Kapitel 13 - Raptor
Vergiss nicht, du musst nicht schneller als die Dinosaurier rennen, nur schneller als deine Freunde!
„Es gibt hier keine Vögel", stellte sie fest und ließ die Feder wieder fallen, um ihr Messer fester zu umklammern.
Wie auf Kommando blickten wir alle zu dem Felsspalt, über dem das blaue Symbol eingraviert war. Alles schrie Falle, alles in mir wollte mich zum Rückzug zwingen. Aber die anderen blieben, wo sie waren, und so rührte auch ich mich nicht.
„Wir können entweder unser Glück mit dem Rätsel versuchen", sagte Lance und machte einen Schritt vorwärts, die Spitzhacke bereit zum Schlag in einer Hand, „oder wir werden alle auf dieser dreckigen ARK sterben." Er ging voraus, Priscilla und ich folgten und Tim und Kemen bildeten die Nachhut.
Der Felsspalt wurde nach nur einem Meter pechschwarz, bis auf ein geheimnisvolles blaues Leuchten in seinem Inneren. Es war eng. Tim mit seinen breiten Schultern und Armen passte nicht durch und wartete draußen. Wir mussten ein paar Mal alle wieder zurück, weil der Spalt nach hinten hin immer enger wurde und auch Kemen und Lance es nicht schafften, an das blau leuchtende Ding zu kommen, das anscheinend an der hinteren Wand befestigt war. Priscilla war von uns die dünnste und kam zumindest am nächsten heran.
„Warum haben wir Diego nicht mitgenommen, verdammt noch mal!", fluchte sie mit zusammengebissenen Zähnen, während sie ihren Arm so weit wie möglich ausstreckte.
„Kommst du ran? Soll ich Diego holen?", fragte Kemen vom Ausgang her.
„Ich glaube, ich schaffe es", kam es von einer sehr angestrengten Priscilla zurück. Sie arbeitete nicht still vor sich hin, sondern streckte sich unter dauerndem Fluchen über die Enge und die Finsternis und die Aufgabe und die ARK. Dann: „Ich hab's! Ich hab's, es ist schwer!"
Wir reichten das Teil durch die Kette aus mir, Lance und Kemen weiter nach draußen, wo wir es im Tageslicht anschauen konnten.
„Es ist wirklich ein Stein", stellte Lance überrascht fest.
Aber das stimmte nicht ganz. Das Teil sah auf den ersten Blick so aus, war aber eigentlich aus demselben dunkelgrauen Material wie die Versorgungssonden und die Implantate. Außerdem ähnelte es dem Symbol über dem Felsspalt; es war ein Kreis, von dem asymmetrisch mehrere Zacken wie die Strahlen einer kindlich gezeichneten Sonne abstanden. Die Kanten leuchteten in diesem geheimnisvoll blauen Licht.
Plötzlich stieß Kemen einen Schrei aus und deutete auf etwas in einigen Metern Entfernung. Ein Tier regte sich an der Seite der Insel, die zum Festland hinzeigte.
„Schnell!", zischte ich und half Tim, unsere Beute in den leeren Rucksack zu stopfen. Es passte gerade so hinein.
„Lauft!", rief Lance und ich konnte einen kurzen Blick auf das Tier erhaschen. Es war gar kein Tier, es war ein Rudel. Zweifellos handelte es sich hierbei um die Besitzer der Feder, die Priscilla vorhin gefunden hatte. Die Viecher liefen auf zwei kurzen Beinen, hatten Flügel statt Arme und stießen schrille Schreie aus, während sie auf unsere Gruppe zustürmten. Zwar waren sie nicht groß, aber es waren viele und sie hatten Zähne.
Wir rannten in Richtung der Flöße zwischen den Steinen hindurch, als ohne Vorwarnung eines dieser Viecher von einem Felsen heruntersprang und direkt auf mir landete. Ich schrie erschrocken auf und riss mein Messer nach oben, um das Tier irgendwie zu treffen, aber es biss mich in den Oberarm und verkrallte sich mit den Füßen im Stoff meines Oberteils. Schreiend ging ich zu Boden, ließ das Messer fallen und versuchte es irgendwie mit bloßen Händen von mir zu schubsen. Die spitzen Zähne vergruben sich nur tiefer in meinen Arm und ich heulte auf vor Schmerz.
Dann lockerte sich der Biss und das Vieh wurde von mir weggerissen.
„Bist du okay?" Tims besorgtes Gesicht erschien über mir und er zog mich auf die Füße. „Du blutest."
