Blattfall
Noch im Laufen zog Lou den Sneaker über ihre Ferse und rannte dann die Treppe hinunter. Ihre Hand lag auf dem kühlen Geländer, während sie eine Stufe nach der anderen nahm. "Bis später", rief Mei ihr von oben zu, ehe sie wieder in die Wohnung ging und die Tür hinter sich, mit einem lauten Krachen schloss.
Hastig kramte die Blondine nach dem Autoschlüssel in ihrer Handtasche, doch die Suche blieb erfolglos. Stattdessen fand sie einen bestimmt drei Tage alten Snack. Angwidert verzog sie ihr Gesicht und warf den gesamten Plastikbeutel, in welchem sie besagter Inhalt befand, in einen Papierkorb. In genau sechs Minuten und siebenundreißig Sekunden sollte sie an ihrem Schreibtisch sitzen und dem langweiligen Geschwafel der anderen lauschen. Selbst mit Auto wäre ihr Ziel unschafbar.
Seufzend ließ Lou sich auf die Bank im Wartehäuschen fallen und widmete sich ihrem Handy.
》Komme später《, tippte sie in die Tastatur ein und schickte die Nachricht an ihre Freundin und Kollegin ab. Beinahe zeitgleich ploppte die Online-Anzeige bei Gaby auf, die Antwort folgte innerhalb weniger Sekunden.
》Ich auch《, erschien auf dem Display, ein grinsender Smiley folgte. Auch sie selbst musste grinsen. Klar war Gaby spät, wie sonst auch. . Der Bus fuhr ein und hielt neben Lou an. Mit etwas Kleingeld in der Hand stieg sie ein und erwiderte das Lächeln des Busfahrers. "Stadtzentrum", erklärte sie dem alten Mann und bezahlte schnell.
Noch etwas über vier Minuten. Langsam lief sie den Gang entlang und suchte einen freien Platz, während das Fahrzeug sich langsam in Bewegung setzte.
Als sie endlich einen der wenigen freien Plätze ergatterte. Erleichtert ließ sie sich auf diesen fallen und schaute aus dem Fenster.
Der vor wenigen Wochen noch sommerliche Look der Stadt, hatte sich in den letzten Tagen in ein rot, gelb und braunes Gemisch verwandelt. Leuchtend schienen die Laubkronen der Bäume und schwenkten den Ort in einen gemütlichen Herbstanfang hinein.
Lou lehnte ihre Stirn gegen das kalte Glas und versuchte ihre Kopfschmerzen zu demmen. Immer mehr breiteten sich diese in ihrem gesamten Kopf aus und selbst ihre Sicht verschwamm. "Darf ich mich setzen?", störte jemand ihre heilige Ruhe. "Nein!", hätte sie am liebsten geschrien, hielt sich aber gerade noch zurück.
Es war ein kleines Kind, ein Mädchen mit goldenen Locken und engelsblauen Augen. Schüchtern lächelte sie Lou an und deutete dabei mit ihrem Blick auf den leeren Platz neben ihr. "Ja klar", sagte Lou und zog ihre Handtasche weg, um mehr Platz zu schaffen. Das kleine Mädchen ließ sich neben sie fallen und baumelte mit ihren kurzen Beinen.
"Magst du den Herbst auch genauso wie ich?", begann das Mädchen ein Gespräch. "Was? Ja klar", erwiderte Lou leise. Nun richtete sie sich endlich aufrecht auf und musterte das Kind neben sich.
"Ich muss jetzt noch zur Schule, aber in einer Woche sind Ferien. Dann fliegen wir ans Meer, Mama sagt, dass es dort noch warm sein wird" erzählte der Engel und schaute dabei tief in Lous Augen. Es war, wie als würde sie in ihre Seele blicken und alle Sünden und Wohltaten sehen. "Auch sagt Mama, ich soll mit keinen Fremden reden, aber dir sieht man sofort an, wie nett du bist", während sie das sagte, offenbarte das Mädchen ein perlenweißes Lächeln. Die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen machte sie nur schöner.
"Danke", hauchte Lou. Solche Momente waren die besten, sie kamen unerwartet und wärmten dennoch das ganze Herz. Es wäre kein Wunder, wenn Lou an Ort und Stelle los weinen würde.
"Schau mal, ich habe einen Wackelzahn!", verkündete das Kind ganz stolz. Sperrangelweit riss es den Mund auf und drückte die rosane Zunge gegen einen Zahn, welcher sich an seiner Stelle hin und her bewegte. "Toll", lachte die Frau, "Hatte ich auch mal, ganz viele sogar."
Plötzlich kam der Bus zum Stehen. "Busstation 9, Einkaufszentrum", verkündete die monotone Stimme mit ihrem standardmäßigen Rauschhintergrund. Noch zwei Stationen, dann musste auch sie aussteigen.
"Mama hat gesagt, dass wenn mich Kinder in der Schule ärgern, soll ich nicht traurig sein. Sie sind alle nur neidisch." Interessiert hob Lou eine Augenbraue. "Sie ärgern dich? Warum?", erkundigte sie sich. "Weil ich Mama und Mom habe." Das Mädchen senkte ihren Blick, als wäre es ihr peinlich, auch ihre kleinen Wangen verfärben sich rot.
"Zwei Mamas? Aber Mausi, dass ist doch cool. Stell dir vor was ihr alles machen könnt. Ihr geht alle zusammen shoppen, schaut einfach eine romantische Komödie, wenn eine von euch traurig ist und isst nebenbei eine Tonne Vanilleeis." Das kleine Kind tat ihr Leid, wie konnte sie ihm erklären, das Liebe nie etwas schlimmes war?
"Ich weiß und es stört mich nicht mehr, wie doll die anderen mich ärgern. Ich liebe sie beide." Diese Antwort überraschte Lou. Sie hatte Vorwürfe, Hass oder Trauer erwartet, aber das hier war tausend Mal besser. "Darf ich dir ein Geheimnis sagen?", flüsterte die Blondine und das kleine Kind nickte aufgeregt.
"Wenn ich Mama bin, hat mein Kind auch zwei Mamas", flüsterte sie das Geheimnis in das kleine Ohr. Sie sah wie die blauen Augen aufleuchteten und nun wie kleine Sterne funkelten.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro