Kapitel 38
Aurora
Ausser Atem blieb ich schliesslich stehen und zwang so auch Aren, stehenzubleiben.
«Was ist?», fragte er mich.
In seiner Stimme war nicht einmal ein Hauch von Erschöpfung zu hören.
«Ich...Pause...», röchelte ich nur hervor.
Wir waren nun bestimmt eine halbe Ewigkeit unterwegs gewesen. Er nickte nur. Ich meinte, in seinem Blick so etwas wie Verachtung zu erkennen. Einbildung, sagte ich mir.
«Gehen wir noch ein Stück in den Wald hinein, so dass sie uns nicht finden können», sagte er. Auch wenn ich gar keine Energie mehr hatte, stimmte ich zu. Wir konnten ja wirklich nicht einfach auf dem Weg eine Pause einlegen.
Also gingen wir weiter. Wir mussten unser Tempo deutlich verlangsamen, da es nun überall grosse Äste und Steine auf dem Weg hatte, teilweise durch eine dünne Schneeschicht verdeckt, so dass man sie nicht sehen konnte. Wirklich hinterhältig. Mindestens zweimal konnte mich Aren in letzter Sekunde vor einem Sturz bewahren. Ich dachte, dass wir nur noch ein Stück weit gehen würden, aber Aren war ziemlich bestrebt, möglichst weit vom Weg abzukommen. Als er dann endlich anhielt, liess ich mich einfach auf den Boden fallen. Natürlich bereute ich es sofort, weil der Boden voller Schnee war und meine Kleidung nur teilweise wasserdicht. Sofort fing ich an zu zittern. Zum Glück hatte nicht viel Schnee auf dem Boden gelegen.
Wir suchten uns eine Stelle unter einem Baum aus, wo kein Schnee lag. Aus seinem Rucksack packte Aren zwei Decken und reichte mir eine davon. Dankbar nahm ich sie entgegen und kuschelte mich ein. Sofort wurde mir wärmer ums Herz. Ich ass noch etwas Trockenfleisch und lehnte mich dann gegen den Baum.
Gerne hätte ich noch über die Geschehnisse von heute nachgedacht und angefangen, sie zu verarbeiten. Aber der Schlaf überwältigte mich und ich schloss die Augen.
Als ich aufwachte, war Aren in derselben aufrechten Position wie am Abend zuvor. Hatte er überhaupt geschlafen? Die Sonne schien schon hoch über dem Himmel, es musste bald Mittag sein. Ich drehte den Anhänger an meinem Hals wieder auf die richtige Seite, da er sich über Nacht offenbar umgedreht hatte.
Aren beobachtete mich dabei mit fixierenden Augen.
«Das ist eine schöne Kette. Was ist es für ein Anhänger? Eine Blume?»
Augenblicklich erstarrte ich. Eine Blume? Ja, für jemanden, der den Anhänger noch nie gesehen hatte, könnte man denken, dass es sich um eine Blume handelte. Er war sehr klein und nur bei einer genauen Betrachtung konnte man erkennen, was es wirklich war. Aber er hatte mir den Anhänger selber geschenkt.
Mein Puls begann zu rasen. Nun war ich mir sicher: Das konnte nicht Aren sein. Ich konnte es mir auch nicht erklären. War das sein böser Zwillingsbruder? So unwahrscheinlich es auch klang, mir kam keine andere Erklärung in den Sinn. Mit zitternder Stimme antwortete ich langsam:
«Nein, es ist keine Blume. Es ist eine Schneeflocke.»
Er nickte. Er erinnerte sich tatsächlich nicht an den Anhänger. Ich musste weg hier, zurück zum Lager. Wahrscheinlich war die Geschichte von Meister Kontu sowieso nur ausgedacht.
Wir packten unsere Sachen ein und machten uns bereit zum Aufbruch. Mein Herz klopfte laut. Unauffällig versuchte ich, etwas hinter ihm zu laufen, um danach einen Vorsprung zu haben. Ich musste aber warten, bis wir zurück auf dem Weg waren, sonst würde ich bestimmt stolpern und die ganze Sache wäre gelaufen.
Wir betraten den Weg. Mein Kopf war voller Fragen und ich presste meine Hände zu Fäusten zusammen, damit sie nicht zitterten. Er schien nicht zu bemerken, dass sich ein immer etwas grösser werdender Abstand zwischen uns bildete, da er in Gedanken versunken schien. Dann gab es eine scharfe Kurve nach rechts. Das war meine Chance. Ich blieb stehen und wartete, bis er eingebogen war und ich für ihn nicht mehr sichtbar zu sehen war. Dann drehte ich mich um und ergriff die Flucht.
