Kapitel 3
Aurora
Ich sprang blitzschnell auf. Vor Schreck liess ich den Eimer fallen, den ich gerade aus dem Wasser gezogen hatte und er fiel scheppernd zu Boden. Das markdurchdringende Brüllen wurde lauter und unter mir zitterte der Boden. Und dann sah ich es.
Es war ein gigantisches Wesen, mit zwei riesigen Klauen, auf denen es stand. Der Rücken war von Zacken übersät, jeder bereit, mich aufzuspiessen. Im Vergleich zum Körper war der Kopf relativ klein, auch wenn er immer noch drei Mal so gross war wie ich. Seine Haut war von einem Grün durchzogen. Aber nicht das schöne, leuchtende Grün von frischem Gras, sondern ein dunkles, das fast schon in ein Braun hinüberging. Es sah giftig, verseucht aus. Was zur Hölle war das für ein Monster?
Verstört starrte ich das Wesen an. Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas gesehen. Ich hatte immer gedacht, dass es einfach Menschen und Tiere gab. Pferde, Schafe, kleine süsse Kätzchen mit weichem Fell, welche man am liebsten nie mehr loslassen würde... Na toll, ich würde wahrscheinlich bald von diesem Ungeheuer getötet werden und ich dachte an kleine süsse Kätzchen. Zusammenfassend und meine kleine Ausschweifung zu Kätzchen ignorierend, war das, was hier vor mir stand, war auf jeden Fall weder ein Tier, noch ein Mensch.
Während ich wie festgefroren dastand, flogen meine Gedanken wirr durcheinander. Verzweifelt versuchte ich, mich etwas zu beruhigen, da ich das Gefühl hatte, dass ich gleich einen Herzinfarkt bekam.
Vielleicht träumte ich einfach. Alles nur ein Traum. Ein kleiner, unbedeutender, etwas unheimlicher Traum. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass ich in meinem Traum realisieren würde, dass ich träumte. Und wie erkannte man einen Traum? Dinge, die in der Realität nicht existierten, kamen vor. Und das existierte bestimmt nicht in der Realität. Aber trotzdem raste mein Puls immer schneller, denn mir war klar, dass ich nicht träumen konnte: Denn nicht einmal in meinen wildesten Träumen würde ich auf so etwas kommen. Immer noch starrte ich das Wesen an, dass unaufhörlich näher kam. Kein Traum also. Die eiskalte Realität. So etwas konnte auch nur mir passieren. Ich lebte im wohl verlassensten und abgeschottetsten Ort der Welt und irgendein nicht Tier und auch nicht Mensch beschloss, genau zu mir zu kommen.
Aber ich dachte: Wenn schon die schlimmste Situation, welche ich mir vorstellen konnte, eingetroffen war, konnte es ja wenigstens nicht noch schlimmer werden. Daraufhin begann das Monster Feuer zu speien. War ja klar gewesen. Ja, Aurora. Sarkasmus wird dir jetzt weiterhelfen.
Immer noch stand ich wie gelähmt da, konnte mich keinen Millimeter bewegen und nur mit Mühe nachvollziehen, was da gerade geschah. Irgendetwas stand da vor mir, das nicht von diesem Planeten zu kommen schien und es spie sogar noch Feuer! Feuer! Das Wort hallte in meinem Kopf wieder. Nun begann das Monster, alles, was ihm in den Weg kam, in Brand zu setzen: Zuerst den alten Schuppen, dann den Stall mit all den Tieren. Meine Augen weiteten sich und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Nicht die Tiere! Nicht die Tiere, welche zu meinen nächsten Vertrauten herangewachsen waren. Nicht die Tiere.
Ich meinte, gequälte Schreie zu hören, darunter ein letztes, verzweifeltes Wiehern meiner Stute, hoffte aber, so unwahrscheinlich es auch war, dass ich mich verhört hatte.
