26: Ansichtssache
"Muss das sein?"
Meine Stimme ist leise und kraftlos während ich gegenüber von Inoichi in seinem Büro sitze.
"Ja. Ich will mit dir über heute morgen reden."
Nur zu gut erinnere ich mich an jede Einzelheit von vorhin, doch darüber reden möchte ich nicht.
Mit niemandem.
Nie wieder.
"Du musst wissen, dass ich mit euch allen ein Gespräch geführt habe. Allen außer Hidan, muss ich ehrlich zugeben, doch er schläft jetzt erst mal dank den Beruhigungsmitteln."
Ich senke meinen Blick auf die Hände in meinem Schoß.
"Aha...", murmel ich beinahe lautlos.
Zu wissen, dass man den Jungen mit Medikamenten vollgepumpt hat bis er bewusstlos geworden ist hinterlässt einen mehr als bitteren Nachgeschmack. Zeitgleich jedoch glaube ich nicht, dass er sich von selbst so schnell wieder beruhigt hätte.
Ich kann nicht aufhören darüber nachzudenken, was Deidara gesagt hat. Ich wusste bereits, dass Hidan sich selbst verletzt - oder es zumindest früher getan hat - schließlich habe ich schon ein paar Mal die Narben an seinen Armen gesehen. Doch nun zu erfahren, dass sein Vater ein gewalttätiger Alkoholiker ist und seine Mutter sich das Leben genommen hat...
Das stößt mich in ein emotionales Loch, aus dem ich nicht mehr heraus komme.
"Leider konnte ich auch nicht wirklich zu Sasori durchdringen.", überlegt Inoichi laut und ich beiße mir auf meine Unterlippe, kralle meine Finger in den Stoff meiner Jeans.
Sasori...
Ich sehe ihn noch immer vor mir während dem Gebrüll: Verzweifelt, verängstigt...
Ob sich seine Eltern wohl oft heftig gestritten haben? Ob er vielleicht der Grund dafür war? Ich kann mich erinnern wie Itachi einmal angedeutet hat, dass ihre Ehe nicht die Beste ist und ein psychisch labiler Sohn nicht wirklich zur Besserung beiträgt.
Das Loch, in dem ich sitze, scheint tiefer zu werden, die Wände immer näher zu kommen.
Ich kann nicht anders als augenblicklich auch an Deidara zu denken und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.
Haben ihn seine Eltern tatsächlich von Zuhause rausgeworfen? Weil er schwul ist?
Wie kann man nur so etwas herzloses tun? Etwas so abartig dummes?
"Woran denkst du?", will Inoichi wissen.
"An meine Freunde und daran, wie schwer sie es haben.", antworte ich ohne zu zögern.
Erneut spüre ich Tränen in meinen Augen brennen, doch blinzelnd versuche ich sie zurückzudrängen.
"An wen genau?"
"An alle. An Hidan, der wahrscheinlich nur angefangen hat sich selbst zu verletzen, weil ihm sein Vater das Gefühl gegeben hat nichts wert zu sein und er seine Mutter verloren hat, die für ihn vielleicht sein einziger Lichtblick war, es selbst aber nicht mehr ausgehalten hat mit einem Monster verheiratet zu sein. An Deidara, der allein wegen dem wer er ist, ausgegrenzt und beschimpft wird. Der nicht einmal von seiner Familie akzeptiert wird und sich wahrscheinlich mehr als ein Mal verzweifelt versucht hat zu ändern, nur um geliebt zu werden. Der sich wahrscheinlich selbst lang genug für sich selbst geschämt hat, sich selbst gehasst hat, nur, weil er anders ist und die Gesellschaft ihn das deutlich spüren lässt. Ich denke an Itachi, der mehr als alle anderen bereut was er getan hat und versucht unter Kontrolle zu bringen, was in seinem Kopf vor sich geht. Der gegen seine Ängste kämpft, Tag für Tag, um zurück zu seinem kleinen Bruder zu können und sich bei ihm zu entschuldigen. Ich denke an Sasori, der sich emotional so abgeschottet hat, dass er nicht einmal mehr merkt, wenn er jemandem wirklich etwas bedeutet. Dessen Eltern sich wahrscheinlich andauernd heftig vor ihm gestritten haben und er es nicht geschafft hat, sich dem zu entziehen. Der sich selbst die Schuld an ihren Auseinandersetzungen gibt und schließlich so verzweifelt versucht dem allen zu entfliehen, dass er versucht die Realität zu ändern, indem er sich einem Trugbild hingibt."
Während meiner Aufzählung kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Erst vereinzelt laufen sie mir inzwischen ungebremst über die Wangen, tropfen auf den Stoff meiner Jeans, in den meine Finger inzwischen so verkrampft sind, dass es schmerzt.
Doch dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, den sie alle ertragen müssen.
"Vergisst du nicht jemanden?", will Inoichi ruhig wissen.
Blinzelnd sehe ich auf, begegne seinem ernsten Blick.
"Ich weiß nicht, was ich von Nagato erzählen soll... Ich will einfach nicht glauben, dass die bösen Gerüchte wahr sind. Er ist verletzt, das weiß ich sicher. So sehr, dass er sich selbst jemanden geschaffen hat, der ihn beschützt.", sage ich wahrheitsgemäß und langsam schüttelt der Psychologe den Kopf.
Tief atmet er durch und lehnt sich in seinem Stuhl nach hinten.
"Wen hast du vergessen, Konan? Denk nach."
"W-wovon reden Sie?"
Verwirrt wische ich mir die Tränen von den Wangen, die ich noch immer nicht zurückdrängen kann.
"Durch deine enorme Empathie vergisst du die Probleme einer wirklich wichtigen Person. Du vergisst deine Probleme, Konan."
Für einen Moment ist es still in dem Büro und ich kann nicht anders, als den Psychologen eine Weile lang nur stumm anzustarren.
Meine Probleme...
Selbst, wenn sie im Moment nicht im Vordergrund stehen, so heißt das nichts. Sie lösen sich nicht einfach in Luft auf und dennoch bedrücken mich eher die Schwierigkeiten meiner Freunde.
Aber ich habe sie nie vergessen. Oder?
"Wie ich in unserer letzten Einzelsitzung bereits erläutert habe, schulterst du die Last von zu vielen Leuten. Und es werden immer mehr Probleme, die nicht deine sind, du sie aber zu deinen machst. Du musst lernen, dass du nicht jeden retten kannst. Nicht allen hier ist zu helfen. Das musst du akzeptieren. Es ist gut, dass du dich geöffnet und mir davon erzählt hast. Ich werde dir helfen daran zu arbeiten, die Lösung deiner Probleme in den Vordergrund zu stellen. Du bist wichtig, vergiss das nicht. Zerstöre dich nicht durch zu viel Empathie."
Beinahe schon belustigt schnaube ich bevor ich die Arme vor meiner Brust verschränke.
Er sollte lieber die andern unterstützen. Sie haben diese Hilfe nötiger als ich aber ich denke nicht, dass sie hoffnungslos sind.
Hat Inoichi meine Freunde etwa schon aufgegeben? Oder redet er von anderen Patienten?
"Meine Probleme sind nicht halb so wichtig wie die meiner Freunde.", sage ich und kurz scheint ein Funkeln in Inoichi's Augen zu treten.
"Ansichtssache."
"Tatsache.", widerspreche ich augenblicklich ohne den geringsten Zweifel, halte dabei dem Blick des Psychologen stand.
"Nicht halb so wichtig?", wiederholt Inoichi prüfend und ich nicke knapp.
"Also sind deine Probleme auch nicht so schwerwiegend?"
Erneut nicke ich nur als Antwort.
"Wie kommt es dann, frage ich mich, dass du dich umbringen wolltest?"
Stille breitet sich aus und nicht in der Lage etwas auf diese Frage zu erwidern, senke ich den Blick auf die Hände in meinem Schoß.
Ein beklemmendes Gefühl schnürt mir die Kehle zu und ich schlucke schwer, um dieses Bedrängen irgendwie zur Seite zu schieben.
Ich habe mich geirrt.
Mist.
Dieser Punkt geht an den Blonden, definitiv.
Es ist wohl wahr, dass ich meine eigenen Probleme zwischenzeitlich vergessen habe und dennoch fühle ich mich nicht leichter.
Im Gegenteil.
Er hat Recht: Ich schultere die Last meiner Freunde zusätzlich und lasse mich dadurch in ein Loch stoßen, welches tiefer und dunkler scheint als je zuvor.
Das heißt es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Möglichkeiten.
Ich kann auf den Psychologen hören, mich von den anderen abschotten und seine Hilfe annehmen, um meine Probleme zu lösen. Um gesund zu werden und zurück in ein Leben zu kehren, in dem Akina und Shun auf mich warten.
Ich kann auch meinen ursprünglichen Plan wieder aufnehmen, versuchen durch einen Trick hier raus zu kommen und mein Leben anschließend beenden.
Den Schmerz und alles andere hinter mir zu lassen.
Doch will ich wirklich einfach verschwinden und meine Freunde verlassen? Will ich sie verleugnen und selbstsüchtig nur an mich denken? Will ich feige vor dem Schmerz fliehen, der uns alle verbindet?
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