
Chiyo und ich warfen uns verblüffte Blicke zu.
„Dafür geben?", wiederholte Priscilla ungläubig. „Wir geben euch gar nichts dafür, ihr dämlichen Golems. Warum wollt ihr nicht zusammenarbeiten, das rettet nicht nur unser Leben sondern eures auch!"
Savannah lachte und schaute belustigt den Jungen an, der noch nicht gesprochen hatte. Jetzt trat er an ihre Seite und zog die Augenbrauen hoch. „Die Axt, auf jeden Fall. Die Messer. Trinkschläuche. Wir haben nur zwei Rucksäcke, also nehmen wir noch zwei von euren. Und vier Schlafsäcke, so viele habt ihr bestimmt." Sein Tonfall war so arrogant, dass ich schnaubte.
„Wir geben euch überhaupt nichts dafür!" Priscilla trat vor und verschränkte die Arme. „Alles was wir haben, brauchen wir, um die anderen Artefakte zu finden."
„Wenn das so ist", sagte der Junge und trat blitzschnell vor. Ehe ich noch mehr tun konnte als zusammenzuzucken, hatte er Priscilla gepackt und ihr sein Messer in die Seite gerammt.
Sie schrie vor Schmerz und sackte im Sand zusammen und absolutes Chaos brach aus. Einige von uns bewachten die Hüttentür, andere stürzten zu Priscilla, ein paar erwiderten den Angriff. Ich sah, wie Pablo Savannah entwaffnete und dann schrie wieder jemand ohrenbetäubend laut auf und die panischen Bewegungen wurden langsamer. Alles konzentrierte sich auf Tim, der das andere Mädchen gepackt hatte und ihr sein Messer an die Kehle hielt. Ihr Arm hing merkwürdig schlaff herunter und sie wimmerte.
„Jariani!", rief Savannah und fuhr herum. „Lass sie los!"
Tim packte Jariani nur noch fester und sie heulte auf vor Schmerz. „Das Artefakt. Jetzt."
Savannah hatte den Nerv, zu überlegen, ehe sie sich dazu durchrang, uns den Rucksack zuzuwerfen. Tim wartete, bis Diego ihn aufgehoben und sich zur Hütte zurückgezogen hatte, ehe er Jariani losließ und sie von sich stieß. Sie ging weinend zu Boden und hielt sich den Arm, der offenbar gebrochen war.
„In diese Richtung ist die orangefarbene Basis", sagte ich kalt. „Die sind vom selben Schlag wie ihr. Viel Glück."
Die beiden Jungs halfen Jariani auf und zu viert schlich die Gruppe davon, was ich aber kaum noch mitbekam. Priscilla hatte aufgehört zu stöhnen und Kemen, in dessen Schoß ihr Kopf lag, liefen Tränen über die Wangen und er schüttelte den Kopf.
Schweigen erfasste die Gruppe und fiel wie die Dunkelheit über uns. Diegos Finger bohrten sich in die gepolsterten Träger des Rucksacks. Für dieses Artefakt waren zwei von uns gestorben. Ich konnte noch gar nicht richtig begreifen, was da passiert war, konnte nur Kemen anstarren, der den Blick gesenkt hatte und Priscillas lange Zöpfe auf ihre Schultern bettete. Dunkles Blut hatte sich im Sand um sie herum gesammelt, hatte ihre und Kemens Kleider durchweicht, Kemens Hände waren voll davon. Im Mondlicht sah es schwarz aus.
Chiyo war die erste, die sich wieder berappelte. Sie ging neben Kemen in die Knie und redete leise auf ihn ein. Ganz langsam und vorsichtig schob er beide Hände unter Priscillas Kopf und legte ihn in den Sand, ehe er wie ein Roboter aufstand und sich von Chiyo zum Wasser führen ließ, um das Blut abzuwaschen.
„Was machen wir denn jetzt?", fragte Sophie leise und mit brüchiger Stimme.
Himaya legte ihr einen Arm um die Schultern. „Wir müssen sie begraben. Oder nicht?"
„Wie?", fragte Pablo schlicht und ließ sich zu Boden gleiten. Er blickte angestrengt hinaus aufs Wasser, versuchte offensichtlich Priscillas leblosen Körper nicht anzusehen. „Wir haben keine Schaufel."
