Lost & Found
Anskar trottete niedergeschlagen und zitternd neben Cannibal Jones durch die trostlosen Straßen Unterwaagens. Verdammte Axt, aber es war kalt. Er schniefte, hustete und spuckte einen Klumpen halb-geronnenen Blutes aus und war sich sicher, dass das Ding bereits gefroren war, als es den Boden erreichte. Wenigstens waren die Nachwirkungen der Drogen in seinem System weitestgehend verschwunden und mit Leonora vorerst in Sicherheit, zermarterte er sich auch schon das Hirn, wie er sich aus dieser verdammten Lage befreien konnte.
Er sah sich immer wieder verstohlen um, doch in dieser Stadt konnte er sich wohl von niemandem Hilfe erwarten. Der Aschfall hatte stark zugenommen und nur wenige Menschen – und es waren ausschließlich Menschen – begegneten ihnen auf dem Weg durch die dreckigen Straßen. Die meisten hielten einen respektvollen Abstand, was im Anbetracht des Gestanks, der von ihm und dem Cyberzombie ausging kein Wunder war. Die meisten würgten und sahen sie mit tiefstem Ekel an. Bürgerhilfe konnte er wohl getrost vergessen und er wusste nicht, ob sich das ändern würde. Der Kriegscyborg war ihm nämlich bisher eine Antwort schuldig geblieben, wohin er ihn brachte. Der Umstand, dass Anskar sich mittlerweile kaum mehr auf den Beinen halten konnte war ebenfalls kein gutes Zeichen. Er konnte sich an keine Zeit erinnern wo er sich so schwach, so nutzlos gefühlt hatte.
Er knirschte mit den Zähnen, versuchte das lodernde Feuer der Wut in sich heraufzubeschwören, fühlte sich aber zu ausgebrannt. Verdammte Axt, in seinem Zustand war er so nützlich wie ein Einbeiniger in einem Arschtrittwettbewerb! Er würde nicht einmal vor einem alten Mann mit Krückstock davon laufen können, geschweige denn eine Chance gegen den Cyberzombie haben, Sklavenhalsband hin oder her. Er wusste ja nicht einmal wie das Ding um seinen Hals funktionierte. Trotz wiederholter Warnsignale, mit denen Cannibal hier und da seinen Unmut erklärte, hat Anskar keinerlei Sender gesehen. Was nur bedeuten konnte, dass das Halsband an irgendeine Art Implantat des Cyborgs gekoppelt war und Gott alleine wusste welches. Anskars Züge verfinsterten sich. Alles in Allem saß er mächtig in der Scheiße. Es bedurfte jedoch einer zufälligen Begegnung mit einem Ladenfenster, um zu erkennen wie schlecht es um ihn stand.
Er blieb wie angewurzelt vor der arg mitgenommenen Scheibe stehen, die Augen weit aufgerissen und ungläubig, als er sein Spiegelbild angaffte. Was zum ... ? Sein Mund wurde trocken und ihm war, als befände er erneut im Griff des Betäubungsmittels. Das vernarbte Gesicht eines Fremden starrte ihn an. Er schien nur noch ein Schatten seiner selbst: hohle Wangen, Haut, die sich über seinen Schädel spannte, tief in den Höhlen liegende Augen. Er hatte Leichen gesehen, die gesünder aussahen als er. Irgendetwas fing an zu piepsen und es dauerte einen Moment, bis Anskar das Geräusch als den Warnton des Sklavenhalsbandes realisierte und benommen hinter Cannibal Jones her stolperte.
Er tastete seinen Körper ab. Seine Wunden hatten sich geschlossen, doch er hatte deutlich an Masse verloren. „Was geschieht mit mir?"
Der Kopf des Kriegscyborgs ruckte zu ihm herum. „Frage präzisieren."
„Schau mich doch nur mal an. Verdammte Axt, ich muss seit heute Morgen an die vierzig Kilo verloren haben!"
„Zustand normal. Eigenschaften Archetype: beschleunigte Regeneration. Benötigt Energie/Kalorien/Nahrung. Keine Nahrung: Metabolismus verzehrt sich selbst."
Anskar blinzelte ein paar Mal. „Ich verhungere, weil ich zu schnell heile?"
„Korrekt."
Anskar stöhnte. „Klasse. Einfach klasse. Ich wette der gute alte Wolverine hatte nie mit solchen Designproblemen zu kämpfen." Er krümmte sich, als sein Magen wie auf Stichwort einen Hungerschmerz durch ihn fahren ließ. „Ich nehme nicht an ... dass du anhalten und irgendwo Essen gehen willst?"
