02| Apfelblüte
Ein Ast knackte. Der Junge sah sich erschrocken in der Gegend um. "Das war nur ein Ast", sagte ich, "hin und wieder kann es sein, dass ein Tier drauftritt." Er schüttelte den Kopf. "Das war kein Tier", behauptete er, "das war eindeutig ein Mensch."
Ich zuckte mit den Schultern. Woher wollte er das so genau wissen? "Na und? Hier können schließlich auch andere Leute unterwegs sein." Trotzdem bekam ich bei diesem Gedanken Gänsehaut. Und wenn es nun doch stimmte, was sich die Leute erzählten? Wenn es hier wirklich böse Geister und Hexen gab?
Das leise Klirren, das eindeutig von einem Kettenhemd stammte, gab ihm recht. Hier war wirklich jemand unterwegs. Hoffentlich keine Hexe. Dann klirrte noch etwas Metallisches. Stille. "Was ist, wenn wir uns geirrt haben?", fragte eine männliche Stimme.
"Kann nicht sein", gab eine andere weibliche Stimme unwirsch zur Antwort. "Wenn sie nicht hier sind, will ich nicht mehr Apfelstrudis heißen."
Darauf folgte Stille, die nur von einem Husten unterbrochen wurde. Einem Husten, das verdächtig nach unterdrücktem Lachen klang. Die männliche Stimme meldete sich wieder. "Wolltest du überhaupt jemals Apfelstrudis heißen?"
Jemand schnaubte. "Das tut nichts zur Sache! Und jetzt schweig und such weiter nach den Kindern. Weit können sie noch nicht gekommen sein. Davon einmal abgesehen habe ich dir nicht erlaubt mich zu duzen." Daraufhin war es wieder still. Aber da ich wusste, worauf ich horchen musste, konnte ich Geräusche hören, die ankündigten, dass sich die Personen näherten.
"Was war das?", fragte ich den Jungen, auch wenn ich mir sicher war, dass er darauf keine Antwort wusste. "Das war Apfelstrudis, eine der ranghöchsten Hexen hier in der Umgebung", wisperte er leise. Sein Gesicht verriet seine Ungläubigkeit. Mir entfuhr ein leises Keuchen. Woher wusste er das so genau? Und wen suchten sie? Außerdem, wer hieß denn schon Apfelstrudis? Ich begann etwas zu ahnen. "Meinen die mit den Kindern etwa..." Er nickte, bevor ich meinen Satz beenden konnte. "Sie suchen nach uns." Wieder fragte ich mich, woher er das wusste. Aber das war im Moment nicht wirklich wichtig. "Wieso?" Er schüttelte den Kopf. "Ich habe keine Ahnung." Ich neigte dazu, ihm nicht zu glauben. Wenn er all die anderen Sachen wusste, konnte es doch gut möglich sein, dass er auch das wusste.
"Ich habe sie gefunden!", dröhnte die männliche Stimme wieder durch den Wald. Diesmal klang sie aber anders, wie von einer anderen Person. Ich hielt für einige Sekunden die Luft an. Wie hatten sie uns nur so schnell gefunden, und vor allem, wo waren sie überhaupt?
"Sie haben uns", flüsterte der Junge und sah mich an. Als ob ich auf diese Idee nicht auch schon gekommen wäre. Für wen hielt er mich? "Lauf!" Mit diesen Worten drehte er sich direkt um, verließ den Pfad und rannte geradewegs durch den Wald. Kurz wollte ich stehenbleiben und weiterhin dem Pfad folgen, hörte dann aber das Geräusch von vielen Füßen auf dem Waldboden und ließ es bleiben. Lieber rannte ich dem Jungen nach, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was er vorhatte, oder ob er wusste wohin er rannte.
Ich holte ihn ziemlich bald ein, denn obwohl ich relativ klein für mein Alter war, so war ich dafür doch ziemlich schnell. "Wohin willst du hin?", fragte ich ihn, während ich so neben ihm herrannte. "Fluss", sagte er nur in einer Pause zwischen zwei Atemzügen. Damit war ich ja definitiv schlauer als vorher. Ich drehte mich kurz um und geriet fast ins Stolpern. Der Junge hatte recht gehabt. Sie waren wirklich hinter uns her. Drei Männer in den Uniformen der Stadtwache, und eine Frau in einem waldgrünen Kleid, die gemächlich entlangschlenderte, trotzdem aber mehr Weg zurückzulegen schien als die Männer, die rannten. Das musste Apfelstrudis sein, eine echte Hexe. Ich hatte immer gedacht, Hexen wären ziemlich alt und hässlich. Und würden nicht mehr existieren. Apfelstrudis war keines dieser Dinge.
Der Weg, den der Junge eingeschlagen hatte, führte wirklich zum Fluss, wie ich anhand des Rauschens erkannte. Offensichtlich kannte er sich hier wirklich aus. Glück für mich. Der Wald lichtete sich und man konnte schon das Ufer erkennen. Dahinter lag der Fluss. Ein breiter, tiefer und wilder Strom, der unbezwingbar schien. Ich hatte schon einmal probiert, wie tief er war, und herausgefunden, dass ich das besser nicht wissen wollte. Tief genug, um das Schicksal nicht herauszufordern.
Der Junge bremste ab, ich tat es ihm gleich. Wir blieben am Rande des Ufers stehen. "Und was jetzt?", fragte ich ihn, während ich mich besorgtem Blick unsere Verfolger musterte. Uns trennte immer noch ein gutes Stück weg, aber wohl nicht mehr lange. Hoffentlich hatte der Junge irgendeine Idee.
"Vertraust du mir?", stellte er stattdessen eine Gegenfrage. Ich sah ihn entgeistert an. "Wir kennen uns seit weniger als einer Stunde, also wohl eher nein." Mal ganz im Ernst, was erwartete er auch? "Ist auch egal", sagte er dann und packte mein Handgelenk. Ich funkelte ihn empört an. Was hatte er bloß vor? Oh nein. Mir schwante Übles. Ich versuchte mein Handgelenk aus seinem festen Griff zu befreien und nebenbei nicht ins Wasser zu fallen, als es auch schon zu spät war.
Anstatt mir irgendetwas zu sagen, drehte er sich einfach um und sprang geradewegs in den Fluss. Mich zog er natürlich mit. Adrenalin fuhr durch meinen Körper, als mich der Schock erreichte. Das Wasser war eisig kalt, kälter als die Kälte in mir, und raubte mir fast den Atem. Ich erinnerte mich nicht an die Notwendigkeit, zu schwimmen, sondern überließ mich der Strömung des Flusses. Sie tauchte mich unter Wasser, tief nach unten. Das Gewicht meines Schwerts und meiner Klamotten war da wohl nicht ganz unschuldig. Der Junge war ganz eindeutig lebensmüde. Der erste Gedanke, der mir hier unten kam, war die Frage, ob mein Schwert das überleben würde. Ein ziemlich lächerlicher Gedanke. Ich sollte schwimmen. Es zumindest versuchen. Aber diese Möglichkeit rückte in immer weitere Ferne. Ich hätte niemals gedacht, dass ich irgendwann so enden würde.
Etwas zog an meinem linken Handgelenk und ich wurde nach oben gezogen. Luft strömte wieder in meine Lungen und ich sog sie gierig ein, obwohl ich noch nicht so lange unter Wasser gewesen war. Zumindest nach meinem Empfinden. Der Junge musterte mich stirnrunzelnd. "Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm werden würde", meinte er nur und warf einen prüfenden Blick zum Ufer hin. Unsere Verfolger waren schon fast dort angekommen. Der Fluss versuchte bereits wieder mich nach unten zu drücken, aber der Junge hielt dagegen an. Ich zappelte nur hilflos mit den Füßen im Wasser. Wenigstens etwas, das mir wieder eingefallen war.
"Es ist wohl besser, wenn du mich schwimmen lässt", sagte er schließlich und legte auch gleich los, ohne auf einen Gegenprotest zu warten. Selbst mein, von der Kälte beschränktes, Gehirn schien zu wissen, dass es ganz und gar unmöglich war uns hier wieder rauszubringen. Zumindest wenn nur er schwamm. Aber der heutige Tag hatte wohl hohes Potenzial alles Unmögliche in Mögliches zu verwandeln. Alles kam mir so unwirklich vor. Die Strömung war ziemlich stark, der Fluss war tief und das Wasser kalt. Die Strömung versuchte mich wieder zu bekommen, aber ich wurde nicht mehr untergetaucht. Der Junge tat praktisch Unmögliches und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es kam mir alles vor wie ein unwirklicher Tagtraum. Vielleicht war ich aber auch schon ertrunken und es war wirklich nicht real? Eine andere Möglichkeit wäre, dass ich angefangen hatte zu halluzinieren.
Als wir auf der anderen Seite wieder ans Ufer kamen und ich mich prustend in das nasse Gras fallen ließ, holten meine Sinne mich wieder in die Realität. Das alles war gerade echt gewesen. Meine Glieder waren taub vor Kälte und da ich noch nicht gestorben war, bestand immer noch das Risiko, dass ich krank werden und dann sterben würde. Rosige Aussichten.
Der Junge hatte sich schon wieder aufgerichtet und sah interessiert zum anderen Ufer hinüber. "Sieht so aus, als hätten wir sie abgehängt. Zumindest fürs Erste", stellte er zufrieden fest. Ich hatte keine Kraft, um meinen Kopf zu heben und mich selbst zu vergewissern. Das Gras war viel gemütlicher, als ich es jemals wahrgenommen hatte. "Toll", antwortete ich erschöpft, "hätte es keinen anderen Weg gegeben?" Er sah mich intensiv an. "Hast du einen gesehen?" Ich verdrehte die Augen, was er wahrscheinlich sowieso nicht mitbekam. "Das nicht, aber ich wäre auch nicht so lebensmüde in einen Fluss zu springen." Er runzelte wieder die Stirn und rupfte ein paar Grashalme aus. "Wir haben es überlebt, also sieh es doch positiv." Wenn er erwartete, dass ich aufspringen und euphorisch zu tanzen anfangen würde, hatte er sich auf jeden Fall geirrt.
Ich drehte mich auf den Rücken und blinzelte gegen die Sonne an, von der ich hoffte, dass sie mich erwärmen würde. Der Schock raubte mir buchstäblich fast noch immer den Atem. In einen Fluss zu springen war eben doch nicht gesund. Das sah so aus, als ob mein heutiger Tag gänzlich gelaufen wäre. Oder besser noch, er war im Sand verlaufen.
Aber andererseits lebten wir noch, und das war zumindest ein Erfolg. Fragte sich nur noch wie lange.
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