Das Ende
Kellergewölbe der Buchner Nervenklinik
Unterwaagen, Aschland
09.11.2158, 10:13 Uhr, Shatterlands (Ehemaliges Deutschland)
„Skar?"
Ein Wort – doch es barst mit Emotionen.
Leonora zog das Seidenbettlaken an ihre Brust, nicht sosehr um ihre Nacktheit zu bedecken, sondern als wolle sie sich vor der Grausamkeit des Moments schützen. Ihr Blick verklärte sich, als sie ihren zurückweichenden Liebhaber flehentlich ansah. Sein sonst so grimmiges Gesicht, das oft nur für sie zu lachen schien, war zu einer Maske der Überraschung erstarrt. Der Ausdruck in seinen Augen schmerzte mehr, als Leonora es in Worte fassen konnte, denn da war kein Erkennen in ihnen.
Sie schluckte, blinzelte eine Träne weg und zwang sich zu einem Lächeln. „Skar? Ich... Komm schon, hör auf damit, du machst mir Angst. Ich bin's. Er... erkennst du mich nicht?" Sie streckte eine Hand nach ihm aus. „Leonora. Du... du kannst mich nicht vergessen haben."
Er wich lediglich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die graue Betonwand gepresst dastand, sein vernarbtes Gesicht voll von widerstreitenden Gefühlen. Im falschen Licht der Morgensonne, die sich träge auf der flackernden Videobildwand hinter dem antiken Baldachinbett erhob, konnte sie jedes noch so kleine Detail seines massiven Körpers ausmachen.
Bis auf eine Vielzahl neuer Wundmale, die sich kreuz und quer über sein graues Fleisch zogen, war alles an ihm genauso wie an jenem Tag, da sie ihn befreit hatte: Ein mit Narben übersäter, aschfahler Hüne mit den Augen eines Wolfes. Ihr Blick fiel auf die auffälligste seiner neuen Narben: Ausgefranst und gezackt wucherte sie um seinen Hals. Das Zeichen einer Enthauptung, gebrannt in Fleisch. Leonora wollte schreien, wollte aufspringen und auf ihn einschlagen, wollte sich die Augen auskratzen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Er hatte sie vergessen, hatte seinen Kopf verloren und damit seine Erinnerungen an sie.
Ihr Anskar, ihr über alles geliebter Anskar war ... tot.
Oder war er es?
„Lady", begann dieser Fremde, der keiner war, und hob seine ihr so grausam vertrauten Hände. „Ich weiß zwar nicht, was zum Teufel hier gespielt wird, aber es ist nicht witzig. Wo ist Angelina?" Sein Kopf pendelte hin und her. „Und wo ... wo zur Hölle bin ich?"
Leonora wollte lachen, brachte aber nur ein Schluchzen zustande. Er hatte ja gar keine Ahnung wie treffend das Wort „Hölle" war, um diesen Ort zu beschreiben. Auf den ersten Blick schien der große Raum wie eine Mischung aus Bunker und Museum, ein wahrer Schatzhort voll mit antiken Möbeln, Teppichen und Gemälden, die bereits vor der Götterdämmerung alt und unbezahlbar waren. Man musste seinen Blick jedoch nur zu der Reihe aus säulengleichen Glastanks bei der Wand wandern lassen, um zu erkennen, dass dies die Höhle eines Monstrums war. Denn in ihnen trieben und wogten die Epidermis von Menschen und Veränderten wie Flaggen im Wind: Schlaffe, fleischlose Hüllen mit leeren Augenhöhlen und zu endlosen Schreien geöffneten Mündern. Auch er hatte diese verlorenen Seelen mittlerweile gefunden und starrte sie mit einer Mischung aus Unglaube und Entsetzen an.
Leonora schniefte, zog beide Knie an sich und umschlang sie mit ihren Armen, um nicht auseinander zu brechen. „Das ist das Zuhause von Smoke – einem Wahnsinnigen, der mit mir ... verschmelzen wollte. Du hast ihn getötet, hast mich gerettet. Erinnerst du dich nicht?"
Der Vernarbte riss seinen Blick von den geschändeten Hüllen in ihren Glastanks, blinzelte verwirrt und runzelte die Stirn. Sie konnte sehen, wie sehr er sich mühte, sich zu erinnern – und auch, dass es vergebens war. „Ich ... verdammte Axt, ich kann mich nicht erinnern."
Verdammte Axt ...Wenigstens das hat er nicht vergessen.
Leonora lachte – und es war voll von Bitterkeit. „Ja ... ja das dachte ich mir schon."
„Ich ..." Er schluckte schwer. „Ich war mit Angelina zusammen, das weiß ich noch, als—"
Leonora fegte das Seidenbettlaken Beiseite und sprang auf. Trauer erfüllte ihr Innerstes, doch da war auch Wut und paradoxerweise eine rasende Eifersucht. Die Worte sprudelten ungebremst aus ihr hervor. „Finsternis! Du fickst mich die ganze Nacht und kannst dich nicht einmal mehr an meinen Namen erinnern? Kannst du dich denn an irgendetwas außer deiner Angelina erinnern? Wie wäre es mit deinem Namen? Wo du herkommst? Was du gemacht hast? Irgendetwas aus deiner Vergangenheit? Irgendwas?"
Schmerz zerschmetterte die Maske dieses Fremden. Er sah aus, als würde er am liebsten in die Betonwand versinken. Ihre Worte trafen genau ins Mark, hämmerten auf ihn ein, zu schnell, zu rücksichtslos. Es war nicht fair; nicht ihr und ihm gegenüber, doch Leonora konnte nicht aufhören. Zuviel war in den letzten Tagen geschehen, zu viel war ihr genommen worden.
Sie lachte, schüttelte den Kopf. „Nichts, huh? Weißt du denn irgendwas außer dem Namen deiner verdammten Schlampe Angelina?"
Sie bereute die Worte kaum da sie ihren Mund verlassen hatten.
Es war, als würde jemand einen Schalter umlegen und der Mann, der vor ihr stand, war mit einem Mal ein anderer. Der gepeinigte Ausdruck auf seinen Zügen verschwand, ersetzt von einem grimmiger Leere, fast so als hätte jemand ein Tuch benutzt um alle Menschlichkeit fortzuwischen. Die Veränderung war wie eine Ohrfeige und Leonora taumelte zurück, hob ihre Hände in einer Abwehrhaltung. Eine vergebliche Geste.
Anskar war schon immer schnell gewesen für einen Mann seiner Größe, sehr schnell sogar, doch mit Leonora hat er sich nie in dieser Kategorie messen können. Es hatte seine Vorzüge ein Sukkubus zu sein: Übermenschlich scharfe Sinne, katzenhafte Reflexe und panterhafte Agilität, um nur einige zu nennen – all dies gab ihr einen klaren Vorteil im Konflikt mit den meisten Menschen und Veränderten. Was da jedoch vor ihr Stand war kein Mensch ...
Der Vernarbte streckte seinen rechten Arm nach ihr aus und lebendig gewordene Dunkelheit brach aus seinen Fingerspitzen, raste auf sie zu. Leonora hatte noch nicht einmal genug Zeit um zu schreien, bevor sich die Schattententakel um ihren Hals schlossen und sie von den Beinen gerissen wurde. Sie klatschte in seine Hand und Finger, unnachgiebig wie die Backen eines Schraubstockes, schlossen sich um ihre Kehle.
Knack-Knack-Knack.
Leonora spürte und hörte ihre Wirbel. Sie brachte nicht einmal ein Wimmern hervor, als er sie scheinbar mühelos am ausgestreckten Arm hielt, ihre Füße ein gutes Stück über dem Boden. Ihre Hände schossen automatisch vor, legten sich um seinen Unterarm, versuchten das Gewicht von ihrem Hals zu nehmen. Die Narben waren wächsern unter ihren Fingern, seine Muskulatur viel härter, als sie sie in Erinnerung hatte. Hart wie Stahl war kein einfaches Sprichwort mehr. Tränen legten einen Schleier über die Welt und ihre Augen suchten die seinen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Es war nicht er, der sie anstarrte ...
Es starrte sie an.
Die Augen ihres Liebhabers waren nicht mehr das ihr so vertraute Grün mit ihrem Herz aus Bernstein, sondern schwarz: Löcher in der Realität, erfüllt von einer Finsternis, so absolut, so endlos, und so hungrig wie die Dunkelheit zwischen den Galaxien. Ein bisher ungekannter Terror legte sich über Leonora, füllte ihre Venen mit Eiswasser und ihr Herz mit Verzweiflung. Sie hatte Anskar schon einmal in einem ähnlichen Zustand erlebt, kurz nachdem sie ihn befreit hatte, am Anfang ihrer Flucht aus Walhalla 23. Er hatte fast genauso ausgesehen, als er einem zufällig hereinspazierendem Assistenzarzt beiläufig das Genick gebrochen hatte. Knack. Ein weiterer Wirbel poppte in Leonoras Hals, als die Schraubstockfinger noch etwas fester zudrückten. Würde es wirklich so enden?
Nein!
Es fiel ihr nicht schwer ihre Pheromone freizusetzten, eine der mächtigsten Waffen eines Sukkubus, nur übertroffen von der Kraft ihres Blutes. Finsternis, es war ihr noch nie so leicht gefallen. Furcht nagte an ihr wie ein Wolf und feiner Schweißfilm erschien fast augenblicklich auf ihrer Haut, füllte die Luft mit ihrem Willen. Der massive Brustkorb des Vernarbten blähte sich, als er seine Lungen mit Luft füllte. Die Dunkelheit in seinen Augen verlor etwas von ihrer Intensität und für einen Moment glaubte sie sogar, einen Schimmer Bernstein hinter der wirbelnden Schwärze zu erkennen.
Knack.
Seine Finger lockerten sich jedoch um keinen Millimeter. Er starrte sie lediglich an. Sein Gesichtsausdruck fremdartig. Leer. Herzlos. Leonoras Herz hingegen hämmerte wie wild in ihrer Brust, als es versuchte dringend benötigtes Blut in ihren Schädel zu pumpen. Bereits jetzt nagte Finsternis an ihrem Bewusstsein und die Welt wurde mit jedem hektischen Moment kleiner.
Wie konnte er ihr das nur antun? Wie?
Sie wusste, was zu tun war, auch wenn sie sich dafür hasste. Dieses Mal jedoch hatte sie keine Wahl. Keine verdammte Wahl. Ihr geschärfter Fingernagel glitt über die Innenseite ihres Daumens, Blut quoll hervor, rot und schwer wie die Sünde. Sie streckte die Hand nach seinen Lippen aus – und hielt auf halbem Wege inne.
Wollte sie ihn wirklich einmal mehr durch ihr Blut an sich binden? Sie hatte es einmal getan – und bereut, war sich für die längste Zeit nicht seiner Gefühle für sie sicher gewesen. Finsternis, war sie sich denn jemals wirklich sicher? Ihr Herz schlug einmal mehr, panisch. Keine Zeit. Keine verdammte Zeit. Dunkelheit fraß an ihrer Welt, bis nur noch sein Gesicht zu erkennen war: Ein Gesicht, auf dem sich die ersten verwirrten Emotionen zeigten. In seinen Augen wirbelte jedoch noch immer die Dunkelheit wie öliger Rauch, mit dem der Wind spielte.
Heiße Tränen flossen über ihre Wange. Finsternis...
Sie reichte nach ihm aus, streckte ihre blutigen Finger seinen Lippen entgegen. Zu fern. Ihre Augen weiteten sich mit Entsetzen. Zu fern! Sie keuchte, strampelte, wand sich um die paar Zentimeter zu überbrücken – vergebens. In einem letzten Akt ließ sie ihre Hand nach vorne schnellen und ein roter Tropfen löste sich von ihrem Finger, flog – und benetzte seine Wange.
Versagt.
Sie hatte versagt.
Die Dunkelheit in Anskars Augen – oder wohl eher, dem namenlosen Ding, zu dem Anskar geworden war – erfüllte ihre Welt.
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