„Negativ."
Anskar stieß ein bitteres Lachen aus. „Du willst also, dass ich mit dir nach Hause gehe, aber gibst mir nicht einmal ein Essen aus?"
Cannibal Jones blieb stehen und starrte ihn einen vom Surren seiner Kameraaugen begleiteten Moment nur an, sagte aber nichts und schritt kurz daraufhin weiter. Trotz allem konnte Anskar sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sarkasmus ergibt für dich wohl keinen Sinn, Schrottfresse, eh?
Anskar stolpere hinter ihm her, zog seinen Umhang enger um die Schultern und blies sich in die Hände. Verdammte Axt, vielleicht hätte er sich doch trockenere Kleidung von einem der nicht ganz so übel zugerichteten Toten nehmen sollen, Läuse hin oder her. Er hatte sogar seine stachelbesetzten Handschuhe zurücklassen müssen und ohne seinen Gefechtsmantel nagte die Kälte an ihm wie ein Hund an einer gefrorenen Leiche. Dank des Schattens des Harz-Massivs und dem Aschfall war es bereits so dunkel, dass hier und da die ersten Straßenlampen brannten. Keine Elektrizität für Unterwaagen, nur stinkender schwarzer Rauch, der sich träge in das nebelverhangene Miasma erhob. Scheinbar war Elektrizität den Einwohnern Waagens vorbehalten.
Er schielte Cannibal Jones an. Trotz allem was die Mordmaschine getan hatte, fiel es ihm ungewöhnlich schwer den Kopfgeldjäger zu hassen. Zum einen hatte er aus Gründen, die Anskar zumindest teilweise immer noch ein Rätsel waren, die Exilanten und die Aspiranten ausgeschaltet – wenn auch für einen hohen Preis. Zum anderen hatte Leonora ihm genug von Zombies erzählt, um zu wissen, dass die meisten Untoten wenig oder gar keinen Verstand mehr in dem verrottenden Klumpen Fleisch zwischen ihren Ohren hatten. Im Grunde war Cannibal Jones wenig mehr als eine Maschine. Ihn zu hassen war, als würde man einen Toaster verabscheuen, weil er einem die Finger verbrannt hatte.
Ein metallisches Quietschen riss Anskar aus seinen Grübeleien und er hob den Kopf, um über sich einen der Seilwägen zu sehen, die Waagen mit seiner Schwesterstadt verbanden. Mit einem Mal wusste er wieder wo sie waren. „Die Fahrstühle ... Wir gehen wieder nach Waagen?"
„Korrekt."
Anskar nickte und krümmte sich kurz darauf vor Hunger, als sie an einem kleinen Imbiss vorbeikamen der irgendeine Art von Räucherfisch verkaufte. Mein Gott, er hätte nicht gedacht, dass man so verdammt hungrig sein konnte. Speichel füllte seinen Mund und es bedurfte all seiner Willenskraft nicht jemanden das Essen aus der Hand zu reißen. Bemüht nur durch den Mund zu atmen, sagte er, „Sagst du mir wenigstens was du genau vorhast, wenn ich schon nichts zu Essen bekomme?"
„Information Klassifiziert."
Anskar schnaubte. „Lass mich raten. Wir gehen zurück nach Waagen, damit wir die Stadt über die Zugbrücke verlassen können. Sollte immer noch der schnellste Weg zum Brocken und Walhalla sein, oder? Und wir rennen so, damit wir es noch schaffen bevor sie die Tore schließen. Hab ich Recht?"
Der Cyberzombie sagte nichts, legte jedoch ein noch forscheres Tempo vor. Anskar sabotierte dieses subtil indem er seinen Schritt mehr und mehr schleifen ließ, auch wenn er sich eingestand, dass dazu nicht viel Schauspielerei gehörte. Noch schlimmer wurde es, als ein bitterkalter Wind aufkam, der an seinem Umhang vorbei in die nasse Kleidung schnitt.
„Sa... Sag mal", begann Anskar. Er musste die Worte an seinem Zähneklappern vorbeizwingen. „Wie ... Weißt du was sie mit mir ... ma ... machen wollen?"
„Negativ", erwiderte der Cyberzombie.
„Oh-keh. Wa... Ka ... Kannst du mir wenigstens ... erzählen wer oder was genau ich b... b... bin?"
„Klassifiziert."
„Oh fick ... dich!", brauste Anskar auf. „Du kommst hier her, bringst Theo um, entführst mich und ... und zwingst mich Nora in einem Misthaufen zurückzulassen! Du könntest m... mir wenigstens sagen was du über mich weißt!"
