15
Schwerfällig öffnete Linda die Augen, doch es blieb dunkel.
Ihre Glieder schmerzten und sie streckte sich, was den Schmerz noch schlimmer machte.
Aber wundersamerweise war sie nicht erfroren.
Oh?
Über Linda lag ein dicker weißer Mantel – Slayers Mantel.
Sie sah neben sich und tatsächlich, da lag Slayer und hatte sie beide mit seinem Mantel zugedeckt.
Sein Gesicht wirkte so zart, wie er reglos dalag. Linda stütze sich auf ihren Ellbogen, legte den Kopf auf ihre Hand und betrachtete ihr Teammitglied. Dean. Dean Evans. Ein normaler Jugendlicher, zumindest ist er das früher wohl einmal gewesen. Sein Spielcharakter war äußerst attraktiv. Wie er wohl wirklich aussah? Es fiel Linda schwer, sich ein anderes Gesicht vorzustellen. Dasselbe galt für John und Miri. Würde sie sie jemals real treffen? Wenn, dann würden sie sich bestimmt nicht erkennen.
Linda beobachtete ihn eine Weile, bis er schlagartig die Augen öffnete.
„Auch wieder da?", fragte Linda neckisch. „Oh, und danke für die Decke."
Slayer starrte sie kurz an, als wüsste er nicht, wovon sie redete.
„Achso. Gern...geschehen." Dann setzte er sich plötzlich auf und sah sich irritiert in der kleinen Höhle um. „Wo sind deine Freunde hin?"
Miri und John, sie lagen nicht mehr auf ihren Plätzen.
Linda krabbelte aus der Höhle hinaus, dicht gefolgt von Slayer.
„Na, ist das süße Pärchen auch mal aufgestanden?", fragte eine unbekannte Stimme höhnisch. Linda blinzelte mehrmals, um sich an die Morgensonne zu gewöhnen. Auf dem Felsen, auf dem Slayer und sie gestern noch geredet hatten, saß ein Mädchen mit hellbraunen, hüftlangen Haaren. Sie war in schwarzes Leder gekleidet.
Links und rechts von ihr standen zwei muskulöse Krieger, die John und Miri festhielten.
Die Fremde grinste Linda überheblich an und widmete ihre Aufmerksamkeit dann ganz Slayer.
„Sonja", sagte er schlicht. „Was will die Drittplatzierte in der Championrangliste hier?"
Sonja tat, als überlegte sie. „Nun, ich habe gehört, dass du hier bist und Ballast mit dir herumträgst."
Sie deutete vage auf Slayers Begleiter.
„Ich muss zugeben, das hat mich gekränkt. Meiner Gruppe wolltest du nicht beitreten, aber mit denen gibst du dich ab? Überlege es dir doch nochmal."
Slayer sah sie angewidert an.
„Ich werde mich dir nicht anschließen. Verdammt, du warst dabei, als meine Schwester getötet wurde. Was glaubst du, was ich davon halte, mit dir zusammenzuarbeiten?"
Linda betrachtete das Mädchen genauer. Sie sah aus wie ein Assassine in ihrer schwarzen Aufmachung und mit den zwei hübschen Dolchen an ihrem Gürtel. Ihr Blick war selbstzufrieden, doch ihre Hände zitterten kaum merklich. Sonja war ungeduldig.
„Es war kein Vorsatz, was mit Alyn passiert ist. Aber gut. Das wirst du nie verstehen. Aber sieh doch mal in die Zukunft! Noch hast du den Sieg nicht so sehr in der Tasche, wie du wahrscheinlich glaubst. Zeron, der Zweitplatzierte, ist mir beigetreten."
Wie auf Kommando kam ein großer rothaariger Mann zwischen den Felsen hervor. Er sah gelangweilt aus.
„Du kennst unser Ziel.", sprach Sonja weiter, „Wir gewinnen gemeinsam und teilen das Geld unter uns auf. Danach bitten wir den Spielleiter, uns in die Gestaltung von Anaia mit einzubinden. Uns alle drei kann er einfach nicht abweisen!"
Slayer ballte seine Hände zu Fäusten. Linda erwartete schon, dass er jeden Moment seine Krallenhandschuhe ausfuhr und sich auf Sonja stürzte. Aber das wäre Miri und Johns Tod.
Ruhig, aber mit brodelndem Unterton antwortete Slayer: „Ich habe nicht das Geringste Interesse an eurem Ziel. Versuch doch, mit Zeron und deinen Lakaien zu gewinnen. Aber anscheinend glaubst du selbst nicht daran, wenn du mich so dringend in deinem beschissenen Team haben willst. Verschwinde jetzt."
