8. Fehlersuche
Es war beinahe Mitternacht, als Malik den Fehler endlich lokalisierte - unfassbar. Da hatte sich wirklich irgendeine kleine Ratte ins System gehackt ...
Diese Erkenntnis war ein Schock. Vielleicht hatten ihn die Jahre unvorsichtig werden lassen, aber wie konnte es denn sein, dass irgendein Möchtegernhacker bis in sein Schlafzimmer vordringen konnte ...?
Es war nicht so, dass er irgendwelche brisanten Firmengeheimnisse mit Jesemy geteilt hatte, aber es ging hier schon allein ums Prinzip. Irgendwer, hatte es tatsächlich gewagt, ihn in seinem eigenen zu Hause auszuspionieren ...
Na warte, kleine Ratte. Das wirst du noch bitter bereuen ...
Es dauerte weitere Stunden, bis er den Angriff zurückverfolgen konnte - zweimal landete er in einer virtuellen Sackgasse und musste mühsam von vorn beginnen.
Dieser Hacker war nicht auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil ... es musste Jahrzehnte her sein, dass er sich einer solchen Herausforderung hatte stellen müssen. Und wenn er ehrlich war, fand er irgendwann gefallen an der Jagd.
Schließlich konnte er das Gebiet zumindest auf einen Sektor eingrenzen: Sektor 9.
Ein Durchschnittsarbeitersektor, mit vielen stillgelegten Fabrikhallen darin, die im Zuge der virtuellen Revolution in den Ruin getrieben wurden; Leichen des Fortschritts.
Dorthin hast du dich also verkrochen, kleine Ratte.
Aber das Gebiet war groß ... und selbst wenn er sich in jede Kamera hackte, ohne jeden visuellen Anhaltspunkt ... Amara, durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke. Natürlich ... so konnte er es eingrenzen. Also lud er ein Bild der jungen Amara hoch und startete den Abgleich, mit der Verkehrskamera der meist befahrenen Straße des Sektors.
Kein Treffer.
War ja klar. So einfachwürden sie es ihm natürlich nicht machen. Aber gut. Er hatte Zeit.
Nachdem sie alle von Dr. Haag ein heißes Getränk erhalten hatten, zog sich das unangenehme Schweigen in die Länge.
Amara sah sich aufmerksam um. Überall standen technische Gerätschaften herum. Virtuelle Tafeln, mit mathematischen Formeln darauf, schwebten dazwischen.
»Woran arbeiten Sie gerade?«, fragte sie neugierig und Haag folgte ihrem Blick.
»Neuroentkopplung«, antwortete er. »Ich versuche eine spezielle Art von Nervenzellen von der Großhirnrinde zu separieren, damit, na ja ...« »Empathen nichts mehr fühlen können«, beendete Lew den Satz bitter. »Und somit keine Gefahr mehr für die restliche Menschheit darstellen.«
»So in etwa«, gab Dr. Haag zu und blickte beinahe traurig zu den Hologrammen hinüber. »Aber ich muss zugeben, die Forschungsergebnisse der letzten Jahre waren wenig vielversprechend. Diese armen Seelen verdienen ein annähernd normales Leben, aber ...«
»Ein normales Leben?«, echote Lew ungewohnt angriffslustig. »Ein Leben, in dem sie nichts mehr fühlen können? Weder die Sonne auf ihrer Haut, noch das geringste Fünkchen Zuneigung für eine ihnen nahestehende Person? Das nennen Sie ein normales Leben?«
»Lew«, sagte Dag mahnend und blickte den Programmierer eindringlich an.
»Nein, ich stimme dir da vollkommen zu«, meinte Haag überraschend sanft. »Deshalb sagte ich auch annähernd. Aber ich halte es immer noch für besser, ihnen wenigstens diese kleine Chance zu ermöglichen, bevor sie wirklich ein ganzes Leben abgeschottet in einem Hochsicherheitslabor fristen müssen ...«
»Das ist keine Chance, Doktor. Nur eine Möglichkeit, um Haushaltsausgaben des Staates deutlich zu reduzieren.«
»Verdammt, Lew«, knurrte Dag ungeduldig. »Hast du vergessen, warum wir hergekommen sind? Es geht hier gerade nicht um Lilith, sondern um Amara!«
Der Hacker holte zischend Luft und sprang auf. »Ich muss kurz an die frische Luft.«
»Viel Glück dabei, die Filteranlagen sind außer Betrieb«, rief Haag ihm noch stirnrunzelnd hinterher, aber da war der junge Hacker schon nach draußen getreten.
»Dr. Haag«, setzte Amara zu sprechen an und die Augen des Doktors richteten sich auf die Klonin. In seinem Blick lag eine seltsame Mischung aus Abscheu und Faszination. »Ich nehme an, Sie sind vertraut mit dem Überschreibungsprotokoll für Klone?«
»Natürlich«, bestätigte er und nippte an seiner Tasse.
»Und denken Sie, dass es im Bereich des Möglichen ist, die umgekehrte Methode anzuwenden?«
»Du meinst ...«
»Ich will das Bewusstsein meines Originals überschreiben«, konkretisiere Amara ihr Vorhaben.
»Unmöglich ... das wäre Mord!«
Das ist Mord, dachte Amara verstört. Aber wenn es nur um mein Bewusstsein geht, ist es eine moralisch vertretbare Handlung?
»Aber wäre es möglich?«, blieb die Klonin hartnäckig. »Rein vom Übertragungsweg?«
Haag runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich diese Frage beantworten kann oder möchte. Hört zu, ich habe großes Interesse daran, L-Scott massiven Schaden zuzufügen, aber ich werde keine Beihilfe bei einem Mord leisten.«
»Das haben Sie doch schon ...«, argumentierte Amara ernst. »Viele Male. Deshalb haben Sie L-Scott verlassen und den Rechtsstreit begonnen. Sehen Sie mich an und sagen Sie mir, dass dem nicht so ist. Blicken Sie mir in die Augen und sagen Sie mir, dass ich kein fühlendes Wesen bin und es deshalb in Ordnung ist, mich einfach zu überschreiben.«
»Das kann ich nicht«, gab er unglücklich zu und Amara nickte. »Sie wollen für Ihre Fehleinschätzungen aus der Vergangenheit sühnen? Dann helfen Sie uns diese widerliche Lüge aufzudecken. Dafür brauchen wir den Zellcode, den unumstößlichen Beweis, dass wir leben.«
»Ich würde euch gerne helfen, aber nicht so. Es muss noch einen anderen Weg geben. Einen der weniger ... blutig ist.«
»Also«, mischte Dag sich in das Gespräch ein und kratzte sich nachdenklich am stoppeligem Kinn. »Ich kenne mich ja mit diesem wissenschaftlichen Zeugs nicht sonderlich gut aus, aber ... was, wenn wir Dr. Lombardis Wesen gar nicht zwingend überschreiben müssen? Wäre nicht auch so etwas wie ein Bewusstseinstransfer denkbar?«
»Du meinst ... dass sie und ich faktisch den Körper tauschen?«, hakte Amara beunruhigt nach.
»Ja«, bestätigte der Soldat. »Würde das nicht ihr moralisches Dilemma lösen, Doktor?«
»In der Tat. Das ließe sich machen. Mit der richtigen Ausrüstung ...« Der Blick ihres Gastgebers schweifte abwesend durch sein Zuhause. »Ja ... mit der ein oder anderen Modifikation hier und da ...«
»Gut«, meinte Dag zuversichtlich und rieb sich zufrieden die Hände. Amara war weniger überzeugt. Ihr wäre die Überschreibung lieber gewesen - sie wollte niemanden umbringen, aber solange Dr. Lombardi noch am Leben war, war ihr eigenes immer bedroht. Es war ein reiner Überlebensinstinkt. Davon abgesehen, hätte es ihr durchaus auch Genugtuung verschafft, ihrer Erschafferin dasselbe anzutun, was sie zuerst mit ihr vorgehabt hatte. Es wäre Gerechtigkeit gewesen, für all jene, die nicht so viel Glück gehabt hatten wie sie.
»Ich schaue mal nach Lew«, murmelte Amara, stellte ihre leergetrunkene Tasse ab und ging nach draußen.
Sie fand den Programmierer am Rand eines Felds. Am Horizont konnte man die Gebäudeumrisse der Sektoren Elf und Zehn ausmachen. Seit der großen Dezimierung, dem traurigen Endergebnis des Evolutionskrieges vor knapp achtzig Jahren, war die Bevölkerung auf einen Bruchteil ihres Ursprungs zusammengeschrumpft. Auch wenn es innerhalb der Sektoren nicht so wirkte, gehörte die Menschheit strenggenommen zu einer bedrohten Spezies auf dem Planeten. Aber außerhalb der hochmodernen Sektorenbereiche, hatte die Natur ihr Reich zurückerobert und umliegende Städte verwildern lassen.
»Was ist das?«, fragte Amara, den Blick in die Weite gerichtet.
»Kohl«, erwiderte Lew. »Zweihunderthecktor Kohl für jeden Supermarkt der achtzehn Sektoren.«
»Also wenn wir das Feld jetzt einfach niederbrennen, gibt es sektorenweit keinen Kohl mehr zu kaufen«, überlegte Amara. »Ganz schön viel Macht, die da vor uns gedeiht.«
»Wir wollen einen Umbruch, Amara, keinen Bürgerkrieg provozieren.«
»Wäre schon ein seltsamer Abgang für die Geschichtsbücher - die komplette Ausrottung der menschlichen Rasse, ausgelöst durch Kohlmangel.«
Lews Mundwinkel zuckte kurz amüsiert, doch dann wurde sein Ausdruck wieder ernst. »Gehen wir besser wieder rein. Haag wird nie einer Zusammenarbeit zustimmen, wenn er glaubt, Dag hätte nur das Geringste mit der strategischen Planung zu tun.«
Amara blieb noch eine Sekunde alleine zurück und starrte gen Horizont. Auf diesem Planeten ist doch so viel Platz, dachte sie wütend. Warum also, fiel es der Menschheit so verdammt schwer diesen mit anderen Lebensformen zu teilen? Selbst mit denen, die sie selbst erschaffen hatten ...
Dr. Amara Lombardi atmete tief durch und strich sich eine verirrte braune Haarsträhne zurück hinters Ohr. Sie stand schon seit einer Weile vor dem Badezimmerspiegel und betrachtete ihre Reflexion darin. Ihr biologisches Alter betrug aktuell sechsunddreißig Jahre. Morgen würde sie ihren Dreihundertneunundsiebzigsten Geburtstag feiern.
»Schatz?«
Raymonds Stimme drang leicht knisternd aus dem Neurolink in ihren Gehörgang. Der Empfang hier unten war einfach nur grässlich. Würde es nach ihr gehen, würden sie schon längst in einer der Wolkenterrassen residieren - aber Raymond hatte schlimme Höhenangst und liebte die direkte Anbindung zur Natur.
»Hörst du mich?«
Ihr rotgeschminkter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Natürlich. Ich bin gleich unten«, behauptete sie ohne die geringsten Anstalten zu machen, das Badezimmer zu verlassen.
»Okay, Essen ist gleich fertig. Und könntest du noch Dinora Bescheid geben? Sie blockt mal wieder die Verbindung ...«
Die Verbindung erlosch und Amara starrte weiter auf ihr Spiegelbild. Der Verlust von Klon-738 war natürlich schon davor ein Ärgernis gewesen, aber jetzt ... wo irgendwer den Klon benutzte, um durch ihre Biosignatur in L-Scott Sicherheitsbereiche einzudringen, war es zu einem ernstzunehmenden Problem aufgestiegen. Wenn Malik erfuhr, woran sie hinter seinem Rücken geforscht hatte ...