Anskar konnte das Surren von Cannibals Kameraaugen hören, als der Kriegscyborg ihn einen Moment lang musterte. Für die längste Zeit schien es so, als würde er schweigen, dann sagte er jedoch, „Prototyp Projekt Archetype. Bio-Waffenprogramm. Gefahrenstufe: Unkalkulierbar."
Anskar blinzelte. „Un ... Unkalkulierbar?"
Cannibal Jones nickte. „Demonstrierte Gefahrenstufe: Hoch. Potentielle Gefahrenstufe: Unkalkulierbar."
„Hö ... Hör mit dem Einheit-Scheiß auf. Mein Name ist Anskar."
„Negativ."
Anskar horchte auf. „Du kennst meinen echten Namen? Wie lautet er?"
„Klassifiziert."
„Du verdammter ...!" Anskar biss sich auf die Zunge, bevor er mehr zum Besten geben konnte. Wie sich rausstellte, konnte man auch einen Toaster hassen. „Ok. Dann eben etwas anderes: Wieso ist meine Gefahrenstufe unkalkulierbar?"
„Klassifiziert."
Anskar ballte seine Hände zu Fäusten, das Poppen seiner Fingerknöchel wie miniaturisiertes Gewehrfeuer. Wenn Blicke töten könnten, wäre selbst der Blechzombie nur noch ein Haufen rauchender Schrott. „Ok, andere Frage: Was bekommst du für mich? Was ist mein Leben und das Leben meiner Freunde wert?"
„Einheit Theodor Kapp: wertlos."
Anskars Auge zuckte, er sagte jedoch nichts.
„Einheit Leonora Hagen: Geringer Wert. Projekt Archetype: Hoher Wert. Belohnung: Ersatzteile. Informationen. Artefakte."
„Ersatzteile? Was? Fällst du auseinander?"
„Klassifiziert."
Anskar stöhnte. „Ich schwöre, sich mit dir zu Unterhalten ist wie eine Konversation mit einem KGB-Aktenschrank. Klassifiziert hier. Klassifiziert da." Er blinzelte, als einsickerte was Cannibal sonst noch gesagt hatte. „Warum ist Leonoras Leben als ‚gering' Eingestuft? Und warum haben wir sie dann nicht mitgenommen?"
Für einen Moment sah es so aus, als würde Cannibal Jones nichts dazu sagen, dann meinte er jedoch, „Klassifiziert."
Anskar gab ihm den Mittelfinger.
***
Leonora ...
Er hatte sie gefunden – sie, die sprichwörtliche Rose auf dem Misthaufen – und streckte eine Hand nach ihr aus, wagte es jedoch nicht, sie zu berühren. Noch nicht. Nein, noch nicht. Erst musste er etwas finden, womit er sie von hier weg und in sein kleines Liebesnest bringen konnte.
Er kletterte aus der Misthaufengrube und sah sich um. Irgendwo musste ja eine Schubkarre oder etwas ähnliches sein, womit sie den Mist hierher schafften. Wieder ging er auf die Jagd, warf Leonora jedoch nochmals einen kleinen Blick zu. Es war nicht schwer gewesen sie zu finden, auch wenn er vorsichtig hatte sein müssen. Es hatte ihn fast umgebracht seine Geliebte in Gefahr zu sehen, doch er war ein Liebhaber und kein Krieger. Dennoch, zu sehen wie Leonora getroffen niederging hatte ihn fast umgebracht. Zwar hatte der vernarbte Hund sie verarztet, doch würde seine Liebste je wieder die Alte sein? Oder war sie verstümmelt? War sie nicht mehr das perfekte Wesen, in das er sich verliebt hatte?
Er schob den Gedanken beiseite und folgte einigen alten Reifenspuren zu einem kleinen Schuppen, der ohne die Wand, gegen die er lehnte vermutlich längst zusammengebrochen wäre. Das Schloss an der Tür war ein Witz und öffnete sich nach nur zwei Schlägen einer kleinen Handaxt, die er ebenso wie einige der besseren Waffen vom Schlachtfeld mitgenommen hatte. Zwar waren sie geschmacklos, doch man konnte in Waagen immer einen guten Preis für Waffen erzielen. Die rostige Kette, welche die wurmstichige Tür verschlossen hielt, glitt zu Boden wie eine enthauptete Schlange. Die Schuppentür schwang auf und offenbarte einen Raum gefüllt mit allerlei Gerümpel und zwei großen Schubkarren.