Er hatte natürlich recht. Wir könnten höchstens mit den Händen im Sand graben, bis der Boden zu steinig wurde und sie dort beerdigen, aber die Vorstellung, dass sie von irgendwelchen Tieren vielleicht wieder ausgegraben werden könnte, war brechreizerregend. Es gab eigentlich nur eine wirkliche Alternative, aber niemand wagte es, sie auszusprechen. So gesehen war Lance' Tod einfacher gewesen. Niemand hatte es mit ansehen müssen, wenn man sich genug anstrengte, konnte man das Wort 'weg' vor das Wort 'tot' schieben, sich vormachen es gäbe noch Hoffnung. Bei Priscilla ging das nicht. Sie lag hier, direkt vor uns, ganz still. Es sah nicht aus, als würde sie schlafen. Der Tod war weniger friedlich. Er war grausam. Sie hatte so viel Besseres verdient als auf dieser Insel bei einem kranken Experiment oder Spiel oder was auch immer das hier war, zu sterben.
„Wir müssen einen Scheiterhaufen errichten", sagte ich schließlich und schloss die Augen. „Es geht nicht anders."
Pablo hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie man das Holz schichten musste, damit der Scheiterhaufen seinen Zweck erfüllte. Wir ließen Chiyo und Kemen Zeit und begannen ohne sie mit der Holzbeschaffung. Da es immer noch dunkel war, hielten wir uns am Waldrand und am Strand auf, in Gruppen von denen jede mit einer Fackel ausgestattet war. Pablo blieb bei Priscilla und schichtete das Holz, das wir ihm brachten. Es dauerte Stunden, bis wir fertig waren und der Horizont färbte sich bereits grau, als Pablo verkündete, wir hätten genug Holz. Der Scheiterhaufen war fast zwei Meter hoch, mit Priscilla im Zentrum verborgen.
Stumm versammelten sich alle um das Gebilde, eingeschüchtert, erschöpft und verängstigt.
„Jemand sollte etwas sagen", meinte Sophie schüchtern.
Zuerst warfen sich alle nur verunsicherte Blicke zu, doch dann trat überraschend Diego nach vorn und legte eine Hand an den Scheiterhaufen. „Priscilla", sagte er, „es tut mir so leid. Du wolltest bloß Frieden schließen und musstest dafür so viel bezahlen. Du warst ... du warst nicht bloß ein Stammesmitglied, du warst unsere Freundin." Er musste kurz durchatmen. „Du warst so mutig und zäh und hast dich von nichts unterkriegen lassen. Du wirst uns so fehlen. Wir werden dich nie vergessen."
Diego senkte den Kopf und trat zurück. Chiyo legte ihm schützend eine Hand auf die Schulter. „Wir werden dich nie vergessen", wiederholte sie.
Wir werden dich nie vergessen. Die Worte echoten durch die Runde, dann war es Zeit. Himaya, Pablo, Tim und Nicky hielten je eine Fackel an jede der Ecken des Scheiterhaufens, bis ein stabiles Feuer entfacht war. Ein paar Minuten lang schauten wir uns das Spektakel an, dann packten wir unsere Sachen und zogen weiter in Richtung der roten Basis. Niemand wollte lange genug bleiben, um verbrennende Haare und Fleisch zu riechen.
Obwohl niemand von uns viel geschlafen hatte – Nicky hatte in der Nacht überhaupt kein Auge zugetan – war es besser, sich von der Hütte zu entfernen, sich zu bewegen. Alle waren erschöpft und ausgelaugt und das nicht nur körperlich. Die Verluste wogen schwer auf uns. Es war unfassbar, wie viel Glück wir bisher gehabt hatten. Hätten wir uns nicht so beharrlich am Strand aufgehalten, wären wir leichtsinniger gewesen und öfter in den Dschungel gegangen, dann wären jetzt mit Sicherheit schon mehr von uns tot.
Wir erreichten die Basis am Nachmittag und zwangen Nicky, sich einen Schlafsack zu nehmen und sich schlafen zu legen. Sie gehorchte ohne großen Widerstand. Der Rest von uns saß eine ganze Weile einfach im Gras vor der Hütte, ohne dass jemand etwas sagte oder tat. Das Lagerfeuer war kalt, der Zaun musste ausgebessert werden. Keiner hatte im Augenblick die Kraft dafür. Die erste, die sich wieder räusperte, war Yin. Sie bat Diego um den Rucksack mit dem Artefakt und er reichte ihn ihr kommentarlos rüber.
Das Artefakt leuchtete grün und war eckig und länglich geformt. Oben und unten setzten sich Spitzen vom Hauptkörper ab. Yin tastete daran herum, bis eine Spitze sich abschrauben ließ und sie den Zettel mit dem Namen des Artefakts herauszog.
„Das Artefakt des Jägers", verkündete sie und warf den Zettel beiseite. Dann holte sie das nächste Rätsel heraus.
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