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⋆⁺₊⋆ in the shadows ⋆⁺₊⋆
『 3863 』
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He stood at the edge of his truth, watching someone who walked freely in theirs, yearning for the courage to take a single step
ʚ Louis ɞ
"Meinst du das reicht?", fragte ich meine Schwester und blickte in den Einkaufswaagen. "Klar, wir sind doch nur zu viert", erwiderte sie und blickte über meine Schulter zu den Einkäufen. "Oder hast du noch auf was Bestimmtes Lust?" - "Warte, zu viert? Ich dachte nur wir beide und dein Mann", fragte ich leicht verwirrt und drehte mich zu Lottie herum. "Ach, hatte ich es nicht erzählt? Der Arbeitskollege von Tommy ist auch dabei, er wäre sonst alleine Zuhause und da dachte ich, dass wir ihn auch einladen könnten", erklärte sie und schob den Einkaufswagen weiter durch die Gänge des Supermarktes.
"Dann sollten wir vielleicht noch ein wenig von den Kartoffeln mitnehmen, und auch noch ein wenig mehr von den Zutaten für den Nachtisch", merkte ich an und holte die Lebensmittel direkt, damit wir endlich aus dieser überfüllten Hölle kamen. Kurz vor Weihnachten einkaufen war einer der schlechtesten Ideen, die man haben konnte.
Es dauerte noch eine Weile, bis wir uns an die Kasse gekämpft hatten, bezahlten und endlich die Lebensmittel zum Auto bringen konnten. "Sag mir bitte, dass wir jetzt alles haben und nach Hause können", jammerte ich und zog die Strickjacke etwas enger um meinen Körper. Heute nach dem Aufstehen hatte ich auch überhaupt nicht auf das Wetter geachtet und mich viel zu dünn angezogen. "Ja, wir haben alles", lachte meine Schwester und schickte mich noch den Einkaufswagen wegbringen.
An ihrer Wohnung angekommen fanden wir tatsächlich direkt einen Parkplatz vor der Tür, konnten die Einkäufe schnell hochbringen und endlich konnte ich mich mal für einen Moment hinsetzten. "Alles okay?", wollte Lottie wissen und bereitete uns beiden eine Tasse Tee zu. "Mir ist einfach nur kalt und die ganzen Leute im Supermarkt nerven mich. Hast du die beiden älteren Damen mitbekommen? Wie unfreundlich die mit dem Personal gesprochen haben? Ich werde es einfach nicht verstehen, wie man die Menschen an solchen stressigen Tagen so anmeckern kann. Die versuchen doch alles hinzubekommen und allem gerecht zu werden, da kann man doch auch netter sein", motzte ich vor mir hin und seufzte laut. "Ich hasse Menschen", murrte ich und bedankte mich kurz darauf für die Tasse, die mir meine Schwester vor die Nase hielt.
"Es ist einfach eine unfassbare stressige Zeit. Ich mag es nicht hinunterspielten und fair ist es gewiss nicht, aber ich denke in der Weihnachtszeit haben die Menschen so viel mit familiären Angelegenheiten zu kämpfen, da sind die Nerven einfach schon genug strapaziert. Nicht für jeden ist es ein besinnliches Fest", erinnerte sie mich, weswegen ich langsam nickte.
"Mag sein, aber es ist keinem geholfen, wenn man so unfreundlich ist."
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"Kannst du mal zur Seite gehen?", blaffte mich der Arbeitskollege von Tommy an und blickte mich finster an. "Könntest du das auch ein wenig netter sagen?", feuerte ich direkt zurück und verschränkte meine Arme vor der Brust. "Geh beiseite. Bitte", brummte er und brach den Blickkontakt nicht ab.
Ich hingegen schüttelte nur noch mit dem Kopf, trat zur Seite und wusste gar nicht, wie ich das finden sollte. Dieser Idiot wurde eingeladen, damit er Weihnachten nicht Zuhause allein verbringen musste? Meiner Meinung nach, hätte er es schon gar nicht anders verdient. Seit er hier war, war er schlecht gelaunt und ich war der einzige, der seine Laune zu spüren bekam. Meine Schwester behandelte er wie einen Engel und auch zu Tommy schien er einen wirklich guten Draht zu haben.
Leise seufzend zog ich mich aus dem Wohnzimmer zurück und ging in die Küche. Mit einer dampfenden Tasse Tee setzte ich mich an den Küchentisch, klappte mein Notebook auf und laß mir ein paar Mails und Bestellungen, um die ich mich morgen kümmern musste, durch.
Da es bis zum Essen noch etwas dauerte, und soweit alles vorbereitet war, hatte ich auch kein schlechtes Gewissen mich ein wenig zurückzuziehen und mich ein wenig meinem Business, welches ich Anfang des Jahres gegründet hatte, widmete.
Ich war so tief in der Arbeit versunken, das ich gar nicht merkte wie Harry telefonierend in die Küche trat. Erst als er seine Stimme erhob und lauter sprach, wurde ich auf ihn aufmerksam. Ich stoppte in meiner Bewegung, sah zu ihm auf und konnte nicht verstehen, warum er bei dem Telefonat so laut werden musste. Er schien nicht mal aufgebracht oder ähnliches, er war einfach nur laut und irgendwie auch störend.
Da es nicht schien als würde er das Telefonat in den nächsten Minuten beenden, nahm ich meine Sachen samt Tee und verließ die Küche, nur um mir im Gästezimmer einen ruhigen Platz zu suchen. Gerade hatte ich es mir auf dem Sessel mit dem Laptop auf dem Schoß gemütlich gemacht, da klopfte es an der Tür.
"Ja, bitte?", fragte ich nach und sah überrascht zu Harry, welcher die Tür aufstieß. "Charlotte will, dass du Eiswürfel holst", brummte er. "Möchte sie bestimmte?", hakte ich nach, klappte meinen Laptop zu und legte ihn zur Seite. "Was weiß ich, hol einfach welche."
"Was ist dein Problem, huh?", fragte ich frei raus und stellte mich mit verschränkten Armen vor ihm hin. So langsam hatte ich echt keine Lust mehr. "Weder wurde ich vorhin von dir begrüßt, noch hast du mich dir vorgestellt. Ich verstehe wirklich - wirklich nicht, was dein verdammtes Problem ist. Mit meiner Schwester und mit Tommy scheinst du dich ja prima unterhalten zu können."
Gespannt sah ich ihn an, erhielt aber keine Antwort auf meine Frage. "Na super und jetzt sprichst du gar nicht mehr mit mir?" Wieder keine Antwort. "Tut mir wirklich leid, wenn meine Präsenz bei dir irgendwas triggert. Ich ziehe mich gerne zurück, wenn dir das lieber ist", murmelte ich ergeben und ließ Harry im Zimmer zurück. Im Flur schlupfte ich in meine Schuhe, erkundigte mich bei meiner Schwester, was sie genau haben wollte und machte mich auf den Weg zu einem der Supermärkte, die noch bis nachmittags geöffnet hatten.
Schließlich wurde ich doch noch fündig, nahm für mich etwas Schokolade mit und ließ meine Gedanken während des Einkaufs um die Situation mit Harry kreisen. Ich fragte mich, ob ich bei der Begrüßung etwas falsch gemacht hatte. Doch ich war höflich gewesen, hatte ihm freundlich die Hand gereicht – eine Geste, die er wortlos ignoriert hatte.
Etwa eine Viertelstunde später parkte ich vor der Wohnung, ließ meinen Blick zu der leuchtenden Dekoration auf dem Balkon wandern und spielte gedankenverloren mit meinem Regenbogenarmband. Die Aussicht auf eine angespannte Stimmung beim Essen gefiel mir überhaupt nicht – besonders nicht, da Lottie sich so unglaublich viel Mühe gegeben hatte. Und erst recht nicht, weil Mama es niemals gutgeheißen hätte, dass wir an einem Tag, der ihr so viel bedeutet hatte, so miteinander umgingen.
Da ich mich nicht noch länger drücken konnte, stieg ich mit den Einkäufen aus, betrat das Treppenhaus und lief zur Wohnung. Schon beim Öffnen der Tür hörte ich alle lachen und munter miteinander reden, was mir einen Stich in die Magengrube verpasste. Ich war es nicht gewohnt, wenn ich die Ursache eines Problems war.
Die drei hatten es sich im Wohnzimmer bequem gemacht. Kurz machte ich auf mich aufmerksam, gab Bescheid, dass ich wieder da war und zog mich anschließend zurück. Auch wenn Harry mein Angebot nicht angenommen hatte, schien es mir falsch mich jetzt mit ins Wohnzimmer zu setzten.
Ich verstaute die Eiswürfel im Tiefkühlfach, nahm die Schokolade aus dem Stoffbeutel und zog mich im Gästezimmer zurück. "Lou, ist alles in Ordnung?", hörte ich meine Schwester einen Moment später fragen und sah vom Bildschirm auf. "Ich fühle mich einfach nicht so gut, ich bekomme Kopfschmerzen", log ich und räusperte mich. "Soll ich dir irgendwas bringen? Möchtest du, das wir später essen?"
"Nein alles gut, ich brauche nur einen kurzen Moment. Ich bin gleich da und helfe dir in der Küche." Doch meine Schwester lehnte es ab. "Alles gut, Harry hat mir schon seine Hilfe angeboten. Du hast mir in den letzten beiden Tagen, selbst an deinem Geburtstag, so viel geholfen. Du kannst dich ruhig ausruhen", lächelte sie und wollte die Türe schließen. "Harry hat dir seine Hilfe angeboten?", hakte ich nach und biss mir auf die Innenseite meiner Wange.
"Ja, tut er schon die ganze Zeit. Hatte doch gesagt, dass er ein echt lieber Kerl ist", lachte sie leise und strich sich durch die blondierten Haare. "Davon bekomme ich echt nichts mit", nuschelte ich und wiederholte meine Worte als Lottie mich fragend ansah.
"Was meinst du denn?", hakte sie nach, trat mehr ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. "Das er zu mir nicht gerade nett ist. Ich weiß nicht was es ist, aber ich scheine ihm wirklich ein Dorn im Auge zu sein...", erwiderte ich und legte meinen Laptop zur Seite. "Oh, das habe ich gar nicht wirklich mitbekommen. Das kann ich mir auch einfach nicht vorstellen, Lou. Sicher, dass es nicht alles nur ein Missverständnis ist?"
"Ja, sehr sicher. Ich wüsste nicht, was man da missverstehen könnte. Wirklich nicht. Ich habe ihn auch schon darauf angesprochen und keine Antwort erhalten."
"Das klingt so gar nicht nach ihm. Ich bin sogar davon ausgegangen, dass ihr euch prima verstehen werdet. Ihr habt sogar ähnliche Interessen, seid im gleichen Alter", zählte sie auf und wirkte immer nachdenklicher. "Ich kann mit ihm sprechen, falls-"
"Nein, schon gut", unterbrach ich sie und lehnte ihren Vorschlag ab. "Rufst du mich, wenn du doch meine Hilfe brauchst? Ich würde mich kurz hinlegen." - "Ja, natürlich. Ruhe dich noch ein wenig aus, ich denke in einer halben Stunde ist alles fertig", sprach sie mit ihrer sanften Stimme und verließ das kleine Zimmer.
Tief atmete ich durch, strich mir über die Augen und obwohl es mir nicht wirklich schlecht ging, legte ich mich hin. Unter der Decke eingekuschelt war es so gemütlich, dass ich tatsächlich Schwierigkeiten hatte meine Augen aufzuhalten und in Binnen weniger Minuten einschlief.
"Hey, aufwachen. Louis? Essen ist fertig.", hörte ich eine Stimme sprechen und zuckte leicht zusammen als ich eine Hand auf meinem Oberarm spürte. "Tommy?", hakte ich verschlafen nach und rieb mir durchs Gesicht. "Jup, ich bin's", hörte ich ihn lachen und setzte mich langsam auf. "Ich komme sofort", murmelte ich schläfrig und blinzelte mehrfach. Mit Kontaktlinsen zu schlafen war wirklich gar keine gute Idee. "Ist gut, bis gleich", verabschiedete er sich und ich hörte wie das Zimmer verließ.
Noch nicht ganz wach schlufte ich in Richtung Badezimmer und öffnete ohne großartig nachzudenken die Türe. Sobald ich Harry am Waschbecken erkannte riss ich meine Augen auf, ging direkt einen Schritt zurück und schloss reflexartig meine Augen. "Entschuldige, das war keine Absicht. Tut mir leid", entschuldigte ich mich und biss mir auf die Innenseite meiner Wange als sich das Bild von einem oberkörperfreien Harry in meine Gedanken brannte. "Verschwinde!"
Direkt schloss ich die Tür und ging in das Badezimmer, welches bei meiner Schwester an ihr Schlafzimmer angrenzte und atmete erst einmal tief durch. Ich weiß das ich vorher hätte klopfen sollen, aber musste er mich so anmotzen? Selbst wenn ich mich entschuldigt hatte? Was war nur los, warum - warum war ich für seine schlechte Stimmung verantwortlich? Ich brauchte einen Moment bis ich meine Gedanken sortiert hatte und nach einem Behältnis für meine Kontaktlinsen suchte.
Tatsächlich fand ich bei ihr noch eine unbenutzte Dose und Kontaktlinsenlösung, weshalb ich mir die Linsen direkt auszog und endlich dazu in der Lage war meine Augen ausgiebig zu reiben. Das Gefühl war so unfassbar befreiend, das ich leise seufzen musste.
Schnell wusch ich noch mein Gesicht, holte anschließend aus meiner Tasche im Gästezimmer meine Brille und ging endlich Richtung Wohnzimmer. Meine Schwester als auch ihr Mann saßen bereits am Tisch. "Geht es dir ein wenig besser?", wollte Lottie wissen und lächelte zufrieden als ich nickte. "Gut, falls du was brauchst, in der Küche in der Schublade unter der Kaffeemaschine sind Schmerztabletten", ließ sie mich wissen. "Danke", erwiderte ich und blickte zu Harry, als dieser in der Tür auftauchte und sich an Tommys Seite niederließ.
Während des Essens war Harry wie ausgewechselt. Er lachte, unterhielt sich mit den anderen und wirkte völlig entspannt. Nur mir begegnete er weiterhin mit kühler Ablehnung. Jede meiner Bemerkungen ließ ihn schweigen, als wäre allein meine Anwesenheit störend. Sobald ich etwas zum Gespräch beitrug schien er wenig begeistert und hatte so einen merkwürdigen Blick, das ich mich auch gar nicht mehr traute ihn wirklich anzusehen.
Nach dem Essen schaffte ich es meine Schwester zu übereden den Nachtisch anzurichten, weshalb ich mich erleichtert in der Küche zurückzog und alles vorbereitete. Schon gestern Abend hatte ich eine Spekulatiuscreme gemacht, brauche nur noch frische aufgeschlagene Sahne und Kekse, um das Ganze in kleinen Gläsern schichten zu können.
Summend schlug ich die Sahne steif, begann kurze Zeit später das Dessert anzurichten und bröselte zum Abschluss noch ein paar Kekskrümel darüber und stecke einen vollständigen Keks oben in die Creme. Gerade wollte ich die Gläser auf einem Tablett ins Wohnzimmer bringen, da stand Harry in der Tür und versperrte mir den Weg.
"Ja?", fragte ich leicht gereizt und freute mich schon auf den Moment, in dem er die Wohnung verlassen würde. "Ich wollte mir nur ne Tasse Kaffee machen", erwiderte und lief zielstrebig zu der Maschine. Ich nickte nur, brachte das Tablett ins Wohnzimmer und kehrte nochmal zurück um die Löffel zu holen. Dabei bemerkte ich, das Harry Schwierigkeiten hatte die Kaffeemaschine zu bedienen.
Kurz überlegte ich, ob ich nicht einfach gehen und ihn in Ruhe lassen sollte. Was hatte ich denn schon davon, wenn ich ihm helfen würde? Im schlimmsten Fall würde ich nur wieder mit Unfreundlichkeit überhäuft werden, im besten Fall lehnte er meine Hilfe ab.
"Die Kaffeebohnen sind leer. Die Tüte steht in dem kleinen Schränkchen an der linken Seite", ließ ich ihn wissen und erhielt wie erwartet nicht einmal ein 'Danke'. Harry schien nur weiterhin nichts mit dem Vollautomaten anfangen zu können, weshalb ich ihm kurzerhand aushalf, die Bohnen nachfüllte und eine Tasse aus dem Schrank holte. Ohne zu fragen, ich wusste von den Gesprächen von vorhin, dass er am liebsten schwarzen Kaffee trank, drückte ich die entsprechenden Tasten und blickte zu Harry hinüber.
Er musterte mich still und griff plötzlich nach meinem Unterarm. Vollkommen perplex verschlug es mir die Sprache und als er auch noch meinen Ärmel hochzog und an dem Regenbogenband zog, wusste ich wirklich nicht, was ich sagen sollte. Aus Angst es würde reißen, versuchte ich seinen Griff darum zu lockern.
"Schwuchtel, huh?"
"Entschuldigung?", fragte ich mit großen Augen und verstand nun gar nichts mehr. "Ich- Ich wüsste wirklich nicht, was dich meine Sexualität angehen sollte", zischte ich leise, gab ihm einen ordentlichen Klaps auf den Handrücken und entriss ihm meinen Arm, da er immer noch an meinem Armband zog. "Außerdem kann ein Regenbogen auch viele andere Bedeutungen haben", ergänzte ich und richtete sowohl das Armband als auch meinen Ärmel.
"Und ganz ehrlich, wenn das ernsthaft dein Problem sein sollte, dann sagt es über dich als Menschen deutlich mehr aus als über mich. Du solltest nach dem Dessert gehen, ich habe keinen Bock mehr an einem Ort - an dem ich mich eigentlich wohl fühle - so behandelt zu werden."
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verließ ich die Küche und begegnete Lottie im Flur. "Tut mir leid, wirklich, aber ich halte das einfach nicht aus. Er soll gehen." Für mich war der Abend einfach nur noch gelaufen. Lottie widersprach mir auch gar nicht, stimmte mir zu und entschuldigte sich mehrere Male bei mir. Tommy schien das Ganze nicht wirklich zu interessieren, aber es konnte mir auch egal sein. Er war eh jemand stumpfes, wenn es um sowas ging.
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Tage später traf ich mich mit Freunden in einer Bar für queere Menschen. Genoss die Musik, tanzte mit jemanden, der mir schon beim Betreten der Bar aufgefallen war und machte mir einfach mal keine Gedanken um irgendwas. Es war so unfassbar angenehm abzuschalten und nicht an die Arbeit oder sonstige Themen zu denken.
Es war schon einige Zeit vergangen als ich mich auf den Weg zu den Toiletten machte. Wenige Minuten später auf dem Weg zur Bar begegnet ich einem Paar grünen Augen, welche mich in meiner Bewegung stoppen ließen. Das durfte nicht wahr sein.
Perplex drehte ich mich um, blickte in sämtliche Richtungen und stockte als ich die Person an der Bar stehen sah.
Harry.
Doch bevor ich mich aufregen konnte bemerkte ich seine zittrigen Hände und die Nervosität, die er ausstrahlte. Er schien sich in dieser Umgebung überhaupt nicht wohlzufühlen... Tief atmete ich durch, ging in großen Schritten zu ihm hinüber und legte meine Hand auf seine Schulter. "Alles okay?", fragte ich sofort und blickte hoch in seine Augen. Er schüttelte leicht mit seinem Kopf, weshalb ich nach seiner Hand griff und ihn mehr zu mir zog. "Willst du an die frische Luft?" Ich erhielt nur ein stummes Nicken, weshalb ich meine Finger mit seinen verschränkte und ihn nach draußen begleitete.
Harry löste sich direkt von mir und ging ein wenig auf Abstand. Er blickte zur Seite und verschränkte seine Arme. "Kann ich dir irgendetwas Gutes tun?", fragte ich vorsichtig und näherte mich ihm etwas, als ich die Gänsehaut an seinen Unterarmen erkennen konnte. Er schien so unfassbar Fehl am Platz, aber irgendwie auch nicht... Das letzte was ich heute Abend erwartet hatte war ein nervöser und ein wenig verängstigter Harry in einer der queersten Clubs der Stadt.
"Ich hätte nicht hierherkommen sollen", hörte ich ihn leise sprechen und verstand ihn bei der Lautstärke hier draußen kaum. Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte seufzte ich leise und holte kurzerhand unsere Jacken. "Ich wohne ein paar Straßen weiter, möchtest du mit?" Tatsächlich erhielt ich von ihm ein Nicken, weshalb wir uns auf den Weg zu mir machten.
Es fühlte sich alles so surreal an, dass ich einfach nur den Kopf schütteln konnte.
Bei mir in der Wohnung setzte ich erst einmal Teewasser auf. Harry schien immer noch unfassbar nervös, weshalb ich mir langsam Sorgen machte. "Wir müssen auch nicht reden, wenn du nicht möchtest. Ich will nur, dass du dich nicht mehr so fühlst wie in der Bar" - "Warum bist du so nett zu mir? Ich habe es nicht mal verdient."
"Mag sein, aber was hätte ich tun sollen? Wie du mir, so ich dir? Ich bin kein Mensch, der andere einfach stehen lässt, wenn sie offensichtlich mit einer Situation überfordert sind", erklärte ich und bat ihn sich zu setzen. Er kam tatsächlich meiner Bitte nach, machte es sich auf der Bank bequem und nahm eines der Kissen und umarmte es.
Sobald der Tee fertig war, goss ich ihm eine Tasse auf und stellte sie ihm vor die Nase. Harry nickte stumm, nahm die Tasse zu sich rüber und wärmte seine Hände. "Danke." Überrascht blickte ich zu ihm, nahm gegenüber von ihm Platz und checkte seit einigen Stunden meine Nachrichten. Da ich jedoch nichts nennenswertes erhalten hatte, legte ich es schon nach wenigen Minuten zur Seite und blickte zu Harry.
"Kann ich noch irgendwas tun? Hast du Hunger?", fragte ich vorsichtig und legte meine verschränkten Hände auf die Tischplatte. "Wir können auch was bestellen, oder ich koche schnell was", schlug ich vor und beobachtete seine Reaktionen. Harry zuckte jedoch nur mit den Schultern. "Du musst schon mit mir reden, du kannst auch gehen, wenn du lieber für dich sein möchtest."
Zu meiner Überraschung schüttelte er seinen Kopf und räusperte sich. "Ich möchte gerade nicht alleine sein, aber..." - "Ich bin nicht deine erste Wahl für Gesellschaft", unterbrach ich ihn und nickte verständnisvoll. "Kann ich verstehen, aber wenn du niemanden hast, den du gerade anrufen kannst, dann macht es mir auch nichts aus, wenn ich dafür herhalte. Wir können uns auch einen Film anschmeißen...?"
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Schlussendlich hatten wir uns dazu entschieden Pizza zu bestellen und uns irgendeinen Film, der uns von Netflix vorgeschlagen wurde, anzusehen. Wir beide saßen auf dem Sofa, einen guten Meter voneinander getrennt.
Harry war mir ein absolutes Rätsel. Ich wurde aus ihm überhaupt nicht schlau, hatte ein paar Theorien, doch ansprechen würde ich sie gewiss nicht. Meine Vermutung war, dass er nicht zu seiner Sexualität stand und er mit sich selbst absolut nicht umgehen konnte.
Mittlerweile tat er mir eher leid, als das ich irgendwelche anderen Gefühle wie Abneigung für ihn hegte. Ich verstand, das es schwierig war sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und zu akzeptieren, was man war. Vor allem, wenn das eigene Umfeld nicht so reagierte, wie man es gerne hätte. Verständnis und Akzeptanz war leider nichts, was jeder Mensch in sich trug. Auch nicht die eigene Familie.
"Wann hast du-" Harry brach seinen Satz ab und entschuldigte sich sofort. Ich wollte jedoch auf ihn eingehen, stellte den leeren Pizzakarton auf den Couchtisch und wandte mich ihm zu. "Wann habe ich was?", hakte ich nach und blickte zu ihm.
"Wann hast du akzeptiert, dass du..." - "Das ich nicht hetero bin?", vervollständigte ich seinen Satz und erhielt ein unsicheres Nicken. "Weiß nicht, ich habe mit meiner Mum schon immer über viele Dinge gesprochen und sie hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen für das zu akzeptieren was sie sind", erklärte ich und zuckte mit den Schultern. "Ich hatte nie das Gefühl, dass ich anders war oder etwas mit mir nicht stimmte."
Harry nickte und ließ seine Schultern hängen. Er wirkte plötzlich so niedergeschlagen und es brach mir ein wenig das Herz. "Es ist schwer für sich selbst einzustehen, besonders wenn man das Gefühl hat man kämpft alleine für etwas, was niemand zu akzeptieren scheint. Ich kann auch verstehen, das man anderen dann vor den Kopf stößt", erzählte ich und legte meine Hand nach kurzem Überlegen auf seinen Unterarm. "Du musst lernen für dich selbst sprechen zu können, Harry. Wenn du dich selbst nicht achtest, was für einen Sinn hat es, es von anderen Personen zu erwarten?"
Ohne das ich es verhindern konnte begann Harry in sich zusammenzusacken. Stumm liefen ihm die Tränen über die Wangen, weshalb ich meine Hand nicht von seinem Unterarm nahm sondern leicht zudrückte und zeigen wollte, dass er nicht alleine war. "Lass es raus, es ist okay", sprach ich mit ruhiger Stimme und löste mich von ihm, doch Harry ließ es nicht zu. Er griff direkt nach meiner Hand und hielt sie fest.
Sein Weinen tat mir immer mehr weh, weshalb ich mich von meinem Platz erhob und mich näher zu ihm setzte. Fest nahm ich ihn in meine Arme und strich über seinen Rücken. Ich spürte wie die Tränen meine Halsbeuge hinunterliefen, doch das war mir egal. Sanft hielt ich ihn bei mir, fuhr mit einer Hand über seinen Rücken und glitt mit der anderen über seinen Nacken und strich ihm durch die Haare. Fest presste ich ihn an mich und hoffte, das es ihm ein wenig mehr Halt gab und er sich nicht so allein fühlte.
Ich atmete erleichtert auf als er die Umarmung erwiderte und sich langsam beruhigte. Es dauerte noch einen Moment, bis seine Tränen und sein lautes Schluchzen stoppten, doch als er sich langsam von mir löste schien sein Blick nicht mehr so verzweifelt. "Geht es wieder?", fragte ich vorsichtig und strich ihm die letzten Tränen von seiner Wange. Er nickte, schniefte leise und fuhr sich durch die Haare.
"Es wird alles gut werden, Harry. Vielleicht findest du ja auch jemanden, mit dem du dich selbst akzeptieren lernst?"
🩶
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