Er grinste. „Perfekt."
Er holte den größeren der Schubkarren hervor und griff sich auch noch eine alte Plastikplane und etwas Seil, welche in einer Ecke lagen. Dann eilte er zu seiner Liebsten zurück. Ein Teil von ihm wurde zornig, als er sie so betrachtete. Wie hatten sie sie nur an diesem Ort zurück lassen können? Diese Schweine hatten seine Liebste zum Abfall der Stadt geworfen, als sei sie nichts weiter als Müll. Es gab nur eine Schlussfolgerung die Sinn machte.
Der Vernarbte schätzte Leonora nicht.
Er liebte sie nicht.
Nicht so wie er.
Niemand liebte sie so wie er.
Er stieg in die Grube hinab und kauerte sich neben seiner Liebsten nieder. „Hallo, mein Schatz." Seine Finger strichen sanft über Leonoras Wange und sie wimmerte unter seiner Berührung. Ihre Reaktion machte ihn wütend, doch er beruhigte sich schnell wieder. Er machte sich klar, dass sie nicht auf ihn reagiert hatte, sondern nur auf die Schmerzen. Ja, dass machte mehr Sinn. Schließlich war er ihr Retter. Er beugte sich über Leonora und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles wird gut. Ich werde dich in Sicherheit bringen."
Er begann den Mist beiseite zu Schaufeln wie ein grabendes Tier und stoppte erst, als Leonora gänzlich befreit war. Er beugte sich zu ihr herab um sie aufzuheben – und erstarrte. Wie sollte er sie aufheben, mit nur einem Arm? Er biss sich auf die Lippe. Es würde wehtun, doch es gab wohl keine andere Wahl.
Was tut man nicht alles aus Liebe?
Er starrte auf den losen Ärmel seiner Jacke und verfluchte die Unzulänglichkeit seiner Hülle zum hundertsten Mal. Sehnte sich danach, sie abzustreifen. Für den Moment brauchte er sie jedoch noch. Er stöhnte in Schmerz als der Ärmel der alten Winterjacke sich blähte und füllte wie ein Ballon der aufgeblasen wurde. Nach nur kurzer Zeit schob sich sein wahres Fleisch hervor. Gallertartig, wie das einer Qualle, grau und transparent, hier und da von schwach leuchtenden bläulichen Adern durchzogen.
Die Substanz formte sich zu einer rudimentären Hand: wenig mehr als ein Daumenauswuchs, die restlichen Finger in einer zusammengeflossenen Masse. Ohne menschliche Haut, die ihm Form gaben, war es schwer mehr zu bewerkstelligen. Selbst dies ließ ihn zittern und korrosive Tränen quollen hervor und fraßen sich durch den Dreck in seinem Gesicht. Ohne den Schutz einer Epidermis litt sein wahres Fleisch nicht weniger als das eines Menschen, dem man die Haut abgezogen hatte. Schlimmer noch, die grässlich kalte Luft fühlte sich an als würde man Salz in eine riesige Wunde streuen. Der Ärmel der Winterjacke rieb an seinem wahren Fleisch wie Schleifpapier. Und dennoch erduldete er den Schmerz. Für sie. Nur für sie. Mit gepeinigtem Gesicht beugte er sich zu Leonora herunter, schloss sie behutsam in seine Arme und hob sie hoch. Sein hautloser Arm brannte, doch es war ein Schmerz, den er gerne für Leonora ertrug. Sie war jeden Schmerz wert.
Die Augen seiner Liebsten flatterten auf und richteten sich auf seine Züge. „D... Denny?"
Das Ding, dessen wahrer Name Smoke war, und das Denny wie einen Anzug trug, ihm alles geraubt hatte was ihn ausmachte, lächelte auf seine Angebetete herunter. „Shhh ... Ruh dich aus, ich werde dich in Sicherheit bringen."
Doch Leonora hatte bereits wieder das Bewusstsein verloren. Ja, Sicherheit war nicht mehr weit entfernt, denn schon bald würden sie für immer zusammen sein.
Sie würden Eins sein.
Smoke lächelte. Liebe war wahrlich etwas Wunderbares ...
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Heya.
Das Mittwoch Update habe ich zwar nicht geschafft, aber dafür hab ich das Sonntagsupdate einfach mal vorgezogen. :) Ich hoffe ihr hattet euren Spaß.
Und natürlich mal wieder die Frage: Wer hat den Twist kommen sehen?
Bin schon sehr gespannt, auf eure Theorien und Vermutungen.
Bis bald!
M.
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