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Staunend sah Linda an den Mauern der Stadt hinauf. Sie waren gewaltig! Die Stadt ragte wie eine riesige Festung mitten auf dieser weiten Wiese empor, erst weit am Horizont konnte man Wälder und winzige Bauernhöfe erkennen.
Diese Welt musste tatsächlich unvorstellbar groß sein.
Umso länger würde es dauern, das letzte Level zu erreichen.
Sie riss sich von dem Anblick los und ging durch das breite Tor in die Stadt. Die Wachen nickten ihr kurz zu und sie lächelte sie leicht an. Diese Männer waren mit Sicherheit NPCs, also keine echten Menschen. Trotzdem sahen sie unglaublich real aus, nicht wie Figuren aus einem animierten Spiel.
Wie sollte sie so erkennen können, wer Spieler und wer NPC war?
>>Willkommen, Reisende. Kann ich Euch weiterhelfen?<<, sprach eine Frau Linda plötzlich an. >>Ich kenne die Stadt in- und auswendig und kann Euch überall hin führen – ob Läden, Gasthäuser oder andere Sehenswürdigkeiten.<<
Linda überlegte. Wo wollte sie hin? Geld hatte sie noch keines, also brauchte sie sich nicht die Läden und Gasthäuser ansehen. Allerdings wäre ein Ort zum Geldverdienen nicht schlecht.
>>Ich suche nach Aufgaben<<, antwortete sie also, was die Frau sofort zum lächeln brachte.
>>Das Questboard befindet sich am Marktplatz. Einfach geradeaus!<<, erklärte sie und wies in die Richtung.
>>Danke.<<
Viele Menschen benutzen diese Straße, sodass Linda nur langsam vorankam. Doch sie nutzte die Zeit, um sich die Häuser und Bewohner genauer anzusehen.
Die Wohnhäuser sahen den Fachwerkhäusern der realen Welt ziemlich ähnlich, doch waren viel höher und schmaler. Die Fassaden waren in den unterschiedlichsten Farben gestrichen – mal braun, mal dunkelblau, mal rot. An den meisten Fenstern hingen prächtige Blumen hinunter. Alles sah sehr bunt und einladend aus.
Auch die Menschen strahlten eine positive Aura aus.
Sie plauderten und lachten fröhlich, während sie sich mit Körben durch die vollen Straßen schlängelten. Die Frauen trugen lange Kleider aus farbigen Stoffen, die Männer größtenteils dunkle Hosen und helle Hemden. Linda musterte sie interessiert und versuchte, irgendetwas an ihnen zu entdecken, dass sie als animierte Figuren zu erkennen gab. Doch sie waren gänzlich wie reale Menschen, was Linda beunruhigte.
Mit einem Mal lichtete sich die Menschenmenge vor ihr und stob in verschiedene Richtungen auseinander. Sie war am Marktplatz angekommen.
Laute Stimmen, Musik und Gelächter empfingen sie.
Es war sehr voll, doch der Platz war riesig, sodass die Menge sich gut verteilte. Jetzt musste sie es nur noch schaffen, das Questboard hier ausfindig zu machen.
Sie ging an einigen Marktständen vorbei, die Waffen, Rüstungen, Tränke oder Nahrung verkauften. Beim Anblick einer dampfenden Kartoffelsuppe meldete sich Lindas Magen knurrend zu Wort.
Überrascht hielt sie sich eine Hand auf den Bauch. Hatte sie gerade innerhalb des Spiels Hunger? Oder hatte ihr bewusstloser Körper in ihrem Zimmer Hunger?
Der Verkäufer des Essens lächelte Linda wissend an und wollte sie herbeiwinken. >>Nur zehn Silberstücke für eine warme Mahlzeit!<<
Sie schüttelte entschuldigend den Kopf und eilte davon.
In der Mitte des Platzes fiel ihr ein großes Holzbrett auf. Das Questboard?
Sie bahnte sich ihren Weg dorthin. Tatsächlich stand über dem Brett groß das Wort >>Quests<< geschrieben. Allerdings standen einige Personen davor. Von den Outfits und originellen Haarfarben dieser Personen ausgehend, schloss sie, dass dies Spieler wie sie sein mussten. So schwer waren sie also doch nicht zu erkennen.
Ein Mädchen mit langen rosafarbenen Haaren tippte energisch auf einen Zettel, der am Brett hing. Dann lief sie weg und hinterließ eine Lücke, die Linda sofort nutze.
Sätze wie >>Ich kann mein Kind nirgends finden!<< oder >>Besorge mir zehn Wolfsfelle für 3 Gold Belohnung!<< stachen ihr sofort ins Auge. Das waren mit Sicherheit einfache Aufgaben, die die Spieler an das Spiel gewöhnen sollten und die ersten Level brachten.
Gerade wollte sie die Quest mit der Suche nach dem vermissten Kind antippen, als ein Junge dieselbe Idee hatte und sie mit den Händen zusammenstießen.
>>Sorry!<<, rief er sofort aus und zog seine Hand zurück.
>>Kein Problem.<<
Linda sah ihn an. Er hatte kurze braune Haare und ebenso braune Augen. Er trug eine leichte Lederrüstung, ein schmales Schwert und einen unförmigen Holzschild. Ein Krieger also.
>>Kann nur einer die Quest annehmen?<<, fragte Linda und deutete auf den Auftrag.
>>Kommt auf die Aufgabe an. Wenn du nur was farmen sollst, kann das jeder annehmen. Quests wie die mit verschollenen Personen oder Mordaufträge kann nur einer machen, damit nicht hunderte Spieler am gleichen Ort rumhängen und schwere Gegner in drei Sekunden killen. Wenn du so 'ne Aufgabe aber nach drei Tagen noch nicht erledigt hast, erscheint sie wieder hier. Wenn du sie machst, dauert es länger, bis sie sich wiederholt<<, erklärte er freundlich, obwohl er immer wieder von anderen Spieler unsanft beiseite geschoben oder sogar geschubst wurde.
>>Okay, danke. Wenn du willst, überlass ich dir die Quest<<, bot Linda an und wollte sich wieder dem Brett zuwenden, um eine andere Aufgabe zu wählen.
>>Nein, nein! Ich hab eine bessere Idee<<, warf der Junge ein. >>Wir könnten einfach eine Gruppe bilden, dann können wir die Quest zusammen erledigen und bekommen sogar einen Erfahrungsbonus. Wie wär's?<< Er grinste Linda liebenswürdig an.
Eigentlich würde sie lieber allein arbeiten, doch ein Erfahrungsbonus wäre nicht schlecht. Je schneller sie levelte, umso besser.
>>Na gut<<, entschied sie.
Der Junge nickte freudig, dann hob er seine Hand wie zum Gruß und wartete.
Als Linda ihn nur verständnislos ansah, runzelte er die Stirn.
>>Du musst deine Hand an meine legen, damit wir eine Gruppe bilden. Bist neu hier, was?<<
Schweigend legte sie ihre Hand an seine.
>>Du hast eine Gruppe mit John87 gebildet<<, sagte eine Stimme in Lindas Kopf. John87, kreativer Name.
Er tippte einige Aufträge an, dann nahm er Linda am Handgelenk und zog sie hinter sich aus dem Getümmel.
>>Ich mag es nicht, eingequetscht zu werden<<, erklärte er währenddessen.
Sie ließ sich widerstandslos bis zu einer Bank von ihm mitziehen.
Als er sich setzte, ließ er ihr Handgelenk los und klopfte neben sich.
Linda nahm Platz.
>>Erina heißt du also<<, stellte er fest. Wahrscheinlich hatte er dieselbe Stimme in seinem Kopf gehört wie sie.
>>Ja. Mit ‚y' und einem ‚H' am Ende. Aber eigentlich heiße ich Linda.<<
Bei ihrem letzten Satz zuckte er leicht zusammen und und kratzte sich verlegen im Nacken.
>>Was ist?<<, fragte Linda verwundert und rückte etwas von ihm weg.
>>Na jaaa...normalerweise spricht man nicht über die....Realität<<, antwortete er nervös, >>Das ist wie eine ungeschriebene Regel. Niemand tut das und niemand will das.<<
Linda hob eine Augenbraue.
>>Tut mir Leid, aber ich bin nicht hier, um die Realität zu verleugnen. Ich bin hier, weil...<<
Beinahe hätte sie über Luc geredet, doch sie wollte einem Fremden nichts über ihren Bruder erzählen. Es ging ihn nichts an.
>>Nun, ich habe andere Gründe, John87<<, schloss sie schlicht.
>>Bitte nenn mich nur John. Ich denke, John bis John86 und alle ab John88 werden nichts dagegen haben.<< Er lachte.
>>Okay, geht klar. Wollen wir jetzt unsere Quests machen? Ich möchte keine Zeit verschwenden.<<
Jede Minute, die sich nicht mit leveln verbrachte, war verschenkte Zeit, die Luc das Leben kosten könnte. Das durfte sie nicht vergessen, so spannend diese Welt auch sein mochte.
>>Ist ja gut<<, meinte John, stand auf und streckte sich. >>Die Quests laufen dir nicht weg. Genieß dein neues Leben, sieh dich um, lern ein paar nette Leute kennen-<<
>>Du verstehst das nicht<<, unterbrach Linda gereizt, >>Ich bin hier nicht zum Spaß. Dieses Spiel ist dafür da, dass es jemand gewinnt, oder?<<
Kurz starrte John sie nur an, dann prustete er und musste sich den Bauch halten, um nicht loszulachen.
Verdutzt beobachtete Linda das Schauspiel.
>>Was ist jetzt schon wieder?<<, fragte sie ungeduldig. Sie hätte sich nie auf diese Gruppe einlassen sollen.
>>Du bist neu im Spiel<<, sagte er und klang wieder ernst, >>Weißt du, wie viele Spieler schon ein hohes Level haben? Einige. Das sind top Spieler, Leute, die Erfahrung mit Gaming haben. Jemand wie du oder wie ich kann das nicht gewinnen. Deswegen spiele ich zum Spaß. Das ist es echt wert. Die Champions kümmern mich nicht.<<
Lindas Schultern sackten verdrossen nach unten.
Sie hatte es schon gewusst – dieses Spiel war reine Zeitverschwendung. Sie hatte keine Chance. Lieber hätte sie versuchen sollen, in der Realität Geld zu beschaffen. Egal, was sie dafür hätte tun müssen. Doch nun war es zu spät.
>>Ich muss es versuchen<<, flüsterte sie und drehte sich von John weg.
>>Ich gehe jetzt Quests abarbeiten. Entweder du kommst mit, oder du lässt es bleiben<<, rief sie ihm zu, als sie sich schon auf dem Weg zurück zur Hauptstraße befand.
Grinsend schüttelte er den Kopf, dann eilte er ihr nach.
>>Ich lasse meine Gruppe nicht im Stich. Auch nicht, wenn sie nur aus einem Weib mit schlechter Laune besteht.<<
Linda warf ihm einen vernichtenden Blick zu und er hob abwehrend die Hände in die Luft. >>Ist gut, bin ja still.<<
Gemeinsam kämpften sie sich durch die Menge bis zu den Toren.
Kaum waren sie draußen, sog Linda zufrieden die frische Luft ein.
Die Gerüche in der Stadt waren angenehm, doch nichts ging über kühlen Wind.
John schnippte mit den Fingern und vor ihm erschienen die Quests, die er vorhin angetippt hatte, als Projektionen.
>>Wenn wir die Quest mit dem vermissten Kind zuerst machen möchten, müssen wir in Richtung Wald gehen. Dort wurde der Junge zum letzten Mal von einer patrouillierenden Wache gesehen, die ihn leider nicht einfangen konnte.<<
Linda nickte.
Der Wald war recht weit weg, doch die Zeit musste sie wohl oder übel opfern.
Den Großteil des Weges schwiegen sie. John fing immer mal wieder an zu lachen, wenn er irgendwelche umher laufenden Tiere sah.
>>Das da hat 'nen ziemlich langen Zinken. Sieht echt schlabberig aus. Oh, siehst du die Verdickung da unten? Wie die Nase eines Mannes- <<
>>John! Was ist das da vorne?<<
Linda zeigte auf einen blauen Strahl, der einige Meter vor ihnen vom Boden bis in den Himmel ragte.
>>Ach, das ist ein Respawnpunkt. Wenn du auf der Map stirbst, kommst du an der Stelle zurück. Jede Karte hat einen eigenen Respawnpunkt.<<
>>Bist du schonmal gestorben?<<, fragte sie nun interessiert. Das war ein Thema, über das sie gern informierter wäre. Wie groß war das Risiko, das all die Spieler eingingen?
>>Ein paar Mal<<, gab er verlegen zu, >>Ich bin eine Niete mit dem Schwert. Hätte vielleicht doch Magier werden sollen. Obwohl, vermutlich hätte ich mich selbst in Brand gesetzt...<<
>>Was passiert, wenn man stirbt?<<, fragte sie und sah ihn eindringlich an. Im Tutorial hatte sie von Adeya und Schmerzen erfahren. Doch was genau bedeutete das?
>>Also zuerst tut es scheiße weh<<, antwortete er und lächelte trotz des unangenehmen Themas, >>Dann kommst du nach Adeya und respawnst.<<
>>Was ist Adeya?<<, fragte sie drängend. Warum musste man ihm alles aus der Nase ziehen?
>>Darüber darf man nicht reden<<, entgegnete er schlicht.
Linda widersprach. >>Davon wurde mir im Tutorial nichts gesagt.<<
>>Ja, weil es dir erst gesagt wird, wenn du selbst in Adeya bist. Da sagen sie dir, dass du nicht darüber reden darfst. Früher oder später wirst du eh draufgehen und es selbst erleben. Da muss jeder durch.<<
Johns gute Laune war wie weggeblasen. Den Rest des Weges blickte er nur noch starr geradeaus.
Was auch immer in Adeya auf sie wartete – Linda war nicht erpicht darauf, es kennenzulernen.
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