Sonja verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Sie stand auf und ging dicht an Slayer heran. Ein paar Sekunden starrte sie ihn an, dann wandte sie ihr Gesicht Linda zu. Plötzlich lächelte sie zuckersüß. „Wer hätte gedacht, dass unser lieber Slayer sich ein unfähiges Mädchen und zwei schwächliche Freunde anlacht und sie mir sogar vorzieht. Ist das nicht lustig? Aber... hmmm... welche ist das richtige Mädchen? Gehen wir lieber sicher."
Linda reagierte nicht darauf. Sie spürte, dass man mit Sonja nicht normal reden konnte.
„Mircou, lass den Jungen los", befahl Sonja dem Kämpfer links von ihr.
Er ließ John los und nahm die Hand von seinem Mund.
„Miri!", rief John sofort. „Lasst sie auch frei!"
„Wirf sie ins Wasser", herrschte Sonja ihren zweiten Untertan an, der sofort gehorchte.
„Miri!", rief John abermals und sprang sofort hinterher, um ihr aus dem See zu helfen.
Sonja beobachtete das Ganze interessiert, besonders Slayers Reaktion. Er sah wütend aus, rührte sich aber nicht.
„Na gut", sagte sie, „Mircou, schnapp sie dir." Sie deutete auf Linda, die erschrocken zusammenzuckte.
Slayers Arm schnellte sofort hervor, um Linda hinter seinen Rücken zu schieben.
Sonja grinste. „Wir werden eine Übereinkunft finden, da bin ich mir sicher."
Sie zwinkerte Slayer zu, dann drehte sie sich um und verschwand mit ihren zwei Bodyguards. Zeron blieb noch kurz stehen und zuckte mit den Schultern, dann folgte er seiner Gruppe.
John setzte die tropfnasse Miri ab und schüttelte seine Stiefel aus. Wenigstens würden die beiden bei der Hitze schnell trocknen.
Slayer rieb sich gestresst die Schläfen.
„Vergesst am Besten, was gerade vorgefallen ist. Sonja tut stärker, als sie ist. Sie wird kein Problem mehr für uns darstellen."
„Warum hast du sie nicht erledigt?", fragte John vorwurfsvoll, „Sie hat Miri in den See werfen lassen und Erynah bedroht!"
Slayer warf ihm einen kühlen Blick zu. „Was hätte das schon genutzt? Sie hätte euch beide töten lassen und wäre bei der nächsten Gelegenheit wieder aufgetaucht. Sie nervt weniger, wenn wir sie nicht weiter reizen. Aber glaub mir – ich habe sie früher schon oft nach Adeya befördert und irgendwann werde ich es sicher wieder tun."
„Ich habe irgendwie das Gefühl, wir werden sie bald wiedersehen", gestand Linda und seufzte resigniert. So jemand hatte ihnen gerade noch gefehlt. Alles hätte so gut laufen können, jetzt, wo sie zu viert waren, aber schon kam das nächste Problem.
„Wie gesagt, vergesst es", wiederholte Slayer. „Ich kümmere mich allein darum, sollte sie uns im Weg stehen. Jetzt widmen wir uns lieber unserer Quest."
Er öffnete sein holografisches Inventar vor sich und wählte den Schlüssel aus.
„Irgendwo hier ist die erste Kiste versteckt. Weißt du, wo?", fragte Linda und sah sich nach geeigneten Orten um. In der Hölle war die Kiste schon mal nicht.
„Nein, die Verstecke ändern sich jedes Mal. Als ich die Quest vor einiger Zeit gemacht habe, war die Kiste zwischen diesen Felsen." Er deutete in die Richtung, aus der Zeron zuvor gekommen war. „Aber ich kann von hier aus erkennen, dass sie nicht mehr am selben Platz ist", erklärte Slayer. „Wir müssen wohl oder übel suchen."
„Nein, müssen wir nicht", erwiderte Miri zur allgemeinen Überraschung. „Als ich in den See geschmissen wurde, habe ich etwas am Grund erkennen können. Sah sehr nach der Kiste aus."
John stand mit einem lauten Seufzer aus. „Ich bin eh schon nass. Gib mir den Schlüssel und ich tauche runter. Wenn du nichts dagegen hast."
Slayer hatte nichts dagegen und somit sprang John wenige Momente später mitsamt Schlüssel in den See.
Linda passte mit ihrem Bogen auf, dass keine gefährlich aussehenden Tiere dem Wasser zu nahe kommen würden. Allerdings schien alles freundlich gesinnt zu sein. Zumindest, bis John den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte. Plötzlich wurde das Wasser unruhig. Die Gefahr kam nicht vom Land, sondern befand sich bei John in den Tiefen. Linda konnte es von der Oberfläche aus schlecht erkennen, doch John bewegte sich auf einmal viel hektischer. Bestimmt hatte er auch kaum mehr Luft!
Dann sah sie, was los war: Etwas hatte Johns Beine gepackt! Er strampelte heftig, doch kam nicht davon los. Linda warf ihren Bogen beiseite und sprang ins Wasser. Miri wollte es ihr gleichtun, doch Slayer hielt sie zurück. Er trug ihr auf, gut auf die Umgebung zu achten und folgte Linda.
Der See war sehr warm und glücklicherweise klar genug, um relativ viel zu erkennen.
John trat dem Wesen, das ihn gepackt hatte, fest ins Gesicht, doch es ließ nicht los.
Linda schwamm nah zu ihm und griff nach den Armen des Wesens – es sah aus wie eine sehr hässliche Sirene, mit Algen auf dem Kopf statt Haar – und zog fest daran. Zu dumm, dass Linda kein Messer hatte!
Slayer war knapp hinter ihr und schob sie beiseite. Johns Wehrversuche wurden schwächer. Er verlor das Bewusstsein. Linda machte Slayer Platz, der seine Krallen ausfuhr und damit auf das Wesen einhackte. Es kreischte dumpf und ließ eilig von John ab, um wieder in der Dunkelheit zu verschwinden.
Linda ergriff John und zog ihn mit an die Oberfläche. Slayer beobachtete, ob das Wesen zurückkam, dann schwamm er ebenfalls nach oben.
Als sie das Wasser durchstießen, atmeten sie heftig. Miri schrie bei Johns Anblick auf. Gemeinsam hievten sie ihn an den Strand und versuchten es mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Linda schätzte, dass John schon oft gestorben war. Nach Slayers Geschichte über Alyn zu urteilen, sollte man nicht zu leichtfertig mit dem Tod und dem Respawn umgehen.
Hektisch blies Miri John immer wieder Luft durch den Mund und drückte seine Brust, bis er endlich hustete. „Gott sei Dank!", rief sie und umarmte ihn stürmisch.
„Ha-hab es...gefunden!", stieß John triumphierend hervor und hob eine kleine Schachtel in die Höhe. Slayer nahm sie und holte eine Karte heraus.
„Der Hinweis, der zur nächsten Kiste führt", erklärte er und hielt die Karte in die Sonne, um mehr zu erkennen. „Diesmal müssen wir nicht unter Wasser, aber dafür auf einen Berg."
„Oh nein!", jammerte John. „Ich hab doch Höhenangst! Warum bin immer ich das Opfer?"
Miri half ihm, aufzustehen. Zeit zum Ausruhen nahmen sie sich nicht, sondern folgtem dem Weg, der auf der Karte verzeichnet war. Linda hoffte inständig, dass sie sich nicht verlaufen würden. Die Sonne brannte mittlerweile wieder unerträglich und drang unangenehm durch ihren dünnen Mantel.
„Hast du eine Flasche Wasser für mich?", fragte Miri John nach einer Weile. Bis jetzt sah man Sanddünen um Sanddünen, aber nichts, das man als Berg bezeichnen könnte.
„Klar", antwortete John und öffnete sein Inventar. Er wählte die Wasserflasche, aber bevor er sie Miri übergab, fiel ihm etwas auf.
„Dieser Trank...der, den wir beim Frühlingsdate bekommen haben - warum wolltest du ihn nicht, Slayer?"
„Hast du dir die Beschreibung angesehen? Dann erübrigt sich die Frage."
John wählte den Trank an und las den Text, der erschien.
Auf einmal wurde er feuerrot und sagte kein Wort mehr darüber.
„Was ist es denn jetzt?", fragte Linda neugierig. Bei der Reaktion musste es ja etwas ganz Spezielles sein. Slayer hatte den Trank immerhin auch sehr energisch abgelehnt. Linda wollte es unbedingt wissen.
John stotterte. „Also...äh...er hat ein sehr besonderes Feature, über das ich natürlich noch nie nachgedacht habe, also, äh..."
„Jetzt sag schon", warf Miri ein. Johns ungewöhnliches Verhalten hatte nun auch ihr Interesse geweckt.
John warf Slayer einen hilfesuchenden Blick zu, der gekonnt ignoriert wurde.
John ergab sich seinem Schicksal.
„Also der Trank macht, dass ein Mädchen und ein Junge im Game etwas empfinden können, wenn sie...hmm....Pärchendinge tun."
Miri blieb schockiert stehen.
Linda hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.
Niemals hätte sie erwartet, dass es Slayer und John so peinlich war, über Beziehungstätigkeiten zu sprechen!
Aber noch absurder fand sie, dass es einen solchen Trank überhaupt gab.
„Da das nun geklärt ist", unterbrach Slayer die unangenehme Situation, „konzentrieren wir uns lieber auf unsere Aufgabe."
John tat nichts lieber als das und studierte übertrieben angestrengt den Weg auf der Karte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro