Kapitel 2
Aurora
Ich konnte nicht anders, als ein kurzes Déjà-vu zu haben. Vor allem in Kombination mit dem Traum, den ich diese Nacht gehabt hatte.
Ja, dass mein Blut nicht dunkelrot war, das war ein Mysterium. Und das meiner Mutter, rief ich mir ins Gedächtnis.
Bis zu meinem vierten Lebensjahr hatte ich gedacht, dass das Blut jedes Menschen genau gleich war wie meines. Ich hatte diesbezüglich nie Zweifel verspürt.
Nämlich, dass das Blut jedes Menschen die Farbe von Bernstein hatte: Eine honigfarbene Substanz, welche in der Sonne leicht schimmerte. Als ich daraufhin völlig verstört über mein neues Wissen, dass nicht alle Menschen bernsteinfarbenes Blut hatten, Zuhause meine Mutter darauf ansprach, antwortete sie mit einer strengen Stimme, die kein Widerspruch erduldete: «Halte dich von den Menschen aus dem Dorf fern.»
Doch ich war ein kleines Kind gewesen, hatte noch nicht einmal mein fünftes Lebensjahr erreicht und war voller Neugierde gewesen. Meine Mutter hatte etwas Furchteinflössendes für mich, schon seit ich denken konnte und wahrscheinlich auch vorher, aber das konnte mich nicht daran hindern, mit meinen kindlichen Nachforschungen zu versuchen, der Ursache auf den Grund zu gehen.
Immer wieder war ich ins Dorf geschlichen, das einige Kilometer abseits von unserem Haus lag, um die Menschen dort zu beobachten. Ich war immer davon ausgegangen, dass meine Mutter und ich die Ausserirdischen auf diesem Planeten waren, dass wir eigentlich Bewohner der Sonne oder des Mondes waren. Was hätte ich auch anderes denken können?
Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass wir vielleicht die Gewöhnlichen waren. Oder zumindest gewesen waren.
Doch meine Motivation für Nachforschungen war bald zu einem jähen Ende gekommen. Gerade hatte ich mich hinter einem Baum versteckt und die anderen Kinder beim Spielen beobachtet. Ich wusste nicht, was ich damit bezwecken wollte. Mehr über die fremde Spezies und ihre Verhaltensweise herausfinden? Wahrscheinlich hatte ich einfach gar nicht nachgedacht.
Es war ein regnerischer Tag gewesen, die Erde unter meinen Füssen war weich gewesen und so dauerte es nicht lange, bis ich ausrutschte und den Hang hinunterfiel. Und ja, es war ein Zufall, dass es in jeder meiner Geschichten darum ging, dass irgendjemand irgendwie fiel. Jedenfalls war ich sprichwörtlich vor die anderen Kinder in den Dreck hingefallen, eingehüllt in eine dicke Schicht von Schlamm. Ich erhob mich und schaute die anderen an, durch den Regen und den Haaren, welche vor meinen Augen klebten, war es schwer, eine klare Sicht zu erlangen, jedoch konnte ich aber doch sofort erkennen, dass sie mich aus einer Mischung aus Angst und Ekel anstarrten. Und der Ekel kam nicht daher, dass ich in Dreck gehüllt war.
Wahrscheinlich waren sie selber darauf gekommen, dass das, was dazumal auf meiner Stirn und meinen Armen geklebt hatte, nicht Dreck gewesen war, zumal ich so komisch auf das rote Blut reagiert hatte. Ich fühlte mich zutiefst verletzt, so angeschaut zu werden, als ob es mich zu einem Monster machen würde, weil mein Blut anders war als das ihre.
Kurz darauf öffnete sich eine Tür, gleich neben uns und die Mutter eines der Kinder trat heraus. Wahrscheinlich wollte sie nur rufen, dass sie sofort Nachhause kommen und nicht in diesem Regen weiterspielen sollten, aber als sie uns, oder genauer gesagt, mich erblickte, verschlug es ihr die Sprache. Sofort wusste ich, dass sie erkannte, wer ich war.
Panisch sagte sie:
«Geht alle ganz schnell zurück zu eurem Haus. Was habe ich euch schon gesagt? Bleibt weg von diesem... Hexenkind.»
Die Kinder verstreuten und ich blieb alleine zurück. Die Mutter warf mir noch einen hasserfüllten Blick zu und sagte:
«Bleib gefälligst weg von unserem Dorf. Du hast hier nichts zu suchen.»
Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Nun stand ich draussen, verwirrt, ängstlich und gedemütigt. Der Regen prasselte unaufhörlich auf mich nieder.
Ich blinzelte einige Male und anstelle von Regen sah ich, wie kleine Schneeflocken langsam den Himmel hinab schwebten. Seit diesem grauenhaften Tag hatte ich das Dorf nicht mehr betreten. Abgesehen von meiner Mutter hatte ich keinen menschlichen Kontakt mehr. Und auch das liess sich nicht wirklich als einen Kontakt zählen. Es war nicht so, als ob meine Neugierde über meine Herkunft und der Grund für unsere Blutfarbe gestillt worden war, aber mit der Zeit hatte ich mich einfach irgendwie damit abgefunden, nie zu erfahren, woher ich abstammte. Ich richtete mich auf und rieb mir über die Augen, um vollends aus meinen Tagträumereien aufzuwachen und um den feinen Tränenschleier, welcher sich auf meinen Augen gebildet hatte, wegzuwischen.
Auch wenn mein Leben meilenweit von dem Wort «perfekt» oder auch nur «ganz okay» entfernt war und mein letzter Kontakt mit Menschen ausser meiner Mutter Jahre zurücklag, so hatte ich doch mit meinem Leben gewissermassen Frieden geschlossen. Das hatte auch damit zu tun, dass es doch Lebewesen gab, die einen Weg zu meinem Herzen gefunden hatten.
Mit einem hohen Quietschen öffnete sich die Stalltür. Sofort stieg mir der Geruch von Heu in die Nase. Dies löste eine vertraute und wohlige Wärme in mir aus, die mich entspannte.
Im Sommer weideten die wenigen Tiere, welche wir besassen, auf der Wiese, doch nun war es dafür zu kalt. Als ich von ganz hinten ein leises Wiehern vernahm, umspielten meine Mundwinkel ein Lächeln. Das war die Art, wie mich meine Stute jeden Tag begrüsste.
Früher konnten wir sie zum Reiten benutzen, doch nun war sie schon alt und schwach. Ihre Schritte waren langsam und man konnte sehen, wie viel Energie sie jede Bewegung kostete. Ehrlich gesagt war sie somit eher eine Last, als dass sie uns noch von grossem Nutzen war, aber dennoch liebte ich dieses Tier. Sie strahlte eine natürliche Ruhe aus, welche mir zu vermitteln versuchte, dass alles gut werden würde.
Gleich neben der Stalltür war ein grosser Heuhaufen. Ich griff mir davon, so viel ich konnte und versuchte dann, möglichst schnell zu den Stallungen der Kuh und den Ziegen zu kommen. Mit einem Seufzen entlud ich das Heu und beobachtete, wie sich die Tiere gierig darauf stürzten.
Meine Arbeit, die ich leisten musste, um mich und meine Mutter zu versorgen war hart, aber eigentlich hatte ich Freude daran. Um Tiere herum fühlte ich mich einfach wohl.
Was wahrscheinlich daran lag, dass ich mit ihnen mehr Zeit verbrachte als mit Menschen. Auch wenn wir nicht allzu viele Tiere besassen, reichte es völlig aus. Aus den Schafen gewannen wir Wolle. Die Hühner versorgten uns mit ein paar Eiern und die Kuh und die Ziegen gaben uns auch Milch. Im Sommer konnten wir auch noch einige Pflanzen anbauen wie Tomaten oder Kartoffeln.
So arbeitete ich also den ganzen Tag über im Stall. Ich reinigte die Gehege, gab den übrigen Tieren auch noch ordentlich Futter und melkte sie. Als ich mit der Arbeit fertig war und nach draussen ging, war es bereits dunkel. Auch wenn es noch nicht wirklich spät war, ging die Sonne hier sehr früh unter, da wir hoch im Norden lebten.
Ich betrat, mit Eimern voller frischer Milch beladen, die Küche und stellte sie dort vorsichtig ab. Trotzdem schwappte einen Teil der Milch über und lief auf den Boden.
«Na, dass hast du aber wieder toll hingekriegt, Aurora!», murmelte ich leise. Erst da blickte ich auf und sah meine Mutter in der Küche stehen.
«Mutter!», rief ich geschockt. «Du weisst, dass du dich nicht so viel bewegen sollst. Bitte, setz dich hin.» Ihr missfiel dieser Gedanke, was ich an ihrem verärgerten Blick sah. Aber auf mein flehentliches Bitten hin seufzte sie und setzte sich schliesslich auf einen Stuhl. Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie sich zurück ins Bett gelegt hätte, doch ich wusste, dass ich sie damit nur wütend machen würde.
Sie wirkte bleich und abgemagert und es sah so aus, als ob sie bei dem leisesten Windstoss umkippen würde. Ihr Blick schweifte meist in die Ferne und manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie sich in einer anderen Welt befand.
Ihre Haare waren schon alle grau, auch wenn sie noch gar nicht so alt war. Und das Blau ihrer Augen, dass früher bestimmt leuchtend und voller Leben gewesen war, wich nun einem grau und jeglicher Glanz war aus ihnen erloschen.
Generell war sie früher bestimmt wunderschön gewesen. Dies musste vor meiner Zeit gewesen sein.
Mit immer noch verärgertem Blick starrte sie vor sich hin.
Wenn sie eines nicht verloren hatte, dann war es ihre Würde und ihr Stolz. Sie würde niemals zugeben, dass sie krank und schwach war.
Schnell putzte ich den Boden und machte mich dann daran, das Abendessen vorzubereiten. Vor allem im Winter waren unsere Mahlzeiten nicht sehr abwechslungsreich. Ich goss etwas Milch in zwei Gläser und erwärmte die Kartoffeln in einem Topf Wasser. Während ich auf die Herdplatte starrte, war es um mich herum mucksmäuschenstill. Mir fiel es nicht einmal mehr auf. Mit meiner Mutter wechselte ich maximal zehn Sätze am Tag, wovon ich mindestens neun davon selber sprach.
Mir war es auch sehr unangenehm, mit meiner Mutter in einem Raum zu sein und während ich auf die Kartoffeln starrte, betete ich, dass sie sich gefälligst schneller erwärmen sollten.
Schweigend setzte ich mich mit zwei vollbeladenen Tellern an den Tisch und schob einen davon meiner Mutter zu. Als ich sah, dass sie wie so oft keine Anstalten machte zu essen, seufzte ich.
«Mutter, du musst etwas essen!»
Einen Moment geschah nichts, aber dann nahm sie widerstrebend das Glas Milch in die Hand und trank einen kleinen Schluck daraus. Danach griff sie sich ein Stück Brot. Ich wusste, dass sie heute nicht mehr als das zu sich nehmen würde.
Nachdem ich den Abwasch erledigt hatte, ging ich erschöpft ins Bett. Am Himmel sah man zahlreiche Sterne, der eine schien heller zu leuchten als der andere. Mit diesem wunderschönen Anblick schlief ich langsam ein.
Der nächste Tag verlief wie immer. So wie auch die nächsten Wochen. Ich zerrte mich aus dem Bett, arbeitete den ganzen Tag und versuchte abends meine Mutter dazu zu überreden, etwas zu essen. Trotzdem beschlich mich das Gefühl, dass sie immer magerer wurde.
Nun war es schon Mitte Dezember und der Schnee verdichtete sich zu einer weissen Decke, welche das ganze Tal bedeckte.
Auch wenn es ein schöner Anblick war, mochte ich den Winter nicht sonderlich. Er erschien mir leblos und kalt. Er war wie eine Welle, welche sich langsam, aber stetig über den schönen Sommer legte und das ganze Leben, die ganze Freude mit sich nahm. Mit dem Winter verband ich den Tod.
Deswegen war der Frühling meine Lieblingsjahreszeit. Aus dem kalten Winter zeigten sich nach und nach Zeichen des Lebens. Langsam kehrte das grün der Gräser zurück und die ersten Blüten zeigten sich. Es war die Jahreszeit der Hoffnung.
Als ich heute Morgen aufwachte, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich hatte irgendeinen Albtraum gehabt. Ja, wahrscheinlich war es das gewesen. Einfach nur ein Albtraum. Nichts anderes. Langsam, immer noch etwas verwirrt stand ich auf. Nachdem ich angezogen und gefrühstückt hatte, lief ich hinunter zum Fluss. Das war unsere einzige Wasserquelle. Der Weg war nicht weit, aber sehr steil. Wenn alles gefroren war, musste man sehr vorsichtig hinunterlaufen, um nicht auszurutschen. Ja, ich sprach aus Erfahrung. Der Fluss selber war an manchen Stellen gefroren, aber vielerorts floss er noch ungehindert weiter. Ich suchte mir eine eisfreie Stelle aus, bückte mich und fing an, den ersten Eimer zu füllen. Dabei versuchte ich mich, mit der anderen Hand an der Rinde eines mir nahen Baumes festzukrallen um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Heute war mir nicht wirklich danach, Bekanntschaft mit dem eisigen Wasser zu machen. Auch wenn ich nicht in direktem Kontakt mit dem Wasser war, bildete sich doch eine Gänsehaut auf meinen Armen, die Kälte des Wassers auch nur durch den Metallkessel zu spüren und... Plötzlich hielt ich inne.
Hatte ich da gerade etwas gehört? Wenn ich mich nicht täuschte, hatten meine Ohren ein leises Poltern vernommen. Wie ein fernes Erdbeben. Bestimmt nur der Wind, versuchte ich mich zu beruhigen. Doch mein Puls beschleunigte sich dennoch immer weiter. Unruhig wandte ich mich wieder dem Fluss zu und fing nun an, den zweiten Eimer zu füllen. Mein Herz fing wieder an, in einem einigermassen normalen Takt zu schlagen. Ich schüttelte den Kopf. Das machte ich so oft. Ich hörte ein kleines Geräusch, bei dem ich nicht gerade sagen konnte woher es kam und sofort war ich in höchster Alarmstufe und bereitete mich auf eine Apokalypse vor. Genervt über mich selber schüttelte ich den Kopf. Gerade nahm ich den Eimer aus dem Wasser, als ich auf einmal ein Brüllen hörte. Ein grauenhaftes, lautes Brüllen. Und es kam näher.
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