Des Teufels General
Die von der ETF wissen, wie man jemandem Angst einjagt. Ohne auch nur Anstalten zu machen, uns zu erklären, was hier vor sich geht, trennen die Soldaten Rada und mich. Ich kann meiner besten Freundin nur noch nachsehen, wie sie durch eine Tür bugsiert wird, ehe der schier endlos lange, schwach beleuchtete Korridor einem Behandlungszimmer weicht.
Wie von selbst fällt mein Blick als Erstes auf die Spritzen, die auf einem Beistelltisch neben dem Krankenbett liegen. Sofort weicht mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht. "Ich bin in der Hölle", murmle ich geistesabwesend und bemerke zunächst gar nicht, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen habe.
"Aber nein doch, du bist im deutschen Hauptquartier der ETF", beschwichtigt mich auf einmal eine sanfte Frauenstimme. Mein erster Reflex ist es zu schnauben und etwas in die Richtung Ach gut, dann bin ich nur in der Vorhölle gelandet zu entgegnen. Glücklicherweise kann ich meine Zunge ausnahmsweise mal im Zaum halten – beziehungsweise kriege ich schlicht und ergreifend keinen Ton raus.
Ich hasse Ärzte, Krankenhäuser und alles, was damit zu tun hat. Aber am meisten hasse ich Spritzen. Ob man mich rauslässt, wenn ich erzähle, ich hätte es mir anders überlegt und wolle doch zurück zu Abaddon? Der Dämon wollte mir wenigstens kein Blut abnehmen. Doch im selben Moment beschleicht mich ein weitaus schlimmerer Gedanke. Was, wenn sie mir etwas injizieren wollen? Vielleicht ein Wahrheitsserum? Wird das hier ein Verhör? Oder wollen sie mir einen Chip einpflanzen, um mich besser überwachen zu können? So, das reicht mit den Verschwörungstheorien, Alex, sonst kommen wir am Ende noch zu dem Ergebnis, Bill Gates würde hinter all dem hier stecken...
Also zwinge ich mich, den Rest des Raums unter die Lupe zu nehmen. Hier drin sieht es tatsächlich wie in einem typischen Krankenhauszimmer aus – steril, kalt und für mich wie die Kulisse eines Horrorfilms. Ein Schaudern fährt durch meinen Körper, als mir auch die restlichen Gerätschaften, die hier überall herumstehen, auffallen. Unwillkürlich verschränke ich die Arme wie zum Schutz vor meiner Brust. Als Letztes hefte ich das Augenmerk auf die Krankenschwester, die neben dem Bett steht und mir ein mitleidiges Lächeln schenkt.
"Ich müsste deine biometrischen Daten aufnehmen und dich kurz untersuchen", teilt sie mir mit und deutet auf die Liege. Jetzt, wo ich mich auf die Frau konzentriere, fällt mir ihr leichter Akzent auf. Sie klingt britisch, vielleicht auch irisch oder sowas. Sie dürfte Ende 30 sein, eher klein und schlank. Ihre rotblonden Locken machen dem Begriff messy bun alle Ehre, als würden sie dagegen rebellieren, in ihrem Dutt gefangen zu sein. Sommersprossen und strahlend blaue Augen komplettieren den Look. Eigentlich fehlt ihr nur noch eine dieser mittelalterlichen Roben, die man auf Etsy findet, dann könnte sie ohne Weiteres in einem Robin-Hood-Remake mitmachen.
"Darf man fragen wozu?", erwidere ich mehr als misstrauisch. Ich bin mir sicher, dass mir Lady Syringe unter anderen Umständen von Anhieb an sympathisch wäre. Aber nicht, wenn sie mich gleich in ein Nadelkissen verwandelt. Denn was sie noch nicht zu ahnen wagt – bisher hat es kein einziger Menschen geschafft, meine extrem dünnen Venen, die sich bei jeder Blutabnahme wie überkochte Spaghetti vor der Spritze wegwinden, beim ersten Mal zu treffen. Dementsprechend hat sich jedes Blutbild in tagelangen Schmerz in beiden Armen verwandelt, nachdem man mir minutenlang unter der Haut herumgepiekst hat.
"Das ist eine Anweisung, das muss jeder machen", erklärt sie entschuldigend und breitet die Arme aus, also wollte sie mir sagen, dass es ja auch nicht ihre Schuld sei und sie mir die Unannehmlichkeiten gerne ersparen würde.
Als Antwort erhält sie nicht mehr als ein Brummen. Widerwillig ziehe ich die Handschuhe und die Motorradjacke aus und kremple meine Ärmel hoch, während ich mich aufs Bett setze. Die Schutzkleidung ist schwarz, darum fällt der Krankenschwester das Blut an meinem Bein vermutlich nicht sofort auf. Als ihre Augen allerdings den Riss fixieren, weiten sich diese schlagartig und sie saugt die Luft deutlich hörbar ein.
"Bist du etwa verletzt?", ruft sie überrascht aus. Erneut würde ich am liebsten trocken aufschnauben. Ja, aber ich bin bereits verarztet worden. Als sie den Stoff hastig zur Seite schiebt, um die mögliche Wunde zu untersuchen, stellt sich auch noch heraus, dass dieser Abaddon der beste plastische Chirurg ist, den man sich nur wünschen kann. Weder Kratzer noch Narben deuten auf die Verletzung hin.
Mit tief in Falten gelegter Stirn starrt die Krankenschwester auf mein Bein, ehe sie bedächtig den Blick hebt. "Wessen Blut ist das?", erkundigt sie sich in einem beinahe mütterlichen Tonfall. Vermutlich hält sie mich für traumatisiert und will bloß nicht den Eindruck erwecken, als würde sie mich zu etwas drängen.
Bin ich traumatisiert? Ich weiß, dass ich es sein sollte. Ich sollte austicken, vor Angst am ganzen Leib zittern und in Tränen ausbrechen. Doch mir ist nicht nach Weinen zumute. Mittlerweile kann ich nicht mal behaupten, dass ich mich sonderlich fürchten würde. Mir kommt es eher vor, als wäre ich jemand anders, der dem Ganzen nur als stiller Beobachter beiwohnt. Ist auch das eine Form des Traumas? Oder interessiert es mein Hirn tatsächlich nicht, was um mich herum geschieht?
"Keine Ahnung", lüge ich und wähle einen abweisenden, brüsken Tonfall. Sind die heutigen Erlebnisse zu unwirklich, als dass ich sie an mich heranlassen könnte? Warum zum Teufel empfinde ich keine Angst, Wut, Hilflosigkeit? Natürlich ist da Sorge – Sorge um Fabi, Sorge um meine Eltern, meine Oma, um Maren, die eigentlich in München hätte ankommen müssen, während die Zombies bereits durch die Stadt geschlurft sind. Sorge um meine Kollegen. Sorge um Grabner und seine Soldaten, die vermutlich in der Geisterstadt, in die sich München und Umgebung mit einem Schlag verwandelt haben, ihr Grab gefunden haben. Aber kein Gefühl von Beklommenheit in meiner Brust, keine zugeschnürte Kehle und kein Herzrasen. Und das ist ehrlich gesagt das Einzige, das mir im Augenblick echte Angst einjagt.
"Es ist ok, wenn du nicht darüber reden willst", beschwichtigt mich die andere Frau im Raum. Ihre Stimme dringt wie durch Watte zu mir und erst jetzt merke ich, dass ich völlig apathisch durch sie hindurch starre. Vielleicht geht es mir nicht gar so gut, wie mein Hirn mir zu suggerieren versucht. "Darf ich dir Blut abnehmen?"
"Meinetwegen", nuschle ich, strecke ihr den Arm hin und balle die Hand zur Faust. Bitte mach, dass es möglichst schnell vorbei ist. Demonstrativ wende ich das Gesicht ab. Gleichzeitig spüre ich, wie sich ein Riemen um meinen Oberarm spannt und mein Ellbogen auf einem Kissen landet. Augen zu und durch.
Sekunden verwandeln sich in Stunden und Minuten in eine kleine Ewigkeit – und noch immer geschieht nichts. Verwirrt riskiere ich einen Blick zur Krankenschwester. Die Falten auf ihrer Stirn scheinen noch stärker hervorzutreten, während sie sich hochkonzentriert über meinen Arm beugt und versucht die Nadel unter meine Haut zu bringen. Tatsächlich berührt das spitze Ding die empfindliche Haut, unter der ein blassblaues Adergeflecht leuchtet. Doch egal wie viel Druck die Frau ausübt, die Spritze lässt sich nicht setzen.
"Eigenartig", murmelt sie wie zu sich selbst auf Englisch, schüttelt den Kopf und inspiziert die Nadel akribisch. "Ich kann nicht erkennen, dass sie abgebrochen wäre oder ähnliches..."
Perplex blinzle ich sie ein paar Mal an. Schlagartig kriecht die Panik doch in mein Bewusstsein. Nachdem es die Krankenschwester mit einer zweiten Spritze versucht und sich auch diese Nadel nicht unter meine Haut zu bohren vermag, verkrampft sich meine gesamte Muskulatur. Was hat Abaddon mit mir angestellt?
Die Frau mustert mich einige Sekunden lang, in ihren Augen liegt dabei ein sonderbarer Ausdruck, den ich nicht zu deuten weiß. Dann richtet sie sich abrupt auf, drückt mir eine kleine Kompresse in die Hand und lässt die leere Probe in einem Behälter verschwinden.
Instinktiv presse ich das Stück Stoff gegen meine Armbeuge, auch wenn es keine Blutung zu stillen gibt. Gerade rechtzeitig. Denn im nächsten Moment öffnet sich die Tür ein Stück weit und General Mair windet sich wie eine Schlange durch den Türspalt. Zunächst erhellt noch ein freundliches Lächeln sein von tiefen Falten geziertes Gesicht. "Guten Abend, Frau Erdmann", begrüßt er mich, ehe er sich auf Englisch höflich an die Krankenschwester wendet. "Mrs. Byrne, würden Sie uns kurz allein lassen? Vielen Dank."
Kaum hat sie den Raum verlassen, verschwindet mit ihr auch Mairs Lächeln. Seine eisigen blauen Augen werden mit einem Mal hart und durchdringend wie Pistolenkugeln – und sie scheinen sich direkt in meine Seele zu bohren, als gäbe es nichts, was seinem Röntgenblick entgehen könnte. "Wie fühlen Sie sich, Frau Erdmann?"
Vor Überraschung schießen sogleich meine Augenbrauen in die Höhe. Ich hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit. "Den Umständen entsprechend", weiche ich aus und drücke die Kompresse etwas fester gegen meinen Arm, was ihm nicht zu entgehen scheint. So vorsichtig wie möglich versuche ich, das Stoffstück mit den Fingern zu bedecken. Dort hätte sich längst ein roter Punkt bilden müssen, hätte man mir tatsächlich Blut abgenommen. Ich will nichts erklären müssen. Vor allem da ich keine Erklärung parat habe.
"Ihre Hose ist zerrissen", bemerkt er tonlos. Was für ein krankes Spiel soll das werden?
"Ich glaube, ich bin irgendwo hängen geblieben", lüge ich – und blinzle dabei wie immer zu oft. Selbst meiner Stimme hört man deutlich an, dass das nicht die Wahrheit ist. Doch das Pokerface des Generals lässt keinerlei Rückschlüsse darüber zu, was er von meiner faulen Ausrede hält.
"Wie dem auch sei. Es gibt Wichtigeres zu besprechen", wechselt er abrupt das Thema.
"Geht's um die aktuelle Lage?", erkundige ich mich verunsichert. Robert hat am Telefon von Mair gesprochen. Vermutlich wird uns die ETF nicht zum Spaß hierherbestellt haben, bevor die Hölle ausgebrochen ist.
"Das liegt ja wohl auf der Hand", erwidert er mit einem leichten Anflug von Spott. "Wenn Sie erlauben, rede ich nicht lange um den heißen Brei. Leider wurden viele unserer führenden Wissenschaftler im Lauf der letzten Wochen entführt und/oder ermordet."
Warum genau erzählt er mir das?
"Die Vorfälle begannen mit Aufnahme des Projekts EMI-249. Um weiteren Verlusten vorzubeugen, haben wir den Auftrag Ihrer Firma übertragen. Mittlerweile verdichten sich die Hinweise, dass die Resetter im Zusammenhang mit den Entführungen und den jüngsten Geschehnissen stehen. Doch weder die ETF noch andere militärische oder staatliche Behörden sind bereit, das Feld kampflos zu räumen. Und Sie werden uns in diesem Kampf unterstützen, Frau Erdmann", teilt er mir in einem zackigen Staccato, das keine Widerrede duldet, mit.
Wie vor den Kopf gestoßen starre ich ihn verständnislos an. Anscheinend muss er meinen Ausdruck missinterpretieren. Auf einmal huscht ein Schatten über sein Gesicht, seine Augen verengen sich zu Schlitzen und seine Lippen verwandeln sich in eine haardünne Linie.
"Ausgelöst worden ist diese ganze Hölle durch einen miesen Trick. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind einer Gesteinsspur in einem alten, abgelegenen Minenschacht im Timna-Tal in Israel gefolgt. Bei dem Gestein handelt es sich um ein bis dato unbekanntes Mineral, welches in einer Abschreckungswaffe verwendet werden sollte, um einen möglichen Krieg zu vermeiden", holt er diesmal etwas weiter aus. "Um uns Ihrer Loyalität zu versichern, bedenken Sie Folgendes: Es war Ihr Programm, mit dessen Hilfe wir das Gestein identifizieren konnten. Wenn Sie nicht kooperieren, müssen wir das so verstehen, dass Sie und Ihre Begleiter Teil dieser Verschwörung sind und es Ihr Programm war, das uns in die Falle gelockt hat. Was wird wohl geschehen, wenn die wenigen Überlebenden herausfinden, dass eine der Hauptverantwortlichen für all ihr Leid unter ihnen weilt?"
Schockiert starre ich ihn mit leicht geöffnetem Mund an. Am liebsten würde ich losbrüllen. Aber ich kann keinen einzigen klaren Gedanken formulieren und so kommt mir auch kein Wort über die Lippen. Alles an ihm schreit geradezu danach, dass er seine Drohung ohne mit der Wimper zu zucken in die Tat umsetzen würde. Natürlich, in seinem Spiel bin ich vermutlich kaum mehr als ein Bauer, den man jederzeit bereitwillig opfern würde. Mair wird seine Zeit nicht unnötig mit unwichtigen Figuren wie mir verschwenden. Er will den König, um möglichst bald kalt lächelnd Schachmatt flüstern zu können. Und wir Bauern sind sein Mittel zum Zweck.
"Es ist nicht nötig, mich zu erpressen. Ich helfe Ihnen auch so", erkläre ich niedergeschlagen und wende den Blick ab. Was dem General nur ein leises, freudloses Lachen entlockt.
"Soll ich Ihnen etwa aufs Wort glauben? Entweder sind Sie eine äußerst talentierte Programmiererin oder ich habe allen Grund Ihnen zu drohen. In jedem Fall kann ich mir nun Ihrer Loyalität sicher sein. Vor allem wenn man bedenkt, dass sich auch Ihre Freundin hier befindet", erwidert er kühl. Ich weiß nicht, was schlimmer ist – Psychospielchen oder diese brutale Offenheit.
Ohne ein weiteres Wort mit mir zu wechseln, ruft er die Krankenschwester wieder herein. Lautlos huscht sie zu mir, positioniert sich so, dass der General meinen Arm nicht sehen kann, und klebt mir hastig ein Pflaster an die vermeintliche Einstichstelle. Unter dem wachsamen Blick des alten Mannes nimmt sie auch den Rest meiner biometrischen Daten auf, ehe ich fürs Erste entlassen bin.
"Sie werden Ihre Arbeit gleich morgen früh aufnehmen. Herr Götz und Frau Doktor Della Vigna, eine unserer Chef-Wissenschaftlerinnen, werden Ihnen erklären, was zu tun ist", meint er zum Abschied, ehe er sich zackig umdreht und durch die Tür marschiert. An seine Stelle tritt sofort der Soldat, der mich bereits in der Garage abgeführt hat.
"Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer", informiert er mich tonlos. Schwer schluckend krame ich meine Sachen zusammen und verabschiede mich mit einem höflichen Nicken von Mrs. Byrne. Dann werde ich erneut wie eine Schwerstkriminelle in meine Zelle begleitet – und Gefängniszelle trifft es wirklich gut.
Das Zimmer ist alles andere als komfortabel – zwei Stockbetten aus Metall, winzige Spinde, die uns als Schränke dienen sollen, enge Durchgänge und eine extrem niedrige Decke, die ich vermutlich mit den Fingerspitzen berühren könnte, wenn ich den Arm nach oben recken würde. Aber vermutlich bin ich ein Miststück, dass ich mich darüber beschwere, dass ich hier Zuflucht gefunden habe. Andere Leute sind tot. Oder untot.
Aber die spartanische Einrichtung ist noch nicht mal das Schlimmste. Kein einziges Fenster befindet sich im winzigen Raum, die einzige Lichtquelle ist die Lampe an der Decke. Ich kann nicht in der Dunkelheit schlafen. Ich brauche immer irgendeine Lichtquelle, am besten Straßenlaternen und Lichtreklamen. Als Kind habe ich geglaubt, Monster würden unter meinem Bett lauern und wenn es ganz dunkel in meinem Zimmer ist, würden sie mich angreifen. Zwar weiß ich als Erwachsene, dass die düsteren Schatten nur in meiner Einbildung existieren – oder zumindest habe ich es bis dato zu wissen geglaubt. Aber der blöde Tick ist mir erhalten geblieben.
Unvermittelt wird hinter mir die schwere Tür geschlossen, was mich erschrocken zusammenzucken lässt. Jetzt bin ich also allein mit meinen Gedanken hier drin eingesperrt. Fantastisch. Skeptisch schiele ich zu dem zweiten Stockbett rüber. Ich gehe mal stark davon aus, dass Mair zumindest nicht so grausam ist, Rada und mich weiterhin voneinander zu trennen. Doch mit wem werden wir es sonst noch zu tun kriegen? Ich kann nur hoffen, dass unsere neuen Mitbewohner zumindest nett sein werden. Wenn doch nur Maren da wäre... Drei gegen einen ist im Zweifelsfall besser als zwei gegen zwei.
Seufzend trotte ich zu einem der Spinde. Sie sind nicht beschriftet oder ähnliches, also öffne ich alle vier – größtenteils aus Neugier. Doch noch sind mir anscheinend keine Mitbewohner zugeteilt worden. Oder sie haben auch keine Sachen mehr, in denen ich rumwühlen könnte. Frustriert hänge ich die Motorradjacke in den Schrank und lasse die Tür schwungvoll zuknallen. Ich fühle mich einfach nur dreckig und die Tatsache, dass ich mich nicht mal umziehen kann, verstärkt den Eindruck nur noch weiter. Eigentlich weiß ich gar nicht, worüber ich mir zuerst den Kopf zermartern soll – darüber, dass ich nicht weiß, was mit meiner Familie und meinen Freunden ist, darüber, was dieser verfluchte Dämon mit mir gemacht haben könnte, oder am besten gleich darüber, dass ich im Prinzip für diese ganze Hölle verantwortlich bin. Denn Mair hat im weitesten Sinne recht. Ohne meine KI wäre das alles nicht passiert.
Doch mit einem Mal überwältigt mich die Müdigkeit. Erschöpft lasse ich mich auf eines der unteren Betten gleiten. Kaum hat mein Kopf das Kissen berührt, fallen meine bleischweren Lider auch schon zu. Eine warme Finsternis nimmt mich in Empfang und zieht mich in eine sanfte Umarmung, die ich nur allzu gerne erwidere. Ich bin offiziell fertig mit der Welt. Ich will nur noch schlafen und meine Energiereserven wenigstens ansatzweise auffüllen. Erstaunlich, wie leicht es mir fällt, mein schlechtes Gewissen und die Sorgen um meine Familie zu verdrängen und mich stattdessen in den Schlaf sinken zu lassen.
Ein zufriedenes Lächeln umspielt meine Lippen, während ich durch Raum und Zeit zu fallen scheine. Doch auf einmal höre ich ein Knistern und plötzlich umgibt mich eine wohlige Wärme. Ich glaube, den tröstlichen Geruch eines Kaminfeuers zu vernehmen zusammen mit dem Duft von Parfum – ein leicht süßliches, intensives Bouquet, komplementiert von einer würzigen Note, die ich nicht so recht einzuordnen weiß. Es ist eine betörende Kombination und ein wahrer Segen nach dem beißenden Gestank nach Schwefel, Tod und Verderbnis, der mir noch immer in der Nase liegt.
Neugierig öffne ich die Augen ein wenig und spitze durch die noch immer weitestgehend geschlossenen Lider. Tatsächlich liege ich vor einem gemütlichen Kamin, über dem so etwas wie ein Wappenschild zu hängen scheint. Mein Blick fällt geradewegs auf eine Steinwand, die dem Raum ein gewisses Burgflair verleiht – als befände ich mich mitten in einem Ritterfilm.
Das unbequeme Bett ist einem komfortablen Sofa gewichen und das dünne Bettlaken einer weichen Felldecke. Unmittelbar neben dem Sofa erkenne ich ein antik anmutendes Beistelltischchen, auf dem eine prächtige Kristallkaraffe und ein Whiskeyglas stehen. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der kunstvoll gefertigten Karaffe leuchtet wie ein Edelstein im Sonnenlicht. Mein Kissen hat sich derweil in ein weißes Hemd verwandelt. Wie alles im Zimmer wirkt auch das Kleidungsstück irgendwie alt, als stamme es aus einem Historienfilm.
Das Hirn ist schon ein sonderbares Organ. Meins hat nun bereits jedes noch so kleine Detail in diesem Raum erfasst. Nur den Mann, auf dessen Brust ich liege, ignoriert es geflissentlich. Vielleicht ist es eine Art Schutzreaktion? Vielleicht sollte ich mich einfach der Illusion hingeben, die Augen schließen und im besten Fall tatsächlich einschlafen?
Doch ich wäre nicht ich, wenn ich es dabei belassen würde. Also lege ich den Kopf in den Nacken, um mein neues Kissen in Augenschein zu nehmen. Hat es das wirklich gebraucht? Schließlich weiß etwas in mir bereits, was ich zu erwarten habe. Weißes Haar, alabasterfarbene Haut und Augen, die den Betrachter tatsächlich wie ein Schwarzes Loch in ihren finsteren Bann zu ziehen scheinen.
Unsicher darüber, was ich tun soll, blicke ich nur erwartungsvoll zu Abaddon hinauf. Vielleicht ist er nur ein Trugbild und löst sich gleich in Luft auf? Aber mittlerweile ist selbst mir klar geworden, dass er niemals nur ein Trugbild war. In seiner rechten Hand hält der Dämon ein Glas, in dem sich dieselbe bernsteinfarbene Flüssigkeit befindet wie in der Karaffe. Sein linker Arm ist schützend um mich gelegt.
Träge senkt er den Blick zu mir. Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen, in seine Augen schleicht sich ein teils amüsiertes, teils liebevolles Funkeln – ein Ausdruck, der einen harschen Kontrast bildet zu dem Wesen, das uns noch vor wenigen Stunden seine zerstörerische Macht auf so brachiale Weise demonstriert hat. Und gleichzeitig ist diese Art wesentlich entwaffnender als all die martialische Gewalt, derer er sich heute bedient hat.
Zärtlich streicht er mir mit der linken Hand übers Haar. „Schlaf", flüstert er sanft, ehe er mich gerade so weit zu sich hochzieht, dass er sich runterbeugen kann, um mir einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Sofort fällt jegliche Anspannung wie ein Schleier von mir herab. Mit einem wohligen Seufzer schmiege ich mich an seinen Körper und lege eine Hand auf seine Brust. Schon nach wenigen Minuten wiegt mich der ruhige, gleichmäßige Takt seines Herzschlags in den langersehnten Schlaf.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro