Anastasia
Die Innenstadt wurde von einer grauen Dunkelheit umhüllt und es schien komisch, noch das Gelache und Gequengel einiger Kinder zu hören. Es war viel zu dunkel für Kinder. Doch die Kirchturmuhr schlug fünf mal und dann wurde ihr bewusst, dass es eigentlich erst früher Abend war.
Stress. Daraus bestand sie wohl momentan am meisten, gut versteckt hinter einer blonden Lockenperücke und einem güldenen, wallenden Kleid. Es war kalt, zumindest ein bisschen und noch drei Stunden und ein paar Wochen, dann würde es vorbei sein. Christkind sein war schön, aber nicht im Winter. Man gab ihr Tabletten, um das schwarze Loch zu verkleinern und den Job, um positives zu verbreiten. Und da stand sie nun. In der tristen Innenstadt, einer plötzlich so fremden Stadt. Im Sommer lebte sie hier, doch sobald die erste Dunkelheit hereinbrach, wusste sie nicht mehr, wo sie war.
Ein Kind lief freudig auf sie zu, versteckt hinter einem dicken Schal, der länger war, als es selbst. „Das ist mein Wunsch", sagte das Kind und drückte ihr ein Stück Papier in die Hand, bevor die Mutter es hastig weiterschob, obwohl sie diesmal keine Maske trug. Ihr Lächeln war echt. Das Papier war zerknittert, eine Ecke fehlte bereits, doch der Wunsch war klar. Zwischen Mann und Frau, die sich die Hände reichten, war ein großes Herz gemalt. Zuckersüß, aber sie wollte weinen. Dass Liebe grausam war, sollte man nicht schon in so jungen Jahren erfahren. Ihr Herz zerbrach erneut, die Wirkung der Tabletten ließ nach. Eine tickende Bombe, seit wann hatte sie ein Ablaufdatum?
17 Uhr. In einer Stunde sollte ihr großer Auftritt sein und allein durch ihre Person Menschen den Frieden spüren lassen. Aber wie sollte das funktionieren, wenn sie selbst Krieg führte? Kopf gegen Herz. Maschinengewehr und Handgranate. Sieben Jahre ging das nun schon so, keine Friedensverhandlungen in Sicht.
„Ho, Ho, Ho", ertönte es plötzlich neben ihr, Glocken läuteten im Hintergrund. Der Weihnachtsmann roch nach Tannenzweigen und ein bisschen nach Kerzenwachs und Gras. Sein Bart war verrutscht, doch sein Lächeln saß perfekt.
„Wie lautet dein Name, mein Kind?" Ihr wurde nicht mitgeteilt, dass der Weihnachtsmann auch kommen würde. Vielleicht entschied man, dass ein depressives Christkind kein Christkind sein konnte. „Das sehe ich doch. Aber wie heißt du nach der Arbeit?" Er klang heißer, aber vielleicht hatte er auch einfach nur zu viel Nikotin in seine Lunge gesaugt. „Ich bin das Christkind. Zumindest für diesen Monat." Wenn die Kinder an sie glauben konnten, schaffte sie es möglicherweise auch. Sie war nicht sie selbst. War sie jemals sie selbst?
„Verstehe." Er schaute in den Himmel, doch niemand war dort. Nicht einmal die Wolken sahen aus wie Schlitten oder Rentiere. Es war grau wie November, aber es war Dezember. Bald kam das neue Jahr, vielleicht das letzte. So durfte sie nicht denken, es gab ja auch schöne Momente, nur wo? Sie schaute den Weihnachtsmann an, der gedankenverloren an einem Joint zog. Das würde wohl nicht viele Geschenke geben. „Was machst du eigentlich hier?" Nun sah er sie an. „Wünsche erfüllen. Aber ich glaube, das kannst du besser. Du existierst wenigstens." Ein weiser, junger Mann. „Ich wünsche mir, dass ich lebe." Sie sprach so leise, wie Schnee fiel. Doch er verstand. „Den Wunsch hatte ich vor zwei Jahren auch. Aber das Christkind hatte wohl eine andere Vorstellung vom Leben als ich. Gelebt habe ich, ohne Frage. Aber sieh mich nur an, ich bin ein drogenabhängiger, der Weihnachtsmann spielt, um zumindest etwas Geld in der Tasche zu haben. Wenn das das Leben ist, will ich es nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass es irgendwann besser wird. Warum ist die Lebenserwartung sonst so hoch?" Aus dieser Perspektive hatte sie das verrückte etwas namens Leben noch nie betrachtet. Aber da war etwas. Ein hauchdünnes Band um ihr Herz gelegt. Vielleicht war das die Hoffnung, die unter keinen Umständen sterben durfte. Vielleicht würde es tatsächlich besser werden. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann.
„Komm, ich lade dich auf einen Glühwein ein." Sie nickte und lächelte. Kleine Schritte wagen, meinte ihre Therapeutin immer. „Anastasia", sagte sie. Verwirrt sah er sie an. „Mein Name ist Anastasia."
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