4. Malik Orlaith
Nur mit Widerwillen öffnete Malik Orlaith seinen Kalender. Er war dreihundertachtundneunzig Jahre alt und der Geschäftsführer des mächtigsten Unternehmens seiner Zeit, L-Scott, und dennoch war ihm morgens nicht einmal ein gemütlicher Schluck Kaffee vergönnt. Seine Assistentin, Kathy, hatte bereits dreimal versucht ihn zu erreichen, während er noch unter der Dusche gestanden hatte. Seine Haare hingen ihm tropfnass ins Gesicht, während er seine Vormittagstermine studierte. Amara hatte um ein persönliches Gespräch gebeten. Außerdem war da noch die vierteljährige Vorstandssitzung.
Seufzend strich er sich die dunklen Strähnen zurück und blickte in sein Spiegelbild. Seine letzte Überschreibung lag erst vier Monate zurück, weshalb er biologisch betrachtet noch keine sechsundzwanzig war. Es war immer wieder eine Umstellung, sich an den Anblick seines jüngeren Selbst zu gewöhnen.
Er tippte an das Implantat an seiner Schläfe und rief Kathy zurück.
»Guten Morgen, Sir.«
»Kath, worum bitte ich dich seit Jahren?«
»Sie nicht vor ihrem ersten Kaffee zu stören«, erwiderte sie kleinlaut. »Es tut mir leid, aber es handelt sich um einen Notfall.«
»Tut es das nicht immer? Wie viele Notfälle können sich innerhalb einer Woche denn ereignen?«, erkundigte Malik sich zweifelnd und verließ das schwarz geflieste Badezimmer, um sich endlich den längst überfälligen Koffeinkick zu organisieren. Aleksis, der Homesoftware, hatte er schon die entsprechende Anweisung über seinen Neurolink übermittelt und der verführerische Duft von frischgemahlenen Kaffeebohnen erfüllte die Luft.
»Es gab einen Vorfall in einem unserer Entsorgungslager. Wir wissen noch keine genauen Details, aber mehrere Sicherheitsleute wurden verletzt. Kang wurde mit lebensbedrohlichen Verletzungen ins St. Lauren eingeliefert.«
»Was ist passiert?!«, fragte der Dunkelhaarige alarmiert und blieb wie vom Donner gerührt mitten in der Diele stehen. Kathy erklärte: »Die Auswertung läuft noch auf Hochtouren, aber es gab wohl eine Doppelmeldung. Und laut Zeugenaussagen hat sich eine Gruppe Unbefugter Zutritt verschafft.«
»Schick mir die Details und halt mich auf dem Laufenden. Sag außerdem alle meine Termine für heute ab, ich fahre selbst hin, um mir ein Bild über die Lage zu machen.«
»Das wird dem Vorstand nicht sehr gefallen«, wand Kathy noch unsicher ein, aber da hatte er die Verbindung bereits wieder gekappt.
Ein Einbruch in einem der Entsorgungslager ...
Rasch zog Malik sich an und wartete ungeduldig auf Kathys Übermittlung.
Endlich blinkte die übermittelte Datei auf, die er sofort öffnete und den Inhalt überflog. Am wahrscheinlichsten handelte es sich um irgendeine radikale Widerstandsbewegung, die sich für die Rechte von Klonen einsetzte.
Dennoch ... in den letzten hundert Jahren hatte es niemand geschafft, sein ausgeklügeltes Sicherheitssystem zu überwinden. Das kratzte schon ein bisschen an seinem Ego und beeindruckte ihn zugleich.
Bald darauf stieg Malik hinten in die geräumige Fahrzeugkabine seines Schwebers und übermittelte die Zieldaten an den Autopiloten. Während dem Flug las er sich alle Informationen nochmal in Ruhe zweimal durch und ignorierte alle Verbindungsaufbauversuche der anderen Vorstandmitglieder. Nur Kathys Anruf ließ er durch, die ihn schnell auf den neusten Stand brachte; scheinbar gab es keinen Zweifel mehr, die Angreifer hatten sich ins System gehackt.
Sein Unterkiefer knackte, als er bei dieser Erkenntnis unterbewusst die Zähne aufeinander drückte. Das war ärgerlich.
Malik wurde gleich von einer ganzen Schar Kittelträger begrüßt, als er auf dem großzügigen Landeplatz des Daches gelandet war, die ihn nervös umkreisten und allesamt versicherten, sie hätten absolut keine Ahnung, wie so etwas hatte passieren können.
»Konnte man schon ermitteln, wonach die gesucht haben?«, wollte er ungeduldig wissen, während der CEO seiner Kittelträgerschar in eines der nahegelegenen Besprechungszimmer folgte. »Nein, Sir. Dafür war der Angriff zu komplex. Es wird wahrscheinlich Tage dauern, bis ...«
»Das ist zu lang«, unterbrach Malik Dr. Lojewski gereizt, einen schmächtigen Mann mit Glatze und wässrigen Augen. »Ich will Ergebnisse. Heute. Vorher geht mir niemand nach Hause, verstanden? Sonst können Sie sich gleich morgen nach einem neuen Arbeitgeber umsehen.«
»Natürlich, wir geben unser Bestes, Sir«, wurde ihm sofort aus allen Richtungen beteuert und er rutschte seufzend in einen der bequemen Sessel hinein. »Dann verstehen wir uns ja«, meinte er und tippelte ungeduldig mit den Fingerkuppen auf der Tischglasplatte. »Und kann mir irgendwer endlich anständigen Kaffee besorgen?«
Der Tag zog sich dahin. Malik inspizierte persönlich alle betroffenen Bereiche. Scheinbar war mindestens einer der Einbrecher durch den Kamin eingestiegen - was eigentlich nicht im Bereich des Möglichen liegen sollte, nicht bei diesen hohen Temperaturen. Kein normaler Mensch sollte dazu in der Lage sein.
Doch die Spuren sprachen für sich ... das musste also ein von langer Hand geplanter und perfekt durchkonstruierter Plan gewesen sein ... aber was haben die Eindrinlinge hier gewollt?
Malik blickte gedankenverloren in die Glut des Brennofens, durch die viereckige Öffnung der gewaltsam herausgelösten Platte. War wirklich einer der Eindringlinge wahnsinnig genug gewesen, diesen brennenden Höllenschlund hinunterzurutschen?
»Malik«, erklang plötzlich eine Stimme und Dr. Amara Lombardis Hologramm manifestierte sich direkt neben ihm.
»Du hast dir ja Zeit gelassen«, murmelte er leicht verärgert. »Immerhin wurde dein biometrischer Zugang als Eintrittskarte benutzt. Erklärst du mir mal, wie irgendwer Zugriff auf deine Netzhaut haben konnte?«
»Ich bin genauso überfragt wie du ...«
»Schön, dann erkläre ich es dir gern«, meinte Malik forsch. »Denn laut Systemfehler, hat die Einbrecherin nicht deine Identität geklaut, sondern sie war du.«
»Was? Du verdächtigst mich ein paar dahergelaufenen Kleinkriminellen geholfen zu haben? Ich war gestern die ganze Nacht in einem Labor auf der anderen Seite der Stadt - dafür gibt es Zeugen.«
»So war es auch nicht gemeint. Du ... vermisst nicht zufällig einen deiner Klone, oder? Kein Mensch hätte dieses Kaminrohr lebend runterklettern können, aber ein genetisch veränderter Klon vielleicht schon ...«, schätzte er, der Blick weiterhin fest in die pulsierende Glut gerichtet.
»Das ist eine ziemlich ernste Anschuldigung, Malik«, knurrte Amara verstimmt. »Außerdem weißt du genau, dass man sich nicht einfach frei aus dem Klonlager bedienen darf. Und selbst wenn, denkst du etwa, ich würde meine künftige Hülle, die mich ein Vermögen gekostet hat, einen Kamin runterkriechen lassen, nur um an Daten zu gelangen, auf die ich ohnehin längst Zugriff habe? Was macht das denn für einen Sinn?«
»Ich weiß«, murmelte er und schloss für einen Moment erschöpft die Augen. »Tut mir leid, es war ein langer Tag. Aber wenn sie nicht dein Klon war, müssen sie irgendwie anders an deine biometrischen Daten gekommen sein ... vielleicht wurdest du gehackt?«
»Blödsinn!«, schmetterte die Frau ab, die aktuell ein Jahrzehnt älter aussah, aber in Wahrheit jünger war.
Ihre erste Begegnung lag inzwischen Dreihundertfünfundsechzig Jahre zurück; damals war er zweiundvierzig und sie dreiundzwanzig. Der Beginn einer neuen Ära, wo ewiges Leben nicht mehr länger nur ein entfernter Traum bleiben sollte. Aber während er über die Jahrhunderte immer umsichtiger mit dem Umgang von Klonen geworden war und auch die öffentliche Meinung berücksichtigte, verfolgte Amara immer radikalere Ansätze. Für sie waren Klone ohne Überschreibung keine fühlenden Wesen. Malik sah das etwas anders, auch wenn sie natürlich keine Menschen waren, hatten sie trotzdem Gefühle und Empfindungen und als ihre Erschaffer war er der Auffassung, mit ihrem Leben, wie kurz es auch sein mochte, sorgsam umzugehen. Ihre Erschaffung kostete schließlich auch ein Vermögen.
Und ja, ein Teil von ihm konnte sich durchaus vorstellen, dass sie hinter seinem Rücken einen Klon herangezüchtet hatte, der nicht im offiziellen System gelistet war. Nur beweisen konnte er es leider nicht ... Noch nicht.
Er wäre gar nicht so unglücklich darüber, endlich einen legitimen Grund zu haben, um Amara zu enteignen. Ihre aufbrausende Art schadete L-Scotts Image und ihr Umgang mit zahlenden Kunden war zudem katastrophal.
Außerdem nervte sie ihn seit Jahren damit, die aussortierten Klone doch anderweitig zu verwenden. Sie beispielsweise als kurzlebige Soldaten fürs Militär zu verheizen. Wenn sie ihren ursprünglichen Zweck nicht erfüllen konnten, sollten sie der Menschheit anders von Nutzen sein, war ihr Lieblingsargument bei solchen Diskussionen. Malik dagegen sah das sehr kritisch. Die Proteste gegen eine gerechtere Behandlung der Klone wurde seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts immer lauter und allein letzten Monat, musste er schon sechs Interviews geben und versichern, dass sie ethisch immer korrekt handelten und keine Ausmusterung und damit verbundenen frühen Tod des Klons leichtsinnig vornahmen. Die aussortierten Klone dann dem Militär zu überlassen, wäre da kein kluges Signal an die Außenwelt.
»Geh bitte deine Kontakte der letzten Wochen durch. Warst du mal beim Augenarzt? Hast du dir neue Linsen einsetzen lassen?«
»Nein und nein. Ich hatte in den letzten sechs Monaten überhaupt keine Checkups oder Modifikationen. Wie auch? Ich arbeite Tag und Nacht«, seufzte die Forscherin und er nickte verstehend. »Trotzdem, schick mir deinen Kalender. Irgendwo gibt es ein Leck und ich will wissen wo.«
»Wenn es dir solchen Spaß macht, meine Kontakte zu überprüfen, bitte ...«
Kurz flackerte die Verbindung und das Hologramm der Frau war wie erstarrt. Dann erreichte ihn der gewünschte Datenstrom.
»Tob dich aus. Ich muss jetzt aufhören, Raymond besteht neuerdings auf gemeinsame Familienessen«, murrte sie wenig begeistert und das Hologramm löste sich kurz darauf auf.
Auch Malik war müde und beschloss deshalb, es für heute gut sein zu lassen. Er zweifelte ohnehin stark daran, heute noch weitere Erkenntnisse zu gewinnen.
Auf dem Rückflug zu seinem Anwesen, einer der höchsten Wolkenkapseln am Himmel, genehmigte er sich ein Glas Brandy. Seine ehemalige Partnerin, Moria Mizrahi, war die revolutionäre Architektin, die diese Gebäudeform entworfen und später konstruiert hatte. Die Idee war, ein komplettes Stückchen Himmel für sich allein zu beanspruchen, weit weg, vom Chaos der Großstadt; Wolken im Vorgarten, hatte sie das Projekt deshalb scherzeshalber getauft, was er finanziert hatte, bevor sie überhaupt ihr Studium abgeschlossen hatte und noch ein absoluter Niemand war.
Aber es hatte nicht sehr lange gehalten, nur knapp vierzig Jahre. Wenn man mehr oder weniger unsterblich war und zu den reichsten und einflussreichsten Menschen des Planeten zählte, war es schwer jemanden zu finden, der ... dauerhaft genügte. Oder ihn zumindest nicht langweilte. Das war immer das Schlimmste, nicht, sich zu entlieben ... sondern es nicht einmal mehr auszuhalten, sich länger als fünf Minuten im selben Raum aufzuhalten.
Um ehrlich zu sein, hatte er die Idee der großen Liebe, seines sagenumwobenen Seelenverwandten, längst aufgegeben. Das war Menschen mit kurzen Leben vorbehalten. Vielleicht der grausame Preis, den man für die Unsterblichkeit entrichten musste.
Zu Hause warf er sich auf das elegante Ecksofa und genoss die atemberaubende Aussicht. Sonnenuntergänge zählten zu den wenigen Dingen, an denen er sich wohl niemals sattsehen konnte. Auch der Tausendste war noch so spektakulär wie sein Allererster. Wenn Menschen doch nur eine ähnlich faszinierende Wirkung auf ihn hätten ... denn er hatte das Gefühl, je mehr er kennenlernte, desto lieber zog er sich hier oben in seine Abgeschiedenheit zurück.
Und wenn er sich doch nach menschlichen Kontakt sehnte ... gab es Alternativen. Programme, die anders als Klone wirklich nichts empfinden konnten und bei richtiger Programmierung keine lästigen Fragen stellten.
Er rief die entsprechende Seite auf und startete das Programm. Kurz umhüllte ihn Dunkelheit, während das Programm mit seiner Netzhaut synchronisierte.
Er blinzelte und Jesemy hatte sich neben ihn manifestiert. Natürlich war das nicht real und er wusste das - aber für seine Synapsen fühlte es sich real an. Wenn er sie berührte, würde er ihre Wärme spüren und er konnte ihr dezentes Parfüm riechen.
Sie lächelte und würde erst etwas sagen, wenn er die Sprachfunktion aktivierte. Aber heute Abend war ihm nicht nach Konversation mit einer charmanten KI. Heute Abend, wollte er nur einen schnellen Fick.
***
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro