Kapitel 15 - Orange
Das Verbrennen von Leichen ist der beste Weg, um sich vor Aasfressern zu schützen.
Yin und Himaya hatten keine Minute geschlafen. Als ich wach wurde, schliefen die meisten der anderen noch und ich konnte Sophie im gegenüberliegenden Bett erkennen. Sie hätte eigentlich die letzte Wache übernehmen und uns vor Sonnenaufgang wecken sollen, aber offenbar war sie selber nicht geweckt worden.
Langsam regten wir uns alle und stolperten einer nach dem anderen aus der Hütte. Die beiden anderen saßen am Feuer, Yin hatte die beiden Kartenstücke vor sich ausgebreitet, daneben ihr Notizbuch, Himaya lief wie ein Tiger von einer Seite des Zauns zur anderen und beide spielten einander Satzfetzen und Ideen zu. Es war wie ein intellektuelles Tennismatch.
„Die runde Bucht", las Himaya vor.
„Drayo's Cove", gab Yin zurück und tippte auf eine Stelle auf der Karte.
„Mit Blick auf den Hafen."
„South Haven."
„Bist du sicher?"
„Es steht hier genau so!"
Pablo kam gähnend aus der Hütte und streckte sich. „Was redet ihr da eigentlich?"
Himaya blieb stehen und auch Yin erhob sich. Ihre Knie knackten, als hätte sie schon eine ganze Weile gesessen. Die beiden schauten sich an, dann begann Himaya zu erklären, dass sie das Rätsel – unter Vorbehalt – gelöst hatten. Es gab eine Insel im Süden, die auf der Karte als South Haven beschriftet war: Der südliche Hafen. Gegenüber von dieser Insel gab es tatsächlich eine runde Bucht, die Drayo's Cove hieß. Dort war das nächste Artefakt versteckt.
Ich blickte Yin über die Schulter, um mir das Kartenstück anzusehen.
„Durch Drayo's Cove sind wir sogar gelaufen, auf dem Weg hierher", sagte ich und zeigte Yin auf der Karte, wo sich unsere alte Basis befand. „Aber wir haben da nichts Spannendes gefunden."
„Das hab ich auch schon gesagt", schaltete sich Himaya ein. „Aber wir glauben, das Gedicht spricht von so einem Felsspalt, wie auf Carnivore Island."
„Es gibt einen Ort, der im Dunkeln liegt", zitierte Yin geheimnisvoll.
Allmählich hatten sich alle draußen versammelt und wurden langsam wach. Wer schon klar denken konnte, beteiligte sich an der Diskussion, aber viel zu diskutieren gab es gar nicht mehr. Himaya und Yin hatten das Rätsel gelöst, es blieb nur noch die Frage, ob wir überhaupt runter nach Drayo's Cove reisen und das nächste Artefakt suchen sollten, oder nicht. Ob die Artefakte es wert waren, unser Leben zu riskieren oder nicht.
„Was ist denn die Alternative?", fragte Lance mit seiner typischen rechthaberischen Aggressivität. „Wenn es wahr ist, dass wir sieben Artefakte brauchen, damit wir alle hier rauskommen, dann lasst uns das auf jeden Fall machen. Ich sterbe lieber beim Versuch, hier rauszukommen als von einem T-Rex gefressen zu werden, während ich hier Camping mache. Ich will nicht hier sitzen und auf den Tod warten."
Viele der anderen nickten, aber Tim, Priscilla und ich waren etwas vorsichtiger. Es war kein Vergnügen gewesen, von Raptoren eine Klippe hinaufgejagt und von Microraptoren angesprungen zu werden.
Als es dann auf Chiyos Vorschlag hin zur Abstimmung kam, hoben sich allerdings einstimmig alle Hände. Niemand wollte hierbleiben und abwarten, bis etwas oder jemand vorbeikam und uns aus dem Weg räumte. Wir hatten Vorteile genug, wir waren zu zwölft und ich war mir sicher, das hatte uns niemand nachmachen können. Aber ein Rudel Raptoren oder einen gigantischen Fleischfresser würde das nicht interessieren. Und jeder von uns zwölf war wichtig und begabt und wir brauchten jeden einzelnen.
Der restliche Tag wurde dazu genutzt, unsere Reise zu planen. Wir gingen fischen, jagten Dodos, sammelten Beeren und packten Rucksäcke um. Das Artefakt von gestern hierzulassen erschien uns zu riskant, also blieb es in Tims Rucksack und er übernahm die Pflicht, darauf aufzupassen.
Die Nacht war bewölkt, aber zum Glück blieb es trocken. Ich schlief nie besonders viel, wenn ich an der Reihe war, mit ein paar der anderen draußen zu schlafen. Priscilla war da entspannter, sie hatte es sich angewöhnt, in einem Schlafsack auf dem Hüttendach zu schlafen. Ich befand mich im Dunkeln doch lieber hinter den sichereren Holzwänden. Dafür war ich heute als eine der ersten wach und überprüfte am Strand die vertäuten Flöße. Außer zwei Schildkröten und einem Dilo begegnete mir nichts und der Dilo war von der vorsichtigen Sorte und floh den Strand hinauf in den Dschungel, als ich in seine Richtung kam.
Die Flöße waren mit dem Teufelszungenknoten zusammengebunden und er hielt wie versprochen bombenfest. Der Horizont im Osten begann sich zartrosa zu verfärben, als ich zurückkehrte und die anderen weckte. Wortkarg aber entschlossen erledigte jeder seine Aufgaben und wir fanden uns bei den Flößen ein, als der nahende Sonnenaufgang den Himmel mit warmen Farben übergoss. Pablo verteilte die Ruder, dann schoben wir die Flöße ins Wasser. Es war zwar anstrengend, aber sicherer, in Ufernähe zu paddeln statt am Strand entlang zu laufen. Hier war das Wasser nicht tief genug für riesige Seemonster und vor Haien sollten wir so nah am Strand auch sicher sein.
Eine Weile ruderten wir parallel zum Land nach Osten, direkt der aufgehenden Sonne entgegen, dann knickte das Land nach Süden ab und wir ruderten in diese Richtung weiter. Einmal hielten wir an, um im seichten Wasser Rast zu machen. Absteigen konnten wir allerdings nicht, denn das Wasser war von Seeskorpionen bevölkert, aber von hier konnten wir die Basis beobachten, in der wir auf unserem Weg zum roten Stamm übernachtet hatten. Sie wirkte so verlassen wie eh und je. Es gab keinen Zaun um die Hütte herum, die Tür war geschlossen und nichts regte sich.
Am Nachmittag erreichten wir die andere Basis, an der wir auf unserem Hinweg vorbeigeschlichen waren: Die des orangefarbenen Stammes. Sie hatten inzwischen einen ziemlich soliden Zaun errichtet, durch den wir nicht erkennen konnte, ob sie zuhause waren oder nicht. Es wurde beschlossen, nachschauen zu gehen. Wenn wir uns auch noch mit ihnen verbünden könnten, wäre das fantastisch. Sechzehn Leute anzugreifen wäre noch mal schwieriger. Vielleicht müssten wir ein paar Tage hierbleiben, um ein drittes Floß zu bauen, aber auch das wäre machbar.
Wir schoben die Flöße an den Strand und nährten uns vorsichtig der Basis, die Waffen locker an der Seite. Ich wurde vorgeschickt, weil es angeblich mir zu verdanken war, dass unsere drei Stämme sich verbündet hatten. Das war zwar Quatsch, aber davon wollte niemand etwas hören.
„Hallo?", rief ich in Richtung des Zauns und kam mir ziemlich idiotisch dabei vor.
„Verzieht euch!", kam es unfreundlich zurück.
„Wir wollen euch nichts tun", erwiderte ich. „Wir wollen uns verbünden."
Stille. Dann: „Ich hab gesagt, verzieht euch! Wir haben kein Interesse."
Lance verlor die Geduld und trat an meine Seite. „Habt ihr die Hinweise in den Notizbüchern gefunden? Wir haben das Rätsel gelöst."
„Interessiert uns einen Scheiß!"
Der Zaun raschelte und von beiden Seiten der Basis kamen uns die Mitglieder der orangefarbenen Stammes entgegen. Ich kannte niemanden davon, aber einige der anderen schon.
„Lukas", begrüßte Chiyo den stämmigen Jungen kühl. „Er ist zusammen mit Himaya, Pablo und mir gestartet."
Lukas spuckte auf den Boden. „Wir verbünden uns nicht", sagte er schlicht.
„Hör doch erst mal zu –", setzte ich an, doch Lukas schnitt mir das Wort ab.
„Wir spielen dieses Spiel richtig!" Er sprach sehr laut, um mich zu übertönen. „Weil wir wissen, was sonst passiert." Er wedelte mit seinem Implantat-Arm.
„Warte –"
Chaos brach aus, als die vier vom orangefarbenen Stamm vorpreschten und uns angriffen. Trotz der Spielregeln hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass jemand so weit gehen würde und das gegen so eine Überzahl. Es musste die Verzweiflung sein, die sie antrieb. Sie konnten nicht an einen Ausweg glauben, einen bei dem sie nicht sterben oder selbst zu Mördern werden mussten.
Ich versuchte zusammen mit Himaya ein Mädchen mit brauner Haut und langen schwarzen Locken zu entwaffnen, als ein Schrei die Luft zerriss. Mein Fuß rutschte im Sand weg, als ich mich viel zu schnell umdrehte und ich sah Sophie dastehen, die Augen vor Schreck geweitet, die Hände erhoben und die Handflächen voller Blut. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und die Angst drohte mich einen Moment lang zu ersticken, dann sah ich Lukas, den großen, stämmigen Jungen des orangefarbenen Stammes, zu Sophies Füßen liegen. Er wimmerte panisch und drückte sich die Hände auf den Bauch. Das Blut strömte nur so in den Sand.
Sophies Messer war blutverschmiert auf den Boden gefallen. Er hatte sie angegriffen, hatte sich eine der Kleinsten aus der Gruppe herausgepickt und sie hatte sich mit allen Mitteln gewehrt und gewonnen.
Ich kämpfte mich aus dem Sand hoch und rannte zu Sophie. Sie ließ sich widerstandslos in eine Umarmung ziehen, reagierte aber ansonsten nicht. Zitternd stand sie da, steif wie ein Brett, während Lukas' schmerzerfüllte Geräusche leiser wurden.
Ich ließ sie los und drehte mich zu den anderen um. Der Kampf war vorbei. Alle starrten geschockt auf Lukas, bis eines der fremden Mädchen zu ihm stürzte und sich neben ihn in den Sand warf.
„Er ist tot!", schrie sie und blickte anklagend hoch zu Sophie. „Du hast ihn getötet! Du hast ihn getötet!"
Sophie machte einen wackeligen Schritt rückwärts, dann fing sie an zu rennen. Sie rannte ins Wasser, bis sie stolperte, dann blieb sie einfach sitzen. Die anderen links liegen lassend folgte ich ihr so schnell ich konnte. Sie saß bis zur Brust im Wasser und schaute wortlos zu, wie es das Blut von ihren Händen spülte.
„Ich bin ein Monster", flüsterte sie kaum hörbar.
„Nein, nein, nein." Ich nahm ihre Hände, um irgendwie ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. „Du hast dich nur gewehrt, Sophie, er wollte dir wehtun."
„Er ist tot." Diesmal musste ich die Worte praktisch von ihren Lippen ablesen.
Ich sagte ihren Namen, aber sie schien mich nicht zu hören. Zu allem Überfluss kamen die anderen zu uns und Lance begann Sophies Messer zu waschen. Das Wasser färbte sich um die Klinge herum rot. Tränen liefen über Sophies Gesicht.
„Kann sie laufen?", fragte Priscilla. „Wir müssen hier weg. Sofort."
„Sie braucht noch Zeit!", gab ich giftig zurück. Sophies Wohlergehen war mir viel wichtiger, als alles andere. Die orangefarbenen würden es nicht noch einmal wagen, uns anzugreifen. Und wenn doch, würde ich sie eigenhändig in die Flucht schlagen. Niemandem hätte etwas passieren müssen. Niemand hätte sterben müssen.
„Bleib bei ihr", sagte ich zu Yin, die gerade neben mir auftauchte. Dann stand ich auf.
„Wir gehen jetzt da rein", sagte ich laut und zeigte auf die Hütte unserer Feinde, „und nehmen denen alles weg, was nicht niet- und nagelfest ist. Wir rauben sie aus."
Die Reaktionen waren gemischt, aber das kümmerte mich gerade einen Dreck. Wer nicht unser Freund war, war unser Feind. Sie hatten uns angegriffen und wir hatten gesiegt. Sophie hatte gesiegt und wir würden mehr davon haben, als bloße nagende Schuldgefühle. Sie würde das nicht umsonst getan haben.
Begleitet von einigen der anderen kehrte ich mit gezückten Waffen zur Hütte zurück. Die drei saßen neben ihrem toten Freund und trauerten. Wir marschierten an ihnen vorbei und ignorierten ihren schwachen Protest. Der Zaun hielt uns nicht auf, wir rissen ihn um den Eingang herum einfach nieder und stürmten die Hütte. Lance und Tim hielten draußen Wache, während Himaya, Pablo und ich uns drinnen umschauten. Der orangefarbene Stamm hatte wohl an irgendeinem Punkt eine Versorgungssonde gefunden, denn sie hatten vier Schlafsäcke, zwei große Rucksäcke, ein Kartenstück und eine richtig gute Fackel. In der Kiste hatten sie zwei Kokosnüsse. Wir ließen ihnen nichts. Alles wurde mitgenommen und ich hätte ihnen auch noch ihr Lagerfeuer weggenommen, hätte ich noch etwas tragen können.
„Bitte nicht", sagte der andere Junge, dem Tränen übers Gesicht liefen. „Bitte nicht."
„Das hättet ihr euch vorher überlegen sollen", entgegnete ich kalt. „Ist mir so egal, ob ihr jetzt nachts friert. Wir hätten Freunde sein können", fügte ich bitter hinzu. Dann nickte ich zu Lance und er gab uns Rückendeckung, als wir die Sachen zu den Flößen trugen und dort mit Himayas Hilfe verstauten.
„Das hättet ihr nicht tun sollen", sagte Chiyo und lehnte sich ans Floß.
„Nicht jetzt", knurrte ich.
„Entschuldige mal –"
Ich zurrte die Schlafsäcke mit einer Liane und dem Teufelszungenknoten fest und fuhr herum. „Lass gut sein, Chiyo! Das hier ist bitterer Ernst, okay?!"
Sie ließ sich nicht so leicht einschüchtern. „Sie haben ein Stammesmitglied verloren. Warum willst du ihnen auch noch die Sachen wegnehmen?"
Ich machte meiner Wut Luft und kickte gegen das Floß. „Weil wir sie dringender brauchen!", schrie ich sie an. „Die sitzen nur hier, während wir alles riskieren, damit alle gerettet werden! Wir schlafen dauernd draußen, wir brauchen die Schlafsäcke und die Fackel und das Kartenstück, okay?"
Chiyo überlegte kurz, dann hob sie die Hände und senkte den Blick. „Hast ja recht. Es ist nur ... eine harte Maßnahme."
„Sie haben uns angegriffen", entgegnete ich unbeeindruckt. Meine Stimme war inzwischen heiser.
„Aber sie haben niemanden verletzt."
Sofort kochte die Wut wieder hoch. „Wenn du ihr gegenüber auch nur eine einzige Andeutung machst, dass sie auf irgendeine Art die Schuld trifft, dann trete ich dir so was von in den Arsch, Chiyo, das glaubst du nicht."
An Chiyos Kiefer zuckte ein Muskel. „Komm mal wieder runter, ja? Nur weil du in sie verknallt bist, musst du nicht beleidigend werden."
Mir fiel ein Stein in den Magen. Was hatte sie gesagt?
Chiyos Gesicht bekam einen weicheren Ausdruck. Sie machte einen Schritt auf mich zu. „Entschuldige. Wir sind auf derselben Seite und sollten nicht streiten. Freunde?" Sie hielt mir ihre Hand hin und ich ergriff sie leicht zittrig.
Verknallt? In Sophie? Warum blieben gerade diese Worte in meinem Kopf, wo sie doch viel weniger wichtig für unsere Lage waren, als der Rest? War ich tatsächlich in Sophie verliebt? Und wenn ja, was bedeutete das für unser Überleben?
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