Das Blut lief mir den Arm hinunter und tropfte von meinen Fingerspitzen. Ich konnte nicht sprechen, mein Herz klopfte mir bis zum Hals. So nah war ich bisher keinem Dinosaurier gekommen. Irgendein Teil von mir hatte immer noch an der aberwitzigen Hoffnung festgehalten, sie wären nicht real.
„Luana, wir müssen weiter." Tim rüttelte mich am unverletzten Arm und holte mich unsanft in die Realität – genau, da waren noch mehr von den komischen Viechern hinter uns her. Wir wollten gerade den anderen folgen, als sie zurückgerannt kamen, als wäre der Teufel hinter ihnen her.
„Lauft!", japste Kemen, als er an uns vorbeipreschte und zog mich an der Hand mit sich.
Die Monster waren anscheinend an allen Seiten der Insel aufgetaucht. Wir rannten die immer steilere Erhöhung hinauf, waren aber noch ein ganzes Stück von ihrem Gipfel entfernt, als ich das erste Mal das Geräusch hörte, das mich zwang, mich umzudrehen.
Was uns verfolgte, hatte die kleinen Vogel-Dinos vertrieben. Sie waren zu zweit, waren zwei Meter groß und gehörten zu den einzigen Dinosauriern, die ich ohne Hilfe identifizieren konnte: Wir wurden gejagt von zwei Raptoren.
Panik, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte, ergriff Besitz von mir. Meine Sinne schärften sich und ich konzentrierte all meine Anstrengung auf meine Schritte. Wenn ich jetzt stürzte, dann war alles vorbei. Wenn ich auf einen losen Stein trat, dann würde ich lebendig gefressen werden. Der Tod verfolgte mich mit unglaublicher Geschwindigkeit und er hatte Zähne.
Mit verbissener Anstrengung kämpfte ich mich vorwärts, immer weiter, immer höher die ansteigende Klippe hinauf.
Und dann geschah es.
Lance, der zu meiner Linken ebenso verzweifelt um sein Leben rannte, stolperte über eine verkümmerte Wurzel und stürzte hart zu Boden.
Tim hatte es ebenfalls bemerkt und drehte sich mit einem Schrei um. Er hob den Speer und rutschte zu Lance hinunter, der wimmernd einige Meter weiter unten liegen blieb.
„Tim!", brüllte Kemen.
„Lauft zu den anderen!", schrie Tim zurück.
Die anderen gehorchten, aber ich konnte nicht weiterrennen. Ich sah ihnen nach, wie sie nach rechts abbogen und die Klippe wieder herunterrutschten. Von da aus ging es über einige flache Steine mit Gezeitenbecken zurück zum Strand, zu den anderen, die bei den Flößen abreisebereit im Wasser standen, und alles verfolgten.
Die Raptoren hatten zu Tim und Lance aufgeschlossen und Tim hielt sie mit seinem Speer in Schach, damit Lance aufstehen konnte. Er schien verängstigt, aber unverletzt. Ich kannte mich zwar nicht mit Dinosauriern aus, aber etwas an der Situation war komisch. Die Raptoren interessierten sich überhaupt nicht für Lance, obwohl er die leichtere Beute war. Um seine Spitzhacke benutzen zu können – die er Gott sei Dank nicht verloren hatte – musste er auf eine kurze Distanz an die Raptoren heran. Tim hingegen konnte sie mit dem Speer auf Abstand halten, wurde aber ohne Unterbrechung von ihnen fixiert. Etwas stimmte hier nicht. Die Vogel-Dinos und die Raptoren waren erst aufgetaucht, nachdem wir den Stein von seinem angestammten Ort entfernt hatten. Möglicherweise hatten sie es auf denjenigen abgesehen, der versuchte den Stein von der Insel zu entfernen. Hatte jemand die Raptoren darauf abgerichtet? Wie sollte das möglich sein?
„Tim!", sagte ich möglichst ruhig, „ich glaube, sie wollen den Stein."
Tim gab ein Knurren von sich. „Den können sie nicht haben."
„Lass ihn fallen", bat Lance und verzog das Gesicht. „Wir sterben nicht für so ein blödes Teil. Wir wissen ja nicht mal, wozu es da ist."
Tim schüttelte stur den Kopf. Die Raptoren beäugten ihn aus ihren wilden Augen und klackerten mit der langen Kralle auf den steinernen Untergrund. Trotz des Speeres, den Tim immer noch vor sich ausgestreckt hatte, versuchte einer sein Glück und machte einen großen Schritt auf ihn zu. Tim traf ihn mit der Speerspitze am Kopf, was ihm einen wütenden Schrei entlockte, ihn aber nicht sonderlich störte. „Lance, steh auf, geh zu Luana, und klettert weiter."
„Und der Rucksack?" Ich hatte Lance noch nie so verängstigt erlebt. Aber mir ging es ja selbst nicht besser. Mein Arm schmerzte wie die Hölle und der Biss hörte nur langsam auf zu bluten. Ich konnte den Blick nicht von den Raptoren abwenden. Sie waren wie fleischgewordene Albträume. Und hier war ich und hatte gedacht, Jurassic Park hätte die Raptoren falsch dargestellt – aber diese Viecher sahen beinahe genauso aus. Sie hatten Gefieder statt Schuppen, sie hörten sich anders an, aber sie waren genauso groß und mindestens so furchterregend. Der eine zeigte dauernd seine Zähne und stieß Luft durch die Nüstern aus.
„Ich behalte den Rucksack", antwortete Tim. Seine Stimme war vollkommen ruhig, vermutlich wirkte der Schock bei ihm so. Während Lance von solchen Situationen direkt bis ins Mark getroffen wurde und sich verhielt wie ein Reh im Scheinwerferlicht, konnten Tim und ich einen kühlen Kopf bewahren und alles Unnötige ausblenden. „Wenn ich nur deswegen noch am Leben bin, dann nutze ich das aus."
Er hatte vermutlich recht. Niemand konnte mir erzählen, dass wir noch leben würden, hätten die Raptoren bereits ernsthaft versucht uns zu töten. Etwas hatte sie bisher davon abgehalten und mir fiel keine andere Antwort ein als das, was sich in Tims Rucksack befand.
Ich warf einen kurzen Blick hinüber zu den anderen, die noch immer mit den Flößen im seichten Wasser standen. Oder waren sie ein Stück weiter von der Insel entfernt als eben? Sie würden uns nicht zurücklassen. Das konnten sie nicht. Wenn ich diese Hoffnung verlor, dann war es um mich geschehen.
Lance kam langsam wieder auf die Füße. Sein linkes Bein war vom Knöchel bis zum Oberschenkel aufgeschürft, ein Schnitt an seinem Knie blutete stark. Rückwärts, um die Raptoren nicht aus den Augen zu verlieren, kam er langsam die Klippe hinauf in meine Richtung. Ich streckte die Hände nach ihm aus und hielt seinen Arm fest. Einem der Raptoren passte anscheinend die Situation nicht und er schrie einmal schrill auf. Daraufhin begannen sie, Tim einzukreisen.
„Wir müssen laufen!", rief ich und drehte mich um. Die Klippe wurde steiler und steiler.
„Wohin?", rief Lance, folgte mir aber sofort. Auch Tim kämpfte sich mit großen Schritten weiter nach oben.
Verfolgt von den grauenerregenden Geräuschen der Raptoren erreichten wir die oberste Kante der Klippe, die als Steilwand zum Meer hin abfiel. Unter uns befand sich nichts mehr, außer der blaue Ozean.
„Wir müssen springen!", rief Tim, als er wenige Sekunden nach uns oben ankam und die Lage sofort erfasste.
„Aber-" setzte ich an, doch es war zu spät. Das Klacken der Krallen kam näher, die Reptiliengeräusche wurden lauter und Tims Angst vor den Raptoren war stärker, als seine Angst vor der Höhe. Er packte Lance am Arm und sprang. Einer der beiden – vermutlich Lance – schrie, bis sie Sekunden später ins tiefblaue Wasser tauchten. Die Klippe war mindestens fünfzehn Meter hoch. Ich blieb oben allein zurück. Unten tauchte Lance' heller Schopf aus den Wellen auf, also war das Wasser wohl zumindest tief genug.
Ich musste springen. Ich durfte nicht denken.
Es gab keine Zeit mehr und als ich den heißen Atem eines Raptors im Nacken spürte, kniff ich die Augen zu und ließ mich nach vorn fallen.
Panisch strampelnd tauchte ich ins Wasser ein und riss die Augen auf. Der Ozean in der normalen Welt war schon unheimlich genug, aber ich hätte mir denken können, dass das Meer, welches die ARK umgab, noch viel, viel schlimmere Kreaturen beherbergte. Eine davon schien sich in den Tiefen unter uns zu bewegen.
Wir waren direkt in das Revier eines Seemonsters gesprungen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro