14
Nachdem Slayer sich an ein paar Gegnern ein Bild der aktuellen Fähigkeiten seiner Begleiter gemacht hatte, entschied er, in eine schwierigere Gegend zu wechseln.
Miri klebte die ganze Zeit an Johns Seite.
Slayer warf ihnen immer wieder einen zweifelnden Blick zu, sagte aber nichts.
Linda ignorierte er seit dem Frühlingsdate gestern die meiste Zeit über. Sollte er sich weiterhin so komisch verhalten, würde sie ihn zur Rede stellen.
Sie kamen an einem Tor an, das in einen großen Felsen gehauen war. Zwischen den Bögen schimmerte es blau wie an einem Respawnpunkt. Auf einem Schild neben dem Tor stand in geschnörkelter Schrift Nach Karun.
„Was wollen wir im Wüstenreich?", fragte John mit erhobenen Augenbrauen.
„Die Waffenquest machen. Ihr habt zu wenig Gold, um euch gute Waffen zu kaufen und die Quest ist zwar schwierig, aber mit mir sollte das kein Problem werden."
„Die Waffenquest ist ab Level 70! Ich bin Level 43...", meldete sich Miri zweifelnd zu Wort. „Und ich mag meinen Stab."
„Mit mir", wiederholte Slayer fest, „sollte das kein Problem werden."
Miri schob die Unterlippe vor und schwieg. John nahm beruhigend ihre Hand in seine.
Nacheinander gingen sie durch das Tor.
Linda griff unwillkürlich nach Slayers Arm. Ein starker Luftzug schien sie mitreißen zu wollen. Er warf ihr einen genervten Blick zu, aber ließ sie sich festhalten.
Nach wenigen Augenblicken war das Gefühl verschwunden. Die Gruppe trat aus dem Tor und fand sich umgeben von Sand und der prallen Sonne wieder. Links und rechts des Tores standen große Palmen, die den Neuankömmlingen wenigstens ein bisschen Schatten spendeten.
Wenige Kilometer entfernt erhoben sich ockerfarbene Häuser vor dem Horizont.
John wedelte sich Luft zu und Miri zog sich die dickste Lage ihres Gewands aus. Es war schrecklich warm. Das erste Mal war Linda sich bewusst, wie knapp ihre Rüstung war. So würde sie sich einen riesigen Sonnenbrand holen.
„Keine Sorge, wir müssen nicht so weit gehen. Die Quest finden wir in der Stadt da vorne. Kommt jetzt." Slayer zog sich nicht mal seinen Mantel aus.
In der Stadt war es erträglicher als in der offenen Fläche. Die quadratischen Häuser waren hoch genug, um die schmalen Wege zu beschatten, die kurvig durch die Stadt führten. Überall waren hübsche Brunnen aus Stein gebaut, in denen sich Spieler nass spritzen oder Wasserflaschen auffüllten. Die NPCs waren weniger farbenfroh. Sie trugen hauptsächlich hellbraune Leinen und Stoffschuhe. Sie hatten karamellfarbene Haut und angestrengte Gesichter. In einer solchen Gegend zu leben war mit Sicherheit eine Herausforderung, so wie in der echten Welt auch.
Im Vorbeigehen bewunderte Linda die verschiedenen Händler, die überall in der Stadt ihre Stände aufgebaut hatten. Viele boten fein gearbeiteten Schmuck an. Lindas Hand fuhr zu dem Amulett, das Slayer ihr vor einer gefühlten Ewigkeit gekauft hatte. Sie hatte fast vergessen, dass es die ganze Zeit an ihrem Hals hing. „Du wirst dich mutiger fühlen", hatte er gesagt, als er es ihr gegeben hatte.
Wenn Linda so darüber nachdachte, hatte sie tatsächlich kaum Angst vor irgendetwas in Anaia.
„Da sind wir schon", riss Slayer sie aus ihren Gedanken. Der Schmied arbeitete gerade an einem Langschwert. Schweiß tropfte von seiner Stirn und verdampfte auf dem Amboss.
Ein Spieler stand neben ihm und beobachtete den Schmied mit offenem Mund.
„Hallo", begrüßte Linda die beiden.
Der Spieler, ein junger Mann mit kohlschwarzem Haar und grasgrünen Augen, zuckte erschrocken zusammen. „Oh! Hallo! Mein Meister ist gerade beschäftigt." Dann sah er Slayer und trat einige Schritte zurück.
„Schon gut, Junge." Der Schmied legte das Schwert und seinen Hammer beiseite und wischte sich das Gesicht mit einem schmutzigen Tuch trocken.
„Was kann ich für euch tun? Wollt ihr etwas kaufen oder seid ihr für die Waffenquest da?"
„Die Quest", antwortete Slayer.
„Nun gut. Hab' ich mir gleich gedacht." Er zog einen Schlüssel aus seiner Arbeitsschürze und übergab sie Slayer.
„Ihr müsst zur Karun-Oase und dort die erste Kiste finden. Der Schlüssel öffnet sie. In der Kiste sind die Hinweise für die weitere Suche. Sobald ihr alle versteckten Schätze gefunden habt, bringt sie mir und ich mache euch als Belohnung die besten Waffen in ganz Karun! Ich würde mir die Schätze ja auch selbst holen, aber...nun ja..." Er wies auf sein Bein und hob seine Stoffhose an. Ein Holzbein.
„Kein Problem", versprach John überzeugt, „Wir holen dir deinen Schatz."
Bevor sie zur Karun-Oase aufbrachen, bestand Linda darauf, einen Umhang als Sonnenschutz zu besorgen. Sie wählte einen günstigen Umhang aus hellem Stoff, den sie sich selbst leisten konnte. Slayer hatte schon genug für sie gezahlt. John und Miri kauften leckere Früchte für alle und füllten den Wasservorrat an einem Brunnen auf. Jeder nahm einen Teil in sein Inventar.
Als sie die Stadt schließlich verließen, war es bereits Nachmittag. Die Nacht würde kalt werden, hatte der Schmied sie noch gewarnt, bevor sie losgegangen waren. Umso besser, dass Linda sich den Mantel besorgt hatte.
Miri und John unterhielten sich ausgelassen. Da Slayer wie immer schweigend an der Spitze voran ging, gesellte Linda sich zu ihnen.
„...und dann hat er mir gesagt, dass ich am besten ausziehen soll und mich nie wieder blicken lassen soll. Nur, weil ich kein Anwalt werden wollte. Oh man!"
„Ist ja voll übertrieben. Meine Ma hat mir immer gesagt, ich soll das tun, was mich glücklich macht. Deswegen bin ich Kindergärtnerin geworden."
Neugierig hörte Linda dem Gespräch zu. John war also ein Junge aus einer strengen Familie, die Wert auf Bildung legte und Miri hatte eine liebevolle Mutter.
„Ihr redet ja über euer echtes Leben", sagte Linda. „Ich dachte, das darf man hier nicht?"
John grinste verlegen. „Es ist nicht so, dass man es nicht darf. Aber man tut es eigentlich nicht. In Anaia soll man ja frei von seinem realen langweiligen Leben sein."
„So langweilig ist es ja gar nicht, wenn ihr euch sogar darüber unterhaltet", entgegnete Linda. „Man sollte sein echtes Leben nicht aufgeben, nur weil man ein zweites Leben in Anaia haben kann. Eine gesunde Mischung wäre perfekt, wenn es Anaia unbedingt geben muss. So, wie die Wirtschaft gerade aussieht und immer mehr Menschen einfach dehydrieren und in ihren Betten sterben - so gibt es überhaupt keine Zukunft für uns. Das alles hier -" Sie schwang ihre Hand durch die Luft „- ist nicht für die Ewigkeit."
„Du hast ja Recht", sagte John und seufzte. „Aber das Leben hier macht schon echt süchtig. Es ist viel besser, als sich um Geld und Job Gedanken machen zu müssen."
„Ja", warf Miri ein, „Ich sehe es ähnlich wie John. Aber du hast schon auch Recht, Erynah. Das echte Leben sollte nicht in Vergessenheit geraten. Ich mochte meinen Job total. Es macht mir Angst, darüber nachzudenken, nie wieder echte Kinder betreuen zu können. Ich frage mich, was überhaupt aus ihnen geworden ist...Wahrscheinlich sind ihre Eltern die meiste Zeit in Anaia oder haben ihren Job verloren und leben in Armut vor sich hin."
„Es ist, als hätte die Welt auf Pause gedrückt", überlegte Linda „Aber alles verfällt langsam und stetig. Die armen Menschen, die Anaia nicht spielen, leiden total - Großeltern, kleine Kinder, einige Ärzte..." Sie dachte an Luc, Janices Familie, ihre Mutter und die Mitarbeiter in Lucs Krankenhaus und überall sonst auf der Welt. Alles, was sie zu sehen bekommen, ist Tod und Hilflosigkeit.
„Eigentlich bringt Anaia überhaupt keine Vorteile außer für die kranken Menschen, die es am Laufen halten." Sie schwiegen für eine Weile betroffen.
„Linda Veniers, Frankreich", sagte Linda dann in die Stille.
„Roana Dunn, Schottland", erwiderte Miri leise.
John rang mit sich. „Lucero Navarro, Spanien."
Linda wurde warm vor Freude. Die Gruppe wurde von einer Ansammlung von Phantomen zu so etwas wie Freunden oder Vertrauten, die endlich mehr verband als nur Anaia.
Die drei sprachen nicht mehr, doch sie spürten es alle.
Und dann sagte Slayers raue Stimme genervt und ohne sich umzudrehen: „Dean Evans, Nordamerika."
John und Miri starrten sich perplex an, während Linda ein ungewohntes, aber schönes Gefühl in ihrem Inneren spürte. Slayer sah sich auch als Teil der Gruppe, auch wenn er sich immer so distanziert gab. Vielleicht hatte er nur Angst, sich zu sehr an jemanden in Anaia zu binden?
Linda wollte ihm beweisen, dass es nichts Schlechtes daran gab, sich aufeinander zu verlassen.
Noch vor dem großen Event sollten Slayer, John und Linda ein gutes Team werden. Dies war wichtiger, als ein hohes Level zu erreichen.
Den Rest des Weges unterhielten sie sich nicht mehr über ernste Themen. Miri erklärte John einige ihrer Zauber und deren Wirkung. Linda ging neben ihnen her und betrachtete die eintönige Landschaft. Dann sah sie, dass zwischen den Dünen etwas Blaues glitzerte. Die Oase!
Sie erreichten das Wasser und kühlten sich erst einmal erleichtert ab.
Die Sonne war fast ganz untergegangen und die Luft war nicht mehr so schwül.
„Wir sollten erst suchen, wenn es wieder heller ist", schlug Slayer vor. „Nachts sind gefährlichere Kreaturen unterwegs. Ich suche einen Platz zum ausruhen."
Er fand eine kleine Höhle am Wasser, in der sie übernachten konnten. Sie endete mit einer Felswand und hatte keine sichtbaren Löcher, aus denen Monster schlüpfen könnten.
„Ich bin echt erschöpft", verkündete John und gähnte ausgiebig. „Ich glaub, ich leg mich direkt hin. Gute Nacht." Er verzog sich in die Höhle und wickelte sich in einen dicken Mantel ein, den er aus seinem Inventar holte. Miri ging ebenfalls hinein und legte sich neben ihn hin. Sie flüsterten eine Weile, dann loggte Miri sich aus. John nicht. Er schlief schnell ein.
Slayer saß am Wasser und beobachtete die leichten Wellen, die der Nachtwind über den See wandern ließ.
Linda setzte sich zu ihm.
„Dean. Ein wirklich schöner Name. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe aber irgendwie etwas weniger... Normales."
„Vor einiger Zeit hieltest du mich noch für einen Zwölfjährigen oder eine alte Frau. Ich bin nur ein normaler Jugendlicher, wie ihr auch." Er warf ein Steinchen in den See. „Ich wünschte, ich hätte euch nie getroffen. Es geht niemanden etwas an, wer ich bin. Aber jetzt seid ihr da und ich fühle mich für euch verantwortlich."
„Wir sind mehr oder weniger freiwillig hier. Sieh uns nicht als deine Bürde, sondern als dein Team. Vielleicht sogar Freunde, wenn wir uns besser kennen."
Slayer sah sie an und das erste Mal sah Linda so etwas wie Hilflosigkeit in seinem Blick.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann", gestand er. „Ich habe nie Freunde gebraucht. Ich habe ein Ziel und das muss ich alleine erreichen."
„Wir haben auch Ziele. Und im Grunde haben wir alle etwas gegen Anaia, das hast du ja mitbekommen. Wenn du es also zerstören möchtest, stehen wir drei dir bestimmt nicht im Weg. Mindestens bis zum Event und währenddessen können wir dir helfen. Was du danach tun möchtest, liegt bei dir."
„Ich glaube, das Event wird das Ende sein. Ich bin Level 97, es fehlen nur noch drei Level. Das Event wird groß genug sein, um mich auf Level 100 zu bringen. Dann ist es soweit."
Linda knetete ihre Hände. „Wenn du dann gewonnen hast... dann bekommst du das Geld. Du hast mal gesagt, du willst es nicht. Weißt du, was du damit anstellen wirst?"
„Keine Ahnung. Vielleicht kommt es ja gar nicht dazu, dass ich dieses blöde Geld kriege. Wir werden sehen, was passiert."
„Okay. Ich sollte jetzt schlafen. Ich möchte nach meiner Mutter sehen."
Linda ging in die Höhle.
Miri lag bewegungslos da, seit sie sich ausgeloggt hatte. John rollte sich hin und her und atmete ganz normal.
Linda breitete ihren Mantel an der Wand aus und legte sich hin. Es war furchtbar kalt auf dem Boden. Sie würde morgen früh wahrscheinlich total steif gefroren aufwachen. Egal. Sie klopfte sich gegen die Stirn und erwachte.
Diesmal gab sie sich nicht sofort dem Schlaf hin, sondern ging ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter sie mit großen Augen ansah.
„Linda, wie...wie geht es dir?"
„Alles in Ordnung. Es läuft ganz gut. Wie geht es Luc?"
„Es...geht." Emma behielt Lucs immer schlechteren Zustand vorerst lieber für sich.
Linda setzte sich neben ihre Mutter und nahm sie in den Arm. Sie fühlten sich beide schwach. So schwach. Schweigend saßen sie eine Weile da, dann schliefen sie ein.
Linda träumte, wie sie mit Roana, Lucero und Dean lachend auf einer weiten Wiese saß und Anaia weit hinter sich gelassen hatte. Luc spielte glücklich mit einem kleinen Rennauto. Die Sonne wärmte sie angenehm und der Wind trug ihr Lachen in die Ferne. Sie fühlten sich unbeschwert.
Als Linda wieder aufwachte, hatte sie Tränen in den Augen. Emma war noch im Tiefschlaf. Linda löste sich behutsam von ihr und aß ein kleines Frühstück. Dann legte sie sich ins Bett und zog das Virtual Headband wieder an.
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