Offenbarung
Nervös spielte sie mit dem losen Faden an ihrem T-Shirt. Sie biss langsam ihre Lippe blutig und starrte auf den orangenen Boden der Praxis.
"Mei?", riss Doktor Christen sie aus ihrer Starre zurück in die Realität. "Ich habe dich gefragt, wie es dir geht", wiederholte er seine Frage und sah sie erwartungsvoll an. In den Jahren hatten sich graue Härchen in seine dichte Haarpracht gemischt, die Lachfalten um seine Mundwinkel hatten sich noch mehr abgezeichnet und seine Hand zitterte etwas.
"Es geht mir gut", antwortete sie. "Also zumindest besser als letzten Mittwoch", verbesserte sie sich. "Verstehe." Er nickte und kratzte sich mit der Rückseite des Kugelschreibers an seinem Kinn. "Wie war die Woche?", erkundigte er sich weiter.
"Ich war mit Lou im Cafe", erzählte sie und verspürte einen schmerzlichen Stich in ihrem Herzen, "Sie ist derzeit bei ihren Eltern." Eigentlich hatte sie die Frau seit langer Zeit nicht mehr gesehen, so fühlten sich die letzten neun Tage wie eine Ewigkeit an. "Ansonsten war alles normal", presste sie den Satz aus sich und unterdrückte ihre aufsteigenden Tränen.
"Das klingt doch eigentlich sehr nett und recht normal", murmelte ihr Therapeut und schrieb etwas in seinen kleinen Notizblock. "Gibt es etwas genaues, auf das wir uns diese Woche konzentrieren sollen?" Erwartend schaute er sie an und Mei zögerte. "Nein", sie stockte, "Ich denke, ich hab gerade einfach einiges um die Ohren, aber damit komme ich klar."
"Ich weiß das es mich im Grunde nichts angeht, denn für diesen Bereich bin ich nicht zuständig, aber nimmst du noch deine Tabletten?" Doktor Christen hob seine Augenbrauen, mit nur einer konnte er es nicht. Die Asiatin verharrte für einen Moment in der Position, ehe sie ihre Fingernägel und die Haut der anderen Haut bohrte. Dann nickte sie, obwohl sie ihren Kopf hätte schütteln sollen und sie wollte es ja auch.
Angespannt spielte sie mit ihren Fingern. "Du musst mir etwas erzählen, wir haben noch eine Dreiviertel Stunde", erklärte der Mann ihr und sah dabei zur Uhr. Sie seufzte und sammelte ihre Kraft, dann erzählte sie. Sie ließ die Verlobung weg, also die gescheiterte Verlobung und auch das abendliche Gespräch ließ sie weg.
Ihr Herz schlug schneller und ein schwerer Stein löste sich von diesem, wodurch sie sich hundertmal leichter fühlte. Ihre Panikattacken, Hassgefühle und Stimmungsschwankungen musste sie nicht erklären, immerhin kannte er diese schon und dabei war er einer der wenigen.
Als Mei endlich stoppte sah sie auf ihre zitternden Hände und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Der sowieso schon kleine Raum um sie, wurde noch kleiner und kleiner. Ein beklemmendes Gefühl legte sich um ihr Herz. Kurz sah sie zu dem einzigen anderen Menschen in diesem Raum, hastig kritzelte er etwas in sein Buch.
"Ich bin wie auch sonst immer ganz ehrlich mit dir", begann er und sie sah zu ihm auf, wie oft hatte sie diese Worte von ihm schon gehört,"Ich glaube, du sagst mir nicht die ganze Wahrheit. Selbstverständlich ist es in Ordnung, wenn du nicht darüber reden möchte und trotzdem würde es dir und der Therapie unglaublich viel helfen." Sie schüttelte stumm ihren Kopf. Stille herrschte in dem Raum, nur das Ticken der Uhr hielt sie in der Gegenwart.
"Die Zeit ist um", flüsterte sie und erhob sich. Auch er stand auf und reichte ihr eine seiner Hände. Brav schüttelte die Frau diese und starrte dabei auf ihre Hände. Sie fühlte sich schuldig. Schuldig, weil sie nicht die Wahrheit erzählte - Doch es war einfacher, als sich den schmerzhaften Erinnerungen zu stellen, welche sie so lange verdrängt hatte.
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