Szene 9
Ich spiele Geige, spüre das Holz in meiner Hand und die Saiten unter meinen Fingern. Der Bogen gleitet auf und ab und erzeugt einen herrlich sanften, aber zugleich kräftigen Ton. Neben mir sitzt Felix, das Cello in der Hand und lächelt mir zu. Das Stück, das wir spielen, habe ich noch nie gehört, aber es ist wunderschön. Auf einmal wird die Tür aufgestoßen und Basti stürmt herein.
"Bettie, du bist so verlogen!, brüllt er. "Ich habe dir alles geglaubt. Ich habe dir sogar geglaubt, du würdest mich lieben. Steh jetzt endlich auf!"
Verschlafen blinzele ich. Jemand rüttelt an meiner Schulter.
"Hey mein Mädchen, ich glaube, du solltest los, die Schule beginnt in einer halben Stunde."
Oh, verdammt. Sofort beginnt mein Gehirn zu rotieren und die gestrige Katastrophe bricht wieder über mir herein. Basti. Wir haben Schluss gemacht. In ein paar Tagen schreibe ich Abitur. Ich bin zu spät. Verdammt.
Mit einem Stöhnen rolle ich mich aus dem Bett, um ins Bad zu tapsen. Mein Vater ist schon wieder nach unten verschwunden, hoffentlich hat er mir vom Frühstück etwas übrig gelassen, wenn er überhaupt etwas gegessen hat. Eine Stärkung wäre zumindest für mich gerade heute nicht schlecht.
Es graut mir vor den nächsten Stunden. Zuallererst muss ich meinen Freundinnen erklären, warum zwischen mir und Basti Schluss ist. Dann muss ich meinem Exfreund aus dem Weg gehen und wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, tut das weh. Eigentlich tut es gewaltig weh. Ich hätte gedacht, dass Basti mir treuer wäre. Wobei... Wäre ich ihm denn für immer treu gewesen? Das Bild von Felix schießt mir wieder durch den Kopf, wie er, das Cello in der Hand, zu mir auflächelt. Ich habe mich so frei gefühlt in diesem Traum, als wäre alles möglich.
Ich binde meine Haare zu einem festen Knoten hoch. Sie beginnen sich schon wieder zu locken, das nervt wirklich, doch zum Glätten habe ich keine Zeit mehr. Ich schminke mich in Rekordgeschwindigkeit und putze die Zähne. Dann laufe ich mit meiner Schultasche nach unten und hoffe, dass ich etwas Essbares finden werde, sonst wird der Tag noch richtig übel enden. Fröhlicher Mittwoch.
"Was ist passiert?", begrüßt mich Nora.
Natürlich hat sie sofort gemerkt, dass etwas vorgefallen ist und es ihr zu verschweigen wäre unsinnig, denn früher oder später wird sie eh herausfinden, was passiert ist.
"Mit mir und Sebastian ist Schluss." Meine Therapeutin runzelt die Stirn.
"Ich fürchte, du musst mich aufklären. Es lief doch so gut, dachte ich."
Mit einem Seufzer setze ich mich auf meinen Stuhl und nehme mir erst einmal einen Keks. Während ich kaue, überlege ich mir eine Strategie. Ich darf ihr nicht zu viel verraten, denn genau genommen habe ich ihr in den letzten Wochen eine Menge verschwiegen.
"Na ja...", beginne ich zögernd. "Basti hat irgendwie alles herausgefunden, das mit mir und was passiert ist. Aber er hat es nicht wirklich verkraftet."
"Und wie geht es dir?"
"Ich bin ein bisschen durch den Wind, die Schule war heftig."
Oh ja, das war sie. Der schlimmste Moment war, als ich Johanna und Sabrina in der ersten großen Pause berichtete, dass Basti die Beziehung mit mir beendet hatte. Ich erzählte ihnen, Basti hätte mir gesagt, wir hätten uns auseinander gelebt. Meine Freundinnen konnten das natürlich gar nicht nachvollziehen und ich hatte versucht, ihnen mit Argumentationsketten, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, die Geschichte glaubhaft zu verkaufen. So eine tolle Freundin war ich.
Basti begegnete ich im Unterricht. Ständig spürte ich seine Blicke auf mir ruhen, seine Gedanken waren so laut, dass ich mich wunderte, wie sich alle anderen noch auf den Unterricht konzentrieren konnten. Ich schaffte es, ihn weitestgehend zu ignorieren, immerhin war es seine Entscheidung gewesen, mit mir Schluss zu machen. Dann musste er auch mit den Konsequenzen leben.
"Elisabeth?" Nora holte mich aus meinen Gedanken.
"Entschuldige, wie war das gleich?"
"Und wieder einmal wünschte ich, ich könnte Gedanken lesen.", seufzt Nora.
Ich glaube, ich bin eine schwierige Patientin und nicht zum ersten Mal bewundere ich Nora für ihre hartnäckigen Versuche, mich zu verstehen.
"Wie geht es Thomas?", fragt sie. Na ja, anscheinend geht es doch nicht immer nur um mich.
"Warum fragst du mich das immer?" Diese ewige Fragerei über meinen Vater macht mich langsam misstrauisch.
"Man merkt immer sofort, wenn ihr euch gestritten habt. Wenn es ihm gut geht, überträgt sich das auch auf dich. Wahrscheinlich ist dir diese Tatsache gar nicht bewusst."
Nachdenklich lehne ich mich zurück.
"Er ist schwierig.", murmele ich nach einem Augenblick. Tatsächlich fällt es mir manchmal leichter, über meinen Vater zu reden, als selbst mit unangenehmen Themen auszurücken. "Er trinkt, er isst nicht, er vergräbt sich in seine Arbeit. Und vorgestern..." Ich muss kurz schlucken.
"Wir haben uns gestritten. Ich habe ihm gesagt, dass ich in München BWL studieren möchte. Er ist völlig ausgerastet, hat mich angeschrien, was denn nun aus meinem Musikstudium geworden ist..." Es fühlt sich besser an, nachdem es einmal raus ist.
Nora stützt den Kopf in die Hände.
"Ihr habt also endlich mal darüber geredet. Die Reaktion hatte ich befürchtet, aber er wird sich damit abfinden müssen, auf die ein oder andere Weise."
Ich nicke, denn mal wieder hat sie Recht.
Den Vorfall mit Jakobs Geige verschweige ich ihr. Das ist ein Problem, was ich alleine lösen werde. Die Geige wird nicht in andere Hände fallen. Denn auch das ist eine Tatsache, mit der sich mein Vater abfinden muss - auf die ein oder andere Weise.
Die nächste halbe Stunde versucht Nora herauszufinden, wie ich mit der Trennung von Basti umgehe. Schließlich kommt sie wohl zu dem Schluss, dass ich selbst nicht weiß, was ich empfinden soll. Daraufhin sprechen wir über die anstehenden schriftlichen Prüfungen.
Kurz bevor Nora mich entlässt, drückt sie mir einen Zettel in die Hand. Als ich darauf schaue, steht dort in feinsäuberlicher Handschrift ihr Name und darunter eine Telefonnummer. Fragend schaue ich sie an.
"Gib das deinem Vater.", meint sie schulterzuckend. "Sag ihm, er soll mich anrufen, sonst stehe ich irgendwann noch persönlich bei euch auf der Matte."
Grinsend unterdrücke ich einen Kommentar, der sicher die Punkte "strategisch geschickte Männersuche" und "berufsverbindend" beinhaltet hätte.
"Ja, ich sags ihm. Bis nächste Woche." Mit einem kurzen Wink verlasse ich den Raum.
Mein Herz klopft, als ich mein Fahrrad zu Hause in der Garage abstelle. Ich muss mit meinem Vater reden, es führt kein Weg daran vorbei. Eigentlich hätte ich das schon vor zwei Tagen tun sollen, aber... ja... Es ist nun mal so gekommen, wie es kommen musste.
Verwundert stelle ich fest, dass in der Küche Licht brennt. Ich schließe die Wohnungstür auf und betrete den Flur.
"Hi mein Schatz", begrüßt mich mein Vater. "Ich habe etwas zu Essen gemacht, ich hoffe, du hast Hunger."
Verwundert stelle ich meine Tasche ab und ziehe mir die Schuhe aus.
"Ja, ich hab riesigen Hunger. Danke."
Misstrauisch folge ich ihm in die Küche und sehe, dass er Spaghetti mit Carbonara Soße gekocht hat. Erfreut setze ich mich zu ihm an den Tisch und verteile die Nudeln auf unseren Tellern.
"Wie komme ich zu der Ehre?", frage ich grinsend.
Verlegen schaut mich Thomas an. In aller Ruhe wickele ich die Spaghetti auf und fange an zu essen. Schließlich, nach drei Gabeln, rückt mein Vater mit der Sprache raus.
"Elisabeth, ich wollte mich bei dir entschuldigen. Natürlich darfst du das studieren, was du möchtest. Meine Reaktion war unangebracht."
Mit einem Nicken akzeptiere ich seine Entschuldigung. Jetzt wächst mein schlechtes Gewissen, denn kaum hat er mit mir Frieden geschlossen, werde ich ihn schon wieder mit dem nächsten unangenehmen Thema konfrontieren.
"Ich muss auch mit dir reden.", fange ich an.
Erwartungsvoll blickt mein Vater mich an.
"Es geht um Jakobs Geige. Willst du sie wirklich verkaufen?"
Thomas runzelt die Stirn. Dass ihm das Thema missfällt, ist nicht zu übersehen.
"Ja, ich werde sie verkaufen.", sagt er mit fester Stimme.
Nun macht sich wieder die Wut breit, die ich vor zwei Tagen gespürt habe, als Felix uns einen unerwarteten Besuch abgestattet hat. Genauso weiß ich, dass dieser Kampf nicht leicht zu gewinnen ist. Ich hole einmal tief Luft und sage es ihm direkt ins Gesicht.
"Ich will aber nicht, dass du seine Geige verkaufst."
"Hast du das zu entscheiden?" Ich merke, wie mein Vater langsam ärgerlich wird.
"Er war mein Bruder und ich denke, ich habe da genauso viel mitzureden wie du. Die Geige war sein Ein und Alles. Er hätte nicht gewollt, dass du sie an fremde Menschen verkaufst."
"Jakob ist tot. Ihn interessiert jetzt gar nichts mehr." Ich spüre den Schmerz körperlich, so sehr hat mir dieser Satz wehgetan.
"Das meinst du doch nicht ernst, oder?", flüstere ich. Mein Vater zuckt mit den Schultern, als wäre ihm das egal, doch sein Gesicht straft ihn Lügen.
"Sags mir, was ist der eigentliche Grund?", rufe ich wütend. Thomas Gesicht verzieht sich als würde er gleich anfangen zu weinen.
"Ich ertrag es nicht mehr.", bringt er schließlich gepresst hervor.
"Was denn?", frage ich verzweifelt.
"Jakobs Anwesenheit. Ich sehe den Koffer auf dem Schrank liegen jeden Tag und weiß, dass das Instrument nie wieder von ihm gespielt wird. Solange die Geige in unserem Haus bleibt, werde ich immer daran erinnert, dass unsere Familie kaputt ist. Jakob wird nie mit ihr in der Hand auf einer großen Bühne stehen und du anscheinend auch nicht."
Schweigend schaue ich ihn an.
"Ich würde ja gerne, aber ich kann nicht.", sage ich nach einer Weile leise. "Ich kann einfach nicht."
"Und warum? Warum kannst du nicht?", fährt mein Vater mich an. "Du bekommst die Geige, wenn du sie spielst. Wenn du wieder an die Hochschule gehst, werde ich sie nicht verkaufen."
Fassungslos schaue ich ihn an. Ist das sein Ernst? Eben hat er mir noch versichert, ich dürfe studieren, was immer ich wolle und jetzt das.
"Willst du mich erpressen?", schreie ich. "Was soll der Scheiß, ich verstehe es einfach nicht!"
"Du verstehst mich nicht? Ich glaube, ich habe es dir gerade erklärt. Weißt du, was ich nicht verstehe?" Ohne abzuwarten fährt er fort. "Du verteidigst seine Geige mit Händen und Füßen. Dabei warst du seit der Beerdigung nicht einmal mehr an ihrem Grab. Kein einziges Mal! Und da soll ich dir glauben, dir läge noch irgendetwas daran, was dein Bruder gewollt oder nicht gewollt hätte?"
Mit einem Ruck steht er auf, sodass sein Stuhl fast umkippt. Dann verlässt er die Küche. Wie in Trance esse ich meinen Teller leer.
Er hat Recht. Seit zwei Jahren war ich nicht mehr auf dem Friedhof, kein einziges Mal habe ich Blumen auf das Grab gelegt oder die Kerzen ausgetauscht. Dafür hat stets mein Vater gesorgt. Immer wieder hat er mich gefragt, ob ich mitkommen möchte, aber ich habe es nicht geschafft. Die Angst war zu groß, der Schmerz, den ich mit meinem neuen Leben so perfekt betäubt habe, würde zurückkommen. Ich bin einfach nur ein Feigling, mehr nicht. Es steht mir tatsächlich nicht zu, in irgendeiner Weise über Jakobs Eigentum zu entscheiden.
Mit versteinertem Gesicht räume ich die Spülmaschine ein und stelle die Reste in einer Schüssel in den Kühlschrank. Dann fällt mir Noras Zettel ein. Ich lege ihn auf den Tisch und kritzele schnell ein "Du sollst sie anrufen" neben die Nummer. Dann stapfe ich hoch auf mein Zimmer.
Es ist der dritte Tag, der in einer Katastrophe endet.
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