Und dann brannte es unser Haus ab. Es war kein langsames Feuer, das sich nach und nach ausbreitete. Im einen Moment war das Haus heil und sah aus wie sonst auch immer. Und im nächsten Moment war es von Feuer umgeben. Es frass sich durch all die Schichten von Holz in Sekundenschnelle durch und es dauerte nicht lange, bis das Haus in sich zusammenbrach. Zeitgleich zerbrach etwas, tief in meinem Inneren. Ich spürte eine Leere, die sich in mir ausbreitete und sich wahrscheinlich nie wieder würde füllen lassen. Eine Leere der Einsamkeit und der Verzweiflung. Was war mit meiner Mutter? War sie verletzt? Und dann bannte sich eine neue Frage auf, welche ich fast nicht zu stellen wagte: Lebte sie überhaupt noch? Doch nachdem ich diese Frage gestellt hatte, in Kombination mit dem Haus, dass am Niederbrennen war, war es, als ob ein Schalter umgelegt worden war. In diesem Moment, wo die meisten, von Schmerz überwältigt, ohnmächtig zu Boden gesunken wären, in diesem Moment war das einzige, was ich spüren konnte, Wut. Wie konnte das Monster es wagen, unser Zuhause anzugreifen? Uns alles zu nehmen, was wir hatten? Wir hatten ihm nichts angetan und trotzdem war es jetzt gerade damit beschäftigt, unser Leben zu zerstören.
Und so rannte ich darauf zu, spürte, wie die Wut bei jedem Schritt stärker wurde. Ich stand nun fast unmittelbar vor ihm, als es mich zu bemerken schien.
«Du bist dann wohl Aurora», sagte es mit einer tiefen und lauten Stimme. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas Schrecklicheres gehört als diese grausame Stimme. Ich stand wie angewurzelt da. Und was genau war dein Plan gewesen, Aurora? Willst du das Monster anschreien und beten, dass es sich in Luft auflöst? Oder noch besser, hoffen, dass sich der Boden unter ihm auftat und er in die Hölle zurückgesandt wurde, aus der er zu kommen schien? Langsam kam das Monster näher und ich sah vor meinem geistigen Auge schon die verschiedenen Möglichkeiten, wie ich nun sterben könnte und höchstwahrscheinlich auch würde: Ich könnte von den Stacheln aufgespiesst, von seinen spitzen Zähnen durchbohrt, von seinem Feuer verbrannt, oder auch einfach von ihm zerstampft werden. Mein Herz schlug schneller, immer schneller und ich schloss die Augen. Der Boden unter meinen Füssen erzitterte, kleine Steinchen wurden bei jedem seiner Schritte in die Höhe katapultiert.
Ich versuchte, Frieden mit dem Tod zu machen. Ihn zu begrüssen. Ihm meinen Körper zu überlassen. Aber ich konnte nicht. Ich wollte nicht sterben. Noch nicht heute. Noch nicht jetzt. Und dann spürte ich es. Etwas, tief in meinem Inneren, begann sich zu bewegen.
Es war eine angenehme Wärme, ein leichtes Kribbeln, das sich von meinem Herzen in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ehe ich selbst verstand was passierte, schoss ein Strahl aus meinen Händen, direkt auf das Monster zu. Ich hatte das Gefühl, dass nicht ich selbst, sondern die Kraft mich steuerte. Es fühlte sich an, als ob in mir etwas erwacht war.
Der Strahl traf das Ungeheuer auf der Brust und es wurde nach hinten geschleudert. Dort blieb es auf dem Boden liegen und rührte sich nicht mehr. Von seiner Brust war nicht mehr viel übrig, man sah nur noch verbranntes Fleisch und ein grosses Loch, welches sich durch das Monster gefressen hatte. Die Ränder waren zerfranst und Blut, jede Menge Blut, floss von dem Monster den Hügel hinab, bis es sogar auch meine Schuhe berührte. Einen Moment blieb ich stehen und versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war. Doch dann fiel mir meine Mutter ein. Sie war noch in dem brennenden Haus!
Ich rannte den Hügel hinauf, so schnell ich konnte. Doch vor unserem Haus blieb ich stehen. Es war in sich zusammengebrochen und an mehreren Orten wütete noch das Feuer. Der Rauch war schon früher zu riechen gewesen, doch nun spürte ich, wie er mir in die Augen kam und ein stechendes Brennen hinterliess. Ich versuchte, meinen Arm schützend vor meine Augen und meinen Mund zu legen, senkte ihn aber gleich wieder, da es nicht viel zu nützen schien. Und dann sah ich sie. Meine Mutter. Für eine Sekunde blieb mein Herz stehen.
Mittlerweile, ohne, dass ich es wirklich gemerkt hatte, hatte es zu regnen begonnen.
Sie lag am Boden, von Trümmern umgeben. Ich rannte zu ihr und setzte mich neben sie. Ihr Gesicht war von Russ geschwärzt und an ihrer Schläfe klebte Blut.
«Mutter!», schrie ich.
Ich rüttelte sie, so fest ich konnte, doch sie bewegte sich nicht. Ich dachte schon, dass sie tot war, als auf einmal ihre Hand leicht zuckte, und ihr Gesicht sich schmerzverzerrt zusammenzog. Obwohl ihr Zustand nicht gerade beneidenswert war, durchströmte mich pureErleichterung.
«Du lebst!», schrie ich atemlos.
«Aurora», sagte sie mit erstickter Stimme. Daraufhin begann sie zu husten. Ihre Stimme klang merkwürdig kratzig.
«Du darfst jetzt nicht sprechen, du bist zu schwach!»
Ich drückte ihre Hand, um das gerade gesagte zu untermauern. Doch sie ignorierte mich und sprach mit langsamer, leiser Stimme weiter.
«Was auch immer du über unsere Familie herausfinden wirst, denk daran, dass ich dich immer geliebt habe und nur das Beste für dich wollte.» Ich schaute sie verwirrt an. Obwohl ich nicht wollte, dass sie weiterredete, damit sie sich schonen konnte, zwang mich meine Neugierde doch dazu, genaueres über das, wovon sie sprach, zu erfahren.
«Wovon sprichst du? Was werde ich über meine Familie herausfinden?» Doch sie antwortete nicht auf meine Frage. Stattdessen fuhr sie fort:
«Deine Kräfte sind stark.»
Während sie sprach, bewegten sich ihre Mundwinkel leicht nach oben. Ich wagte es nicht, sie zu unterbrechen, da sie wahrscheinlich sowieso nicht auf meine Fragen eingehen würde und den Versuch, sie am Sprechen zu hindern, war auch gescheitert.
Und so sprach sie weiter:
«Du musst jetzt gehen. Es werden noch mehr kommen.»Und mehr zu sich, als zu mir sagte sie noch:
«Du wirst sie schon finden.»
Zuerst starrte ich sie nur verwirrt an. Warum brauchte sie das Wort «du» und nicht «wir»? Als ich realisierte, was sie mir damit sagen wollte, sah ich sie entsetzt an.
«Ich verlasse dich doch nicht», sagte ich entrüstet.
«Wir gehen zusammen von hier weg.»
«Du musst gehen», sagte sie mit eindringlicher Stimme und sie blickte mir direkt in die Augen.
«Nein, das muss ich nicht und das werde ich auch nicht», sagte ich in fester Stimme. Sie sollte da gar nicht erst auf falsche Gedanken kommen.
«Aurora.»
Sie sagte nur das eine Wort. Aber mit so viel Verzweiflung und Eindringlichkeit, wie man es nicht mit hunderten von Sätzen geschafft hätte. Ich begann zu erkennen, dass ich bei dieser Diskussion gerade dabei war, zu verlieren.
«Nein, nein, nein, nein», sagte ich, gefolgt von einem hysterischen Lachen. Das konnte sie direkt vergessen. Von mir aus konnte sie das Wort «Aurora» noch tausende Male, jedes Mal noch verzweifelter, sagen.
Doch sie schien schon weit entfernt, schien mich gar nicht mehr zu hören. Und dann schloss sie die Augen und ihr Atem wurde immer langsamer, bis er schliesslich ganz aufhörte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro