03| Drachenblut
Jasper
Der Boden raste unter meinen Füßen davon. Immer schneller, immer schneller. Mein Trost war einzig und allein die Hoffnung, dass ich schnell genug die Grenze zum Whispering Forest erreichen würde. Der einzige Ort in diesem bescheuerten Wald, an dem Leute wie ich in Sicherheit waren. Zumindest in Sicherheit vor fast allem.
Ich konnte nur hoffen, dass mich der Wald auch vor ihr beschützen würde.
Schon eine ganze Weile rannte ich so durch das Dickicht des Kristallwaldes. Langsam wurde ich müde. Ich hatte nicht bemerkt, dass nach und nach die Laute der Tiere verstummt waren. Im Moment war es ruhig. Nichts zu hören. Abgesehen von meinen Stiefeln auf dem Waldboden und meinem unregelmäßigen Atem. Die Luft roch frischer und feuchter. Ein Zeichen dafür, dass der Silver River gleich in der Nähe sein musste. Zwar war er ein ziemlich gefährlicher Fluss, dafür versprach er aber auch, auf der anderen Seite sicher zu sein. Sicher vor allem und jedem. Etwas, das ich im Moment dringender brauchte als je zuvor.
Schließlich konnte man von mir auch nicht erwarten, ewig davonzulaufen. Vor den Hexen, vor den Kopfgeldjägern und nun auch vor ihr.
Das Rauschen des Flusses klang durch die Stille. Ich war ihm schon ganz nahe. Viel fehlte nicht mehr.
Plötzlich wurde es hinter mir lauter. Man konnte das Gebrüll eines Drachen hören. So leise, dass es wie aus weiter Ferne klang. Doch ich war nicht so naiv, um zu vergessen, was es wirklich war: Der einzige Drache, der dieses Gebrüll zustande brachte, besaß feine Schuppen, die jedoch so dicht wie eine undurchdringliche Mauer waren. Dicht genug, um die Narben nicht zu erkennen, die davon zeugten, dass seine Stimmbänder vor langer Zeit grausam verstümmelt worden waren. Seine Feinde wiegten sich aufgrund der scheinbaren Entfernung, aus der sein Gebrüll ertönte, meist in Sicherheit, doch nie lange.
Ich würde nicht der Nächste sein, beschloss ich, und legte einen Zahn zu. Wo ihr Drache war, war sie nicht weit. Wenn ich Glück hatte, konnte ich die Entfernung bis zur Grenze noch überwinden. Wenn ich ganz viel Glück hatte.
Die Geräusche wurden lauter. In lautes Flügelschlagen und Fauchen mischte sich diabolisches Lachen. Gemeinsam mit dem Drachengebrüll klang es schauerlich. Ich beschleunigte gleich nochmals. Und dann passierte es: In einem unbedachten Moment stolperte ich über eine dicke, knorrige Baumwurzel, die provokant vor mir aus dem Boden ragte. Fluchend fiel ich ins Gras und rollte etwas weiter. Ohne es zu bemerken, hatte ich einen grasigen, unscheinbaren Berghang erreicht. Allerdings war er dennoch steil. Ich hatte Glück gehabt, denn womöglich wäre ich schon unten im strömenden Fluss gelandet, welcher den Berghang und eine steile, nebelumwobene Klippe voneinander trennte.
Aus unerklärlichen Gründen hatte ich vergessen, dass der Whispering Forest nicht ohne Grund ein sicherer Ort war.
Die Geräusche hinter mir holten mich wieder in die Gegenwart zurück. Rasch rappelte ich mich wieder auf, auch wenn ich mir nicht sicher war, wie ich es auf die andere Seite schaffen wollte. Es war mir schon öfter gelungen, aber ich konnte nie mit Sicherheit sagen, ob ich es auch dieses Mal hinbekommen würde.
Ich sprach mir kurz selbst Mut zu, blendete die Geräusche aus und konzentrierte mich ganz auf mein Vorhaben.
Mit einer einfachen Drehung meines linken Handgelenks beschwor ich eine nachtschwarze glänzende Stufe herauf, die fest verankert in der Erde des Abhanges direkt unter mir entstand. Als hätte ich alle Zeit der Welt trat ich vorsichtig darauf, um ihre Trittfestigkeit zu testen. Sie gab nicht nach, das war schon einmal gut. Vorsichtig beugte ich mich hinab und strich sanft mit meiner Hand über die Stufe, dann richtete ich mich wieder auf, und mit jeder Drehung meines Handgelenks wuchsen blanke, schwarze Stufen aus der Erde.
Bald schon bildeten sie eine direkte Treppe hinunter zum Wasser des Silver Rivers, dem einzigen Fluss, der mich im Moment retten konnte. Die Geräusche hinter mir waren mit jeder Sekunde, in der ich meine Treppe hinunterstieg, leiser geworden. Beängstigend leise. Dann, als ich schon fast unten am Wasser war, hörte ich auf einmal Zweige ober mir knacksen.
"Weit kann er noch nicht gekommen sein, Toxic", wisperte eine raue Stimme. Eindeutig weiblich. Sie war gekommen. Das leise Geräusch eines schnurrenden Drachens.
Ich bemühte mich, nicht die Fassung zu verlieren, und einfach Stufe für Stufe nach unten zu gehen. Bald war ich da, sagte ich mir immer und immer wieder. Bald ist es aus. Schritte gingen jetzt auf und ab. "Er wird es bitter bereuen, Parkers Essen vergiftet zu haben, das schwöre ich dir bei der Chaoskönigin Lumiel", ließ sie sich wieder vernehmen. "Schließlich sind alle meine Drachen wertvoll. Vor allem meine Babydrachen. Mit dieser Vergiftung wird seine Schuppenfarbe nie wieder so strahlen wie zuvor."
Es folgte eine kurze Stille, in der ich endlich das Wasser erreichte. Ratlos sah ich über den reißenden Strom zur anderen Uferseite. Eine schmale, in den Stein gehauene Treppe führe an der Felswand empor. Darüber musste ich mir also keine Sorgen machen. Viel wichtiger war die Tatsache, wie ich hinüberkommen sollte. Normalerweise legte ich auch diesen Weg mit meinen Stufen zurück, allerdings wusste ich, dass das zu lange dauern würde, falls sie mich entdeckte. Und das wollte ich entweder vermeiden, oder so lange wie möglich hinauszögern.
"Es sei denn ich gebe diesem Betrüger Kasimir Geld für eine Glanzlotion", überlegte sie laut, "das wäre auch eine Möglichkeit." Ihr Drache, Toxic, hustete laut. Sofort war es wieder still. Dann ihr Flüstern in der Stille, ganz zart und leise. "Wen hast du gefunden?" Jeder Nerv in meinem Körper war angespannt. Ich wusste, dass sie von mir redete. Der Drache war offensichtlich zwar leiser als andere, aber nicht so dumm. Die beste Möglichkeit war es vermutlich einfach, wenn ich die Überquerung des Silver Rivers schnell hinter mich bringen würde und die ganze Tortur hoffentlich überleben würde. Etwas, worauf ich mich schon freuen konnte.
Ich machte mich gedanklich bereit und dann trat ich von meiner letzten schwarzen Stufe auf das Wasser des Flusses. Statt einfach zu versinken, nass zu werden oder von der reißenden Strömung gepackt zu werden, blieb ich einfach an Ort und Stelle. Es hatte funktioniert. Wieder einmal.
Am Abhang über mir ertönte das wütende Geheul eines Drachen. Aber niemand machte Anstalten, mir zu folgen. Bevor mich mein Glück noch verlassen würde, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, und rannte über das Wasser. Fast wie normale Erde ließ es das alles mit sich geschehen. Nur, dass normale Erde nicht so flexibel war. Aber das störte mich nicht. Bei jedem einzelnen Schritt dachte ich, ich würde gleich versinken, doch es passierte nie. Völlig unbeschadet, aber erschöpft, erreichte ich das andere Ufer.
Ich warf einen prüfenden Blick zurück, da ich wusste, dass ich jetzt in Sicherheit war. Der Whispering Forest schützte alles und jeden. Eigentlich hatte ich gedacht, dass sie zumindest Anstalten machen würde, mich zu verfolgen. Aber nichts davon war passiert.
Sie stand immer noch dort oben und musterte mich mit einem scharfen Blick. Wie immer, wenn ich sie sah, trug sie schwarz. Sie hatte ihre Kapuze abgesetzt, sodass man einen Blick auf ihre kurzen, schwarzen Haare mit den roten Highlights erhaschen konnte. Irgendwo hatte sie wahrscheinlich auch ihre Wurfsterne versteckt. Ihr Blick war zwar immer noch scharf, aber eher gleichgültig. Ganz so, als hätte sie schon die nächste Idee, um mich zu erwischen.
Toxic war ein schlanker, eher kleinerer Drache mit grünen und schwarzen Schuppen, die ihre Haut wie einen Panzer bedeckten und Muster bildeten. Im Gegensatz zu ihrer Herrin schenkte sie mir nicht einmal einen Blick, sondern blickte hinauf zum Himmel. Wie sie wollte.
Gemächlich drehte ich mich um und erklomm ohne große Hektik die Treppe, welche nach oben führte. Die Stufen waren schmal und glatt, aber doch mit großer Perfektion in den Stein gehauen worden. Die Klippe war steil, aber nicht wirklich hoch, sodass ich schnell oben war.
Vor mir erstreckten sich majestätische Bäume in den nebeligen Himmel und der ganze Wald schien fast von innen heraus zu leuchten. Ich wollte mich gerade zu meiner Lichtung begeben, als das typische Surren eines Besens durch die Luft schwebte. Erstaunt drehte ich mich um und konnte gerade noch erkennen, dass direkt vor Toxic jemand gelandet war, eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar und einem waldgrünen Kleid. Ein Fingerschnippen von ihr reichte und der Besen war verschwunden.
"Lange nicht gesehen, Black", begrüßte seine Besitzerin die andere.
"Ich kann mich nicht beschweren, Apfelstrudis. Das Geschäft, lief wieder einmal fantastisch. Allein in diesem Monat komme ich auf drei neue Drachen", erwiderte sie die Begrüßung. Apfelstrudis stemmte die Hände vorwurfsvoll in die Hüften und schüttelte ihre braunen Haare. "Ich hätte gedacht, wir würden uns nie wieder treffen. Wegen des Konkurrenzdenkens und so. Amelie, ich wollte dich nicht sehen", fauchte sie mit spitzer Stimme. "Also, wieso hast du mich überhaupt gerufen?" Mit ihrem Zeigefinger zeigte sie auf Amelie Black. Die zuckte nur mit den Schultern. "Aus sicherer Quelle weiß ich, dass du sehr nachtragend bist. Was natürlich dein Recht ist als ranghöchste Hexe hier."
Apfelstrudis nickte nur und in diesem Moment wurde mir klar, dass sie mir sehr bekannt vorkam. Das war schlecht. "Okay, ich hätte noch ein paar Stadtwachen übrig, die mir noch etwas schulden...", meinte sie nur gedehnt. Amelie schwieg für einen kurzen Moment und musterte schweigend ihr Gegenüber. Dann lächelte sie leicht und mir war es, als würde sie mir einen Blick zuwerfen.
"Nun ja, ich weiß, dass du da noch eine Rechnung offen hast..."
***
Seit ich zum zweiten Mal an diesem Tag einen Fluss überquert hatte, hatte ich immer wieder an die Ereignisse vor wenigen Stunden zurückgedacht. In der Hoffnung, irgendetwas misszuverstehen.
Aber im Moment war mir nicht nur Amelie Black auf den Fersen, die ich leider nur zu gut kannte, sondern auch Apfelstrudis, die ich sogar noch besser kannte. Und wenn es stimmte, was das Mädchen behauptet hatte, dann war jetzt auch noch die System-Gang auf Rache aus. Ich hatte eindeutig zu viele Feinde.
Was wirklich super war. Im ironischen Sinne.
Mein Blick schweifte wieder zu dem Mädchen hinüber. Über ihre langen, schwarzen Haare, die schlanke Gestalt, daneben im Gras, das Schwert, mit dem sie mich noch vor wenigen Stunden bedroht hatte. Rückblickend war es nicht besonders schlau gewesen, zum Kristallwald zurückzukehren, um weit weg zu kommen. Genauso wenig wie ich das Mädchen einfach hätte ignorieren können und mich um meine eigenen Angelegenheiten hätte kümmern können. Stattdessen war ich bei dem Mädchen geblieben, das vor Erschöpfung eingeschlafen war.
Auf einmal streckte sie sich und richtete sich langsam auf. Misstrauisch scannte sie ihre Umgebung: Langsam schienen ihr die vergangenen Ereignisse zu dämmern. Ihr misstrauischer Blick richtete sich jetzt gegen mich. Ich brauchte einen Moment, um mich an ihren Namen zu erinnern. Serafina.
"Wieso bist du geblieben?", fragte sie mit kühler Stimme. "Ich konnte dich doch nicht alleine lassen", antwortete ich lapidar. Und das stimmte auch. Ich wusste nicht ohne Grund, dass Apfelstrudis gefährlich war. Außerdem war es genau genommen meine Schuld, weshalb sie uns verfolgt hatte, also war ich es ihr schuldig, sie nicht alleine zu lassen. Zumindest nicht, bevor sie wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Aber seltsamerweise hatte Apfelstrudis beschlossen, uns fürs Erste in Ruhe zu lassen. Das konnte allerdings auch daran liegen, dass der Kristallwald ebenfalls an den Whispering Forest grenzte und der Fluss, durch den wir geflohen waren, der Silver River gewesen war: Was hieß, dass ich heute gleich zweimal mit dem Fluss Bekanntschaft gemacht hatte.
Hier waren wir also in Sicherheit. Fürs Erste. Sie machte Anstalten, aufzustehen. Ich erhob mich und streckte ihr dann meine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. "Ich denke, wir haben einige Dinge zu klären", meinte ich. Ganz ehrlich. Jetzt, wo Apfelstrudis sie gesehen hatte, musste sie vorgewarnt werden. "Wie kommt das auf einmal?", hinterfragte sie mich ganz offen, während sie mich mit einem kühlen Ausdruck in den blauen Augen musterte. Ich konnte sie gut verstehen. Schließlich war ich bis vor einigen Stunden derjenige gewesen, der ihr nicht vertraut hatte. Um nichts Falsches zu sagen, zuckte ich nur mit den Schultern.
Ich hatte zwar vor, sie zu warnen, aber manche Dinge blieben besser im Verborgenen. "Offenbar bin ich mir bewusst geworden, dass du noch so gut wie nichts über mich weißt", gab ich einfach zurück, auch wenn es mir lieber gewesen wäre, wenn sie so wenig wie möglich wüsste. Sie musterte mich noch für wenige Sekunden mit diesem kühlen Ausdruck, den ich nicht benennen konnte. Doch dann wurde ihr Blick freundlicher.
"Wenn das so ist", sagte sie und reichte mir ihre Hand, "können wir ja neu beginnen." Ich schüttelte ihre Hand und spürte den angenehmen Druck ihrer Hand in meiner Hand. "Freut mich", fügte sie noch hinzu und lächelte schüchtern. Anscheinend konnte sie ihre Stimmung ziemlich schnell wechseln. Ich erwiderte ihr Lächeln. "Ich bin Jasper. Und da gibt es ein paar Dinge, die du wissen solltest." Im Gebüsch hinter uns raschelte es und jemand räusperte sich.
"Wenn ich ihr wäre, würde ich schleunigst von hier verschwinden. Nur so ein Tipp", meinte eine heisere Stimme.
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