»Das wird schon nicht passieren«, versicherte sie ihrer Spieglung leise. »Das sind nichts weiter als kleine Störfaktoren, die du beseitigen musst, um deinem Ziel noch ein Stückchen näherzukommen ...«
Mit gerecktem Kinn verließ sie das Badezimmer und schritt den Flur weiter, bis sie das Zimmer ihrer Tochter erreichte. Einen Moment blieb sie noch zögernd davorstehen, bevor sie klopfte und vorsichtig die Tür öffnete. »Schatz?«
Die Fünfzehnjährige lag bäuchlings auf ihrem Bett und wippte mit ihren Füßen zu einer nicht hörbaren Musik, die durch den aufgesetzten Virtuell-Helm direkt in ihren Gehörgang übermittelt wurde.
Amara blieb an der Tür stehen und beobachtete sie dabei. Raymond hatte ihr vor einigen Jahren ein Ultimatum gestellt; entweder sie gründeten endlich eine Familie oder er würde sie verlassen.
Amara hatte es ganz pragmatisch gesehen; was waren schon knapp zwanzig Jahre, wenn die Unsterblichkeit vor einem lag?
»Mum?!«, japste Dinora erschrocken und riss sich den Helm herunter. Ihre eigenen Augen starrten sie vorwurfsvoll an, leicht verhüllt von Raymonds dunklen Locken.
»Was machst du denn da?!«
»Abendessen«, sagte sie einfach nur neutral, drehte sich um und ging nach unten. Es war nicht so, dass sie ihre Tochter nicht mochte oder so. Sie hatte sich nur nicht so entwickelt, wie sie erwartet hatte ... irgendwie hatte Amara automatisch angenommen, dass sie ihr viel mehr ähneln würde, wie ihre Klone und war nun vom Endergebens ein wenig enttäuscht. Sie hatte so gute Gene und machte so wenig daraus ... die meiste Zeit verbrachte sie auf ihrem Zimmer, war mürrisch und wortkarg.
Raymond war gerade fertig mit aufdecken und lächelte sie an. Er war ein guter Ehemann und bis auf die Fortpflanzungssache, waren sie sich bislang immer sehr einig in all ihren Lebensentscheidungen gewesen. Na ja ... niemand war perfekt.
»Möchte das Geburtstagskind Wein?«
»Ich habe doch erst morgen Geburtstag«, korrigierte sie ihn schmunzelnd, während er die rote Flüssigkeit in ihr Glas schüttete.
»Ich weiß. Dreihundertneunundsiebzig und noch genauso umwerfend wie an dem Tag, als wir uns kennenlernten. Erinnerst du dich?«
»An den vorlauten Doktoranden aus meinem Seminar über Gen-Replikation, der ständig alles besser wusste? Flüchtig.«
Raymond lachte und schenkte sich ebenfalls ein Glas Rotwein ein, um mit seiner Frau anstoßen zu können. »Auf weitere Dreihundert Jahre mit dir.«
»Und mehr«, sagte sie bestimmt und sein Lächeln begann augenblicklich zu schwächeln. Sie wusste nicht genau woran es lag, aber seit einigen Jahrzehnten war er von der Idee, ewig zu leben, nicht mehr ganz so angetan.
»Igitt. Wenn ihr knutschen wollt, komm' ich später wieder«, murrte Dinora und ließ sich demotiviert auf ihren Stuhl sinken.
»Nicht in diesem Ton«, tadelte Raymond sie und begann jedem Familienmitglied eine Portion Risotto aufzutragen.
Amara lächelte und nippte an ihrem Glas.
Alles war gut. Sie hatte es unter Kontrolle. Sie würde diese kleinen Systemratten finden und sich ihr Eigentum zurückholen ...
***
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro