Kapitel 61: Der Angriff
Mit einem Mal konnten wir von oben ein lautes Rumpeln vernehmen. Es folgten laute Knalle.
Bei jedem Knall zuckten sowohl ich als auch Hendrík zusammen. Staub fiel von der Decke, langsam auch Bruchstücke vom Stein und vielleicht bildete ich es mir aus Angst nur ein, doch fühlte es sich ebenfalls so an, als würden Boden und Decke anfangen zu zittern.
„Was ist da los?!", rief Hendrík.
Ich hatte keine Ahnung. Ich brachte keinen Ton heraus. Angsterfüllt schaute ich nach oben und hoffte auf das Beste.
Friedo ging es gut. Was auch immer grade da oben passierte, es war nichts Schlimmes. Es durfte nichts Schlimmes sein.
„Vielleicht braucht er Hilfe!", sagte Hendrík.
Die Steinbrocken, welche durch die bebenden Wände auf uns fielen, wurden immer größer und nachdem mich einer von ihnen brutal am Arm traf, streckte Hendrík sofort seine Hände mit dem Buch über meinen Kopf und lockte mich in Richtung des Ganges, welcher zu Friedos Labor führte.
„Erstmal müssen wir uns schützen! Im Labor sind Tische, unter denen wir unsere Köpfe vor unnötigen Beulen bewahren können!", erklärte er.
Ich nickte leicht und folgte ihm ohne Hemmungen mit. Nur wenige Meter nach der Ecke führte der Gang auch schon in einen etwas größeren Raum. Eine groß ausgegrabene Höhle, mit mehreren Gegenständen darin. Öfen, verschiedene Gläser, Fässer und viele unfertige Experimente. Wäre ich vor den Explosionen hier schon rein gegangen, hätte mich der Raum vielleicht sogar beeindruckt.
An der hinteren Wand war ein kleines, zitterndes Regal, in welchem auch mehrere Bücher standen. Gleich davor war ein Tisch, auf welchem einige der schwungvollen Gläser platziert waren, welche Friedo uns auch in der Apotheke gezeigt hatte. So schnell wie wir konnten, krabbelten Hendrík und ich unter den Tisch und beobachteten, wie immer mehr Staub und Steinbrocken von der Decke rieselten.
Schwer atmend flüsterte ich: „Was passiert hier?"
Hendrík gab mir keine Antwort. Grade, als auf dem Tisch gegenüber von uns ein Glas von mehreren Steinen getroffen wurde und darauf laut zerbrach, hörten wir plötzlich Schreie.
„Lasst mich! Nein!"
Es war Friedos Stimme!
„Hier muss irgendwo ein Lüftungsschach sein.", stellte Hendrík fest. Ich konnte ihn unter den ganzen Knallen nur schwer verstehen.
„Was, wenn es wieder die Soldaten sind?", schrie ich.
Es dauerte, bis Hendrík mir antwortete. „Gut möglich."
„Und wenn sie Friedos Apotheke grade sprengen?"
Hendrík schaute mich erschrocken an. „Aber sie wollten erst abends wieder hier auftauchen!"
Er hatte recht. Auch wenn wir kein Tageslicht sehen konnten, war klar, dass höchstens ein paar Minuten, vielleicht auch eine Stunde, vergangen waren, seit wir in Friedos geheime Tunnel allein gelassen wurden. Wenn es wirklich die Soldaten waren, hatten sie sich nicht nur ihr Wort gebrochen, sondern planten auch, Friedo nicht den Hauch einer Chance zu geben, sich zu verteidigen. Sie zerstörten grade sein Haus. Und ihn dabei mit.
Es folgte ein letzter, lauter Knall. Im ganzen Raum schallte das Echo der erschreckenden Explosion, welche von oben gekommen war. Darauf blieb es ruhig. Fast so, als wäre nichts mehr übrig, was zerstört werden konnte.
Und dann hörten wir Friedos Stimme. Genau über uns. Ein Flüstern.
„Helft... mir."
Über meinen ganzen Körper bildete sich eine Gänsehaut. Seine Stimme hatte sehr schwach, sehr brüchig geklungen. Als hätte er seinen letzten Atem für diese Worte benutzt. Es beunruhigte mich, dass darauf nichts Weiteres folgte.
„Ist er..."
Ich wagte es nicht, den Satz zu beenden.
Hendrík drückte meine Hand.
„Es wird ihm schon gut gehen! Er ist Alchimist, verdammt nochmal! Dieser Kerl ist fünfzig und alle halten ihn für dreißig! Bestimmt hat er noch ein Ass im Ärmel, welches ihn retten kann!"
Ich wollte ihm gerne glauben. Zu gerne. Doch für Optimismus war es schon längst zu spät. Ich spürte einen stechenden Druck in meiner Brust, welcher sich immer weiter ausbreitete. Tränen versperrten mir die Sicht und im selben Augenblick, als mein ganzer Körper anfing zu zittern, sah ich das Gesicht meiner Schwester vor meinem inneren Auge.
Mein und Amadeus' Traum. Cassandra auf dem Schiff. Wie sie ohne Hilfe im Meer schwamm. Von Feinden umzingelt. Ganz allein. Sterbend.
Mein ganzer Körper sackte zusammen. Aus der unbequemen Hocke landete ich nun unsanft auf dem Boden. Ich wollte schreien. Doch irgendetwas sagte mir, dass dieser Luftschach, durch welchen Friedo uns zugeflüstert hatte, auch in die andere Richtung funktionierte und dies die Soldaten nur direkt zu uns führen würde. Ich wollte einfach nur schreien. Einfach nur weinen. Endlich ausbrechen. Aber ich durfte nicht.
Hendríks Präsenz war nicht mehr erkennbar für mich. Vielleicht sagte er grade etwas. Vielleicht versuchte er mich zu beruhigen, streichelte meinen Rücken, nahm mich in den Arm. Ich bekam nichts davon mit. Ich war in einem schwarzen Loch gefangen, dessen Schwärze sich immer weiter ausbreitete. Ab und zu kam ein kleiner Funke Licht hinein. Ein Funke weißes Licht, an welches ich mich verzweifelt versuchte zu Klammern. Doch bevor es mir helfen konnte, aus diesem endlosen, schwarzen Nichts zu klettern, verschwand es wieder. Es tauchte wenig später immer wieder auf, doch verschwand jedes Mal. Ich hatte das Gefühl, darin zu ersticken. Bis das Licht etwas länger blieb, lange genug, sodass ich wieder etwas von der Realität mitbekommen konnte.
„Ist sie verletzt?"
Erst hoffte ich noch auf Friedo, doch schnell erkannte ich, dass die Stimme weiblich war.
Sie klang besorgt.
Eine Stimme.
Eine weibliche Stimme.
Cassandra?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro