1️⃣ Bizonytalanság - Unsicherheit
»Hey, du wirst hier nicht für's Schlafen bezahlt«, schnauzte mein Chef Gábor Caspari mich erbost an.
Erschrocken drehte ich mich zu ihm um und ließ den Teller, den ich seit fünf Minuten trocknete, fallen. Scheppernd zerbrach er auf dem Laminat.
»Ähm, ich...ich räume das gleich weg«, stotterte ich schüchtern.
Verlegen kratzte ich mich mit der rechten Hand im Nacken. Eine Gewohnheit, die ich mir vor Jahren einmal angewöhnt hatte und nun fast dauernd tat, wenn ich in der Klemme steckte.
»Wenn du weiter so schlecht arbeitest und ständig mein Geschirr zerstörst, werde ich dich hochkant rausschmeißen«, rief mein Boss wütend, »Da kannst du mich dann noch so sehr anbetteln und mir was von deinen Geldsorgen erzählen, Jégkunyhó.«
Jégkunyhó, wie sehr ich diesen Spitznamen hasste. Es war eine Anspielung auf meine weißen Haare, die wegen eines unbekannten Gendefektes keine Farbpigmente entwickeln konnten. Kein Haarfärbemittel hielt, sogar Acrylfarbe perlte einfach ab. Früher in Ecuador hatte niemand ein Problem damit, aber seit ich mit meiner Familie nach Ungarn gezogen war, brachten sie mich ständig in Schwierigkeiten.
»Ja, Señor. Es wir nicht wieder vorkommen!«
Meine Stimme klang ängstlich und zitterte unsicher. Gábor grinste hämisch, trat von der Theke zurück und stieß dabei eine Flasche mit Zitronenlimonade um.
»Ups, das kannst du gleich mit wegwischen. Los, die nächsten Kunden kommen und wollen bedient werden! Und danach schaffst du noch den Müll raus. TEMPO!«
Mit raumgreifenden Schritten verließ er seine Arany Város-Bar in Richtung Büro, um sich dort auf die nächste Bürgermeisterwahl zu konzentrieren, die er unbedingt gewinnen wollte.
Schnell kehrte ich die Scherben auf, wischte den Limonadenfleck weg und hetzte zu dem Tisch der neuen Kunden.
»Hallo und Herzlich Willkommen in der Arany Város-Bar. Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich die beiden jungen Frauen höflich.
»Erstmal könnten Sie wieder zu Atem kommen, sonst kippen Sie noch um«, grinste die eine mich an.
Ich musterte nur kurz ihre blau gefärbten Haare, die einen Kontrast zu ihren freundlichen, rostbraunen Augen und der blassen Haut darstellten.
»Und dann würden wir zwei Cappuccino nehmen«, fügte die andere lächelnd hinzu.
Ich nickte knapp, eilte zur Theke zurück und stellte die Kaffeemaschine an. Während diese ratternd ihre Arbeit verrichtete, schnappte ich mir die überfüllten Müllbeutel. Keuchend stieß ich die zerkratzte Hintertür auf und flitzte zu den großen Mülltonnen, die noch vom letzten Mal offen standen. Mit drei kräftigen Würfen landeten die Mülltüten in den stinkenden Behältern.
Als ich in die Bar zurückkam, piepste die Kaffeemaschine leise. Eine Kollegin von mir lud gerade die Kaffeetassen auf ein Tablett, das sie mir schließlich in die Hände drückte. Geschickt balancierte ich dieses zum Tisch der jungen Frauen, die sich gerade etwas an einem Laptop anhörten.
Geräuschlos stellte ich die Tassen auf dem Tisch ab, um die beiden nicht zu stören. Die Linkssitzende sah auf und bedeutete mir, sich neben sie zu setzen. Ich überlegte nur kurz, dann zeigte ich auf die Theke und schüttelte bedauernd den Kopf. Sie nickte verständnisvoll und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Ich bekam nicht einmal mit, wann die beiden Frauen gingen, da meine Kollegin sie abkassierte.
Je später es wurde, desto häufiger sah ich auf die Uhr. 18:32 Uhr....18:59 Uhr....19:16 Uhr....19:28 Uhr....dann war es endlich 19:45 Uhr. Ein polnischer Hilfsarbeiter übernahm heute meine Aufgaben und ich konnte endlich nach Hause gehen. Nachdem ich aus der Arany Város-Bar getreten war, bog ich nach rechts ab, um zu den Plattenbauten im Osten von Miskolc zu kommen.
Traurig versank ich in Erinnerungen an Ecuador. Zwar hatte ich mit meinen Eltern, meiner älteren Schwester und meinem Bruder dort ebenfalls in einem Armenviertel, einem Slum, gelebt, aber ich hatte wenigstens Freunde gehabt. Das Zusammenleben war von gegenseitiger Hilfe und Unterstützung geprägt gewesen. Es hatten sich tiefe Freundschaften zwischen den Familien entwickelt, die durch gemeinsame Fußballspiele oder Feiern gestärkt worden waren. Alles war mehr oder weniger gut gewesen.
Und dann hatte der ehemalige Arbeitgeber meines Vaters diesem angeboten, in einer seiner Tochterfirmen in Ungarn zu arbeiten. Die Chance, auf die mein Papá seit vielen Jahren gewartet hatte. Meine Mutter hatte als Reinigungskraft kaum etwas verdient, weswegen ich für den Lebensunterhalt meiner Familie sorgen musste. Als Barkeeper, Verkäufer, Gärtner...meistens hatte ich mehrere Jobs gleichzeitig. Jedenfalls hatte mein Vater das Angebot angenommen und wir waren nach Europa aufgebrochen. Papás alter Arbeitgeber kam für den Flug und die erste Miete auf. Meine Mamá und meine Schwester hatten beide einen Job als Reinigungskräfte bekommen und ich nahm kleinere Arbeiten, wie Hunde ausführen oder Zeitungen verkaufen, an. Ein halbes Jahr ging es uns ganz gut und ich hatte erneut begonnen, von einem Jurastudium zu träumen.
Allerdings hatte dann der neue Arbeitgeber meines Vaters Insolvenz anmelden müssen und Papá wurde wieder arbeitslos. Unsere Ersparnisse waren innerhalb von einem Jahr trotz unzähliger Sparmaßnahmen aufgebraucht und auch der Job in der Arany Város-Bar, den ich kurzfristig angenommen hatte, konnte uns nicht retten. Ein anderer Arbeitsloser dieser Tochterfirma klagte sein letztes Gehalt ein und das ungarische Oberlandesgericht gab ihm glücklicherweise recht. Dadurch bekam mein Vater ebenfalls sein letztes Gehalt von seinem ecuadorianischen Ex-Arbeitgeber, der für die Tochterfirma hatte aufkommen müssen. Von diesem Geld bezahlten wir unsere Schulden ab und waren erstmal wieder im grünen Bereich.
Eine leise Melodie riss mich aus meinen trüben Gedanken. Neugierig folgte ich den verspielten Tönen in eine Seitenstraße und fand mich plötzlich auf einem größeren Parkplatz wieder. Am hinteren Ende stand eine kleine Bühne, rundherum lauschten Menschen, Jung und Alt, der sanften Musik.
Eine junge Frau, muskulös und drahtig, betrat die Bühne und forderte das Publikum mit ein paar Handbewegungen auf, mit zu klatschen und zu tanzen. Sie selbst bewegte sich leichtfüßig zur Musik, ihre schwarzen, lockigen Haare wirbelten um ihren Kopf. Durch den dunklen Teint der Frau konnte man ihr Gesicht nur als leichte Silhouette erkennen. Im Kontrast dazu leuchteten ihre neongelben Turnschuhe, die dazupassenden Leggins und das Top im schwachen Scheinwerferlicht.
Sie begann nun, gefühlvoll zu singen, obwohl ihre Stimme vor Kraft strotzte. Schon nach wenigen Takten erkannte ich den Song: die englische Fassung von "Yo Quisiera".
Dieses Lied hat mich während meiner gesamten Kindheit in Ecuador begleitet; hat mir Kraft gespendet, wenn ich mal wieder keine Lust auf die Schule gehabt habe.
Berührt näherte ich mich der Bühne und ließ mich von der Musik mitreißen.
You ask me for thousands of advices
just to protect yourself,
Your next encounter with love, you know,
I'll be protecting you...
Ich wiegte mich zusammen mit den anderen Besuchern in der Musik und summte leise mit. Nun betrat auch eine zweite Frau die Bühne. Ein weites, dunkelblaues Kleid verbarg ihren schlanken Körper, ihre Stimme schallte tief und kraftvoll über den Platz. Während sie eine Strophe nach der anderen absolvierte, huschte mir ein Schauer über den Rücken.
Kurz bevor das Lied endete, sah sie mich direkt an.
Plötzlich kam sie mir bekannt vor: große, gutmütige Augen, die wunderbar rostbraun leuchteten; helle, fast weiße Haut und blonde, an manchen Stellen blau gefärbte Haare. Überrascht hielt ich die Luft an, doch sie wandte den Blick ab und verschwand von der Bühne.
Ich schob mich langsam rückwärts durch die Massen.
Als nächstes betrat eine Gruppe Jungen die Bühne und begann zu Michael Jacksons "Black Or White", zu tanzen.
Ich eilte inzwischen wieder auf die Hauptstraße zurück und schlug den Heimweg ein.
Hier, in Europa, "Yo Quisiera" zu hören, war schön und traurig zugleich. Dieses Lied weckte wunderbare, aber trotzdem schmerzvolle Erinnerungen, die ich eigentlich glaubte, verdrängt zu haben.
Bis zur Haustür quälten mich die Gedanken an meine ecuadorianischen Freunde. Wie erging es ihnen wohl gerade? Dachten sie noch an mich oder hatten sie mich schon vergessen? 5 Jahre waren eine lange Zeit...
Leise schob ich die Tür unseres heruntergekommenen Plattenbaus auf, sprang die Treppen nach oben und öffnete unsere Wohnungstür. Es waren alle Lichter gelöscht worden, die Reste des Abendbrots befanden sich wahrscheinlich schon im Kühlschrank.
Ich schnappte mir ein Glas, füllte es mit Wasser und leerte es mit einem Zug.
Danach streifte ich mir die fleckigen Hosen ab und schlüpfte aus meinem stinkenden Arany Város-Bar-Shirt. Beides ließ ich in den Wäschekorb fallen.
Vorsichtig stieß ich die Tür zum Kinderzimmer auf, das ich mir mit meinem 13-jährigen Bruder Gabo und meiner 21-jährigen Schwester Zoë teilte. Beide schliefen; fest in ihre Decken gekuschelt. Ich schlüpfte nun ebenfalls in mein Bett und fiel wenige Sekunden später in einen tiefen Schlaf.
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