So schnell wie heute war ich glaube ich noch nie gerannt. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass es um Leben und Tod ging, was wahrscheinlich auch der Fall war. Aren oder eben nicht Aren hatte nun wohl auch bemerkt, dass ich nicht mehr da war, denn ich hörte ihn «Aurora!» schreien. Ich wusste selber nicht, wie das möglich war, aber ich beschleunigte meine Schritte. Trotzdem hörte ich hinter mir Schritte, die näher kamen.
Einen Moment war ich abgelenkt und schaute nicht auf den Boden. Dadurch stolperte ich und fiel auf meine Knie, die sowieso noch etwas angeschlagen waren wegen gestern. Scharf sog ich die Luft ein. Doch als ich hinter mich blickte, sah ich ihn, nur einige Schritte von mir entfernt. So schnell ich konnte, rappelte ich mich wieder auf und rannte weiter, den Schmerz, der meine Knie durchfuhr, ignorierend. Aber durch den Sturz hatte ich mich verlangsamt. Wenn ich auf dem Weg blieb, hatte er mich in wenigen Sekunden eingeholt. Also rannte ich verzweifelt weg vom Weg. Aber wie ich schon befürchtet hatte, stolperte ich unmittelbar danach. Es war steiler nach unten gegangen, als ich gedacht hatte. Ich rollte einige Meter hinab, bis ich mit voller Wucht gegen einen Baum knallte. Ich stöhnte und mein ganzer Körper schmerzte, aber ich war noch nicht bereit, aufzugeben. Gerade wollte ich mich aufrappeln, als ich sah, dass er direkt vor mir stand.
«Bleib weg von mir!», schrie ich ihn an.
«Aurora, was ist los?», fragte er mich, aber in seinem Blick erkannte ich, dass er eine Ahnung hatte.
«Du weisst genau, was los ist!», fauchte ich ihn an.
«Ich weiss nicht, wer du bist oder was du von mir willst, aber bleib mir gefälligst vom Leib!»
«Ich weiss wirklich nicht, was los ist», sagte er ruhig.
Er spielte seine Rolle gut, sehr gut sogar. Hätte ich einen anderen Grund gehabt, um ihn zu verdächtigen, wäre ich jetzt vielleicht unsicher geworden und hätte mir überlegt, ob ich wirklich recht hatte. Aber er hatte den Anhänger, den er mir selber geschenkt hat, nicht wiedererkannt.
«Der Anhänger da», sagte ich und berührte ihn dabei, «hast du mir geschenkt.»
Einen Moment lang blickte er mich verwirrt an, dann erkannte er aber seinen Fehler. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.
«Na gut, du hättest es sowieso bald erfahren», seufzte er. Es war die Stimme von Aren, aber der Ton, in dem er sprach, war ein ganz anderer. Viel kälter.
«Wer bist du?», fragte ich noch einmal feindselig, doch, ohne dass ich es gewollt hatte, auch ein bisschen neugierig und natürlich voller Furcht.
«Es ist wohl das einfachste, wenn ich es dir zeige», sagte er.
Ich wusste nicht, was er damit meinte und starrte ihn weiterhin unverwandt an.
«Und renn nicht weg. Ich hole dich sowieso wieder ein», sagte er, schon fast gelangweilt.
Dann trat er einen Schritt zurück und schloss seine Augen. Er begann, orange-rötlich zu schimmern, immer stärker, bis er fast gar nicht mehr zu sehen war, sondern nur seine Silhouette.
«Was zum...», flüsterte ich und wich zurück. Die Gestalt schien etwas zu schrumpfen und sich generell zu verändern.
Das Leuchten nahm ab und ich erblickte einen jungen Mann. Er war etwas kleiner als Aren, schien aber trotzdem um einige Jahre älter. Sein Haar war nicht schwarz, sondern dunkelbraun. Seine Augen waren nicht grün, sondern dunkelbraun. Er war dünner, sah fast kärglich aus, wäre da nicht dieser Blick in seinen Augen. Darin lungerte etwas Dunkles und Finsteres. Er trat einen Schritt auf mich zu und berührte mich leicht an der Wange. Seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben und ein Lächeln kam zum Vorschein.
«Nun treffen wir uns endlich, meine liebe, kleine Schwester.»
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