~5~
Rotes Licht, Grünes Licht
Jisung stand mitten in der Menge, während sich die Spieler langsam in eine breite Linie formierten.
Das Spielfeld vor ihnen war fast unwirklich – ein weiter, sandiger Platz, eingerahmt von künstlichen, leuchtend grünen Bäumen und einem klaren, blauen Himmel. Es war so friedlich, dass es fast absurd wirkte. Wäre da nicht die riesige, puppenhafte Figur gewesen, die am anderen Ende des Feldes thronte.
Die Puppe war überlebensgroß, ihre Gesichtszüge grob und kindlich. Ihre Haare waren zu zwei Zöpfen gebunden und sie trug ein gelbes Kleid, das in seltsamem Kontrast zu ihrer unheimlichen Präsenz stand. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Kopf war nach unten geneigt, als schliefe sie.
Jisung schluckte schwer.
Die Stimmung in der Gruppe war angespannt, doch er hörte, wie einige leise miteinander flüsterten.
„Was ist das hier für ein Quatsch?“ murmelte eine ältere Frau neben ihm. Sie hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt und schien vor Wut zu kochen.
„Es ist bestimmt nur ein Test“, sagte ein junger Mann mit Haar. „Vielleicht wollen die sehen, wie wir reagieren.“
Jisung hörte einen anderen Mann hinter sich lachen.
„Test? Mann, wir wurden alle entführt! Ich wette, das ist irgendeine Show oder so.“
„Hey, du da!“ Die Stimme eines anderen Jungen schnitt durch das Gemurmel. Jisung drehte sich überrascht um und sah einen schlanken, jungen Mann, der ihn ansah.
„Bist du nicht Han Jisung? Von 3Racha?“
Jisung öffnete den Mund, um zu antworten, doch der Junge fuhr bereits fort.
„Wow, das ist verrückt. Ein Idol hier. Ich wusste nicht, dass selbst Stars Schulden haben.“
„Ich habe keine Schulden“, antwortete Jisung trocken.
„Klar“, murmelte der Junge mit einem skeptischen Lächeln. „Ich bin übrigens Seungmin.“
Bevor Jisung weiter darauf eingehen konnte, erklang plötzlich die mechanische Stimme von den Lautsprechern über ihnen: „Das erste Spiel ist Rotes Licht, Grünes Licht. Bewegt euch, wenn die Puppe ‚Grünes Licht‘ sagt, und bleibt stehen, wenn sie ‚Rotes Licht‘ sagt. Jeder, der sich während des ‚Roten Lichts‘ bewegt, wird eliminiert.“
Ein Raunen ging durch die Menge. „Was meinen die mit ‚eliminiert‘?“ flüsterte Seungmin leise, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.
„Ich wette, das ist nur eine Drohung“, sagte der junge Mann mit dem kurzgeschorenen Haar.
„Einfach stillstehen, wenn sie ‚Rotes Licht‘ sagt. Das kriegen wir hin.“
„Das Spiel beginnt in 3… 2… 1…“
Die Puppe drehte ihren Kopf zur Seite, ihre Augen öffneten sich mechanisch.
„Grünes Licht.“
Einige Leute zögerten, bevor sie langsam ihre ersten Schritte machten. Jisung blieb einen Moment stehen, beobachtete die anderen und setzte dann vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Um ihn herum bewegten sich die Menschen unsicher, manche schneller, andere vorsichtiger.
„Rotes Licht.“
Die Puppe drehte ihren Kopf ruckartig nach hinten. Die Menge erstarrte, die meisten mit angespannten Gesichtern. Nichts passierte. Kein Geräusch, keine Bewegung. Ein leises Kichern brach die Stille.
„Hab ich’s doch gesagt“, rief der junge Mann mit dem kurzgeschorenen Haar.
„Das ist nur ein blödes Spiel!“
Die Puppe sprach erneut: „Grünes Licht.“
Die Menge begann sich wieder zu bewegen, einige etwas mutiger. Jisung spürte, wie sich die Spannung in seinen Schultern löste. Vielleicht hatte der Typ recht. Vielleicht war es wirklich nur ein Spiel, so bizarr es auch schien.
Doch dann passierte es.
„Rotes Licht.“
Jisung blieb wie angewurzelt stehen. Ein junger Mann weiter vorne stolperte, weil er von jemandem hinter ihm geschubst wurde und trat reflexartig einen Schritt zur Seite. Er hob die Hände, als wolle er sich entschuldigen, doch bevor er etwas sagen konnte, erklang ein ohrenbetäubender Knall.
Der Mann fiel zu Boden. Blut spritzte aus einer klaffenden Wunde in seiner Brust, und ein erschrockener Schrei riss durch die Menge.
„Oh mein Gott!“ rief eine Frau.
„Was war das?!“ schrie jemand anderes.
Die Stille, die auf den Schuss folgte, war noch schrecklicher als der Lärm. Niemand bewegte sich, niemand sprach. Die Augen aller waren auf den reglosen Körper gerichtet, der im Sand lag.
„Grünes Licht.“
Einige Leute setzten sich wieder in Bewegung, doch viele blieben einfach stehen, unfähig, das Gesehene zu begreifen.
Jisung spürte, wie sein Herz raste. Er wollte schreien, wollte wegrennen, doch er wusste, dass jede falsche Bewegung sein Ende bedeuten könnte.
„Rotes Licht.“
Ein Mann hinten in der Gruppe begann zu wimmern. „Das kann nicht echt sein. Das kann nicht echt sein!“ Er drehte sich um, wollte zurücklaufen, doch die Puppe hatte ihn bereits erfasst. Ein weiterer Schuss hallte durch die Luft, und der Mann fiel zu Boden.
Das war der Moment, in dem die Panik ausbrach. Menschen fingen an zu rennen, ihre Schreie hallten durch den Raum. Jisung konnte nur zusehen, wie einer nach dem anderen von den Gewehren der Wächter niedergestreckt wurde.
„Hör auf zu rennen!“ schrie Seungmin neben ihm.
„Bleib stehen, sonst bist du dran!“
Doch die Warnung kam zu spät. Die Puppe sprach erneut: „Grünes Licht.“
Jisung zwang sich, die Panik zu ignorieren und setzte sich langsam wieder in Bewegung.
Er fühlte sich wie ein Automat, ein Sklave seiner Angst. Jeder Schritt war eine Qual, jeder Atemzug ein Kampf.
Als er endlich die Ziellinie erreichte, brachen ihm Tränen aus den Augen. Hinter ihm war das Spielfeld ein Schlachtfeld, übersät mit den Leichen derer, die nicht schnell genug begriffen hatten, wie ernst das Spiel war.
Er hörte, wie Seungmin ebenfalls keuchend die Linie überquerte.
Der junge Mann ließ sich auf die Knie fallen und sah Jisung mit glasigen Augen an. „Das ist echt“, flüsterte er. „Das ist wirklich echt.“
Jisung konnte nur nicken.
—-—-—-—-—-—-—-—-—-—-—-—-—-—
Hinter einer dunklen Glasscheibe beobachtete Minho das Chaos auf dem Spielfeld.
Seine Arme waren verschränkt, sein Gesicht hinter der Dreiecksmaske verborgen. Er stand starr da, doch innerlich brodelte es in ihm.
Er hatte die Schreie gehört, das panische Rennen der Spieler gesehen, das Knallen der Gewehre – es war alles Teil des Spiels. Teil der Regeln, die er selbst bewachen musste. Doch dieses Mal fühlte sich alles anders an.
Sein Blick suchte unwillkürlich eine Person. Es war ein Zufall gewesen, dass er ihn erkannt hatte. Die Bewegung, das Gesicht, diese Augen. Es war Jahre her, seit er Jisung das letzte Mal gesehen hatte, doch es gab keine Zweifel.
Han Jisung.
Minho sah zu, wie er zitternd die Ziellinie erreichte, sein Gesicht gezeichnet von Angst und Verzweiflung. Er blieb dort stehen, atemlos, während hinter ihm die Puppe verkündete, dass das Spiel vorbei war.
Minhos Hände ballten sich zu Fäusten. Er wusste, dass er nichts tun konnte. Er war ein Teil dieses Systems, ein Wächter, ein Dreieck. Jede Regung, jeder Fehler könnte ihn selbst in Gefahr bringen. Doch das Wissen, dass Jisung hier war, mitten in diesem Albtraum, bohrte sich wie ein Dolch in seine Brust.
„Behalte die Spieler im Auge“, befahl ein Viereck in seiner Nähe.
Minho nickte stumm.
Er richtete sich auf, seine Maske verbarg seine Emotionen, aber in seinem Inneren tobte ein Sturm.
Er durfte keine Schwäche zeigen. Nicht jetzt. Nicht hier. Doch eines war sicher: Er würde Jisung nicht aus den Augen lassen.
Egal, was es kostete.
💚
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro