Kapitel 11
Aurora
Er stand immer noch direkt vor mir und schaute mich von oben herab an. Ich konnte nicht sagen, ob er das gerade ernst meinte oder ob das ein Witz sein sollte. Seine Miene war undurchdringlich.
Unter seinen Blicken fühlte ich mich nicht selbstsicher oder sogar wütend, sondern nur klein und unsicher. Er war mehr als einen Kopf grösser als ich und viel stärker. Klar, das war mein erster Gegner auch gewesen, aber er wirkte so überlegen! Er zeigte es nicht, er blickte mich nicht abschätzig an oder so, aber trotzdem schien es uns beiden klar zu sein.
Ich blickte mich nervös um. Nein, das hätte ich lieber nicht tun sollen. Alle sahen mich gespannt an und verfolgten das Ganze mit geweiteten Augen.
Dadurch wurde ich noch viel nervöser. Langsam blickte ich ihn wieder an. Er hob fragend eine seiner Augenbrauen nach oben. Ich nickte langsam, immer noch unsicher, ob das Ganze nur als Witz gemeint war oder nicht. Er begab sich in Position und ich stellte mich gegenüber von ihm auf. Wir blickten uns gegenseitig in die Augen. Mein Puls begann zu rasen. Auf einmal kam er blitzschnell auf mich zu und holte zum Schlag aus.
Ich konnte ihm nur mit Mühe ausweichen. Im Gegensatz zum ersten Gegner war er viel geschmeidiger und schneller und seine Schläge waren präziser. Ohne Vorwarnung setzte er schon zum nächsten Schlag an. Dieser traf mich und ich fiel mit voller Wucht auf den Boden. Eine Welle des Schmerzes überkam mich und ich stöhnte auf. Aber so schnell würde ich mich nicht geschlagen geben.
Schwer atmend stand ich auf. Dem würde ich es zeigen... Ich fühlte das Amber in mir aufsteigen und schoss es auf ihn. Er wich aber ohne Mühe aus und rannte auf mich zu. Bei mir angekommen, setzte er zum Schlag an. Geschickt wich ich mehreren seiner Schläge aus und versuchte meinerseits, ihn anzugreifen. So ging es eine ganze Weile hin und her. Man traf den Anderen, wurde selbst getroffen, konnte manchmal ausweichen...
Aber ich wusste selber, wie ich es schon anfangs vermutet hatte, dass er mir hoch überlegen war. Ich war weniger treffsicher und wurde meinerseits viel mehr getroffen. Das führte dazu, dass ich immer weiter nach hinten gedrängt wurde und ich wusste, dass ich nicht mehr lange durchhalten würde. Meine Energie war am Ende und ich wurde immer träger. Er seinerseits zeigte keinerlei Anzeichen von Erschöpfung. Er drängte mich noch weiter nach hinten. Auf einmal stolperte ich über einen Stein und fiel auf den Rücken. Ich zischte laut auf vor Schmerz, während er sich seinerseits blitzschnell zu mir herabbeugte.
Er hielt meine Handgelenke und Beine fest. Mir schoss durch den Kopf, dass dieses Mal niemand die Sekunden zählte, welche ich schon am Boden lag. Wahrscheinlich, weil sowieso klar war, dass ich mich nicht mehr aufrichten würde können.
Mein Atem verlangsamte sich und ich fragte mich gerade, wie lange er mich denn noch am Boden festnageln wollte, als er mir mit seinem undurchdringlichen Blick in die Augen sah.
Ich konnte mich nicht davon abhalten, sie erneut zu bewundern. Sie waren wunderschön. Jetzt sah ich, was mich auch schon beim ersten Mal, als ich ihn gesehen hatte, irgendwie irritiert hatte: In seinen Augen schien er goldenen Sprenkel zu haben, welche perfekt zu seinen grünen Iriden passten. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Es sah auf eine gewisse Weise... nicht menschlich aus.
Aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, beugte er sich zu mir herab und ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut. Seine Lippen berührten beinahe mein Ohr und der Gedanke daran löste ein merkwürdiges Prickeln in mir aus.
Dann flüsterte er, sodass nur ich es hören konnte:
«Dir fehlt es an Präzision und Stärke, Aurora Korshua.»
Mit diesen Worten stand er auf und drehte sich um. Die Menge beobachtete ihn gebannt und neugierig, machte ihm aber Platz und so verschwand er kurze Zeit später darin.
Ich setzte mich auf, war aber nicht in der Lage aufzustehen. Was war gerade passiert? Durch die Menge sah ich Amelia auf mich zueilen.
«Aurora!», rief sie und ging vor mir in die Hocke.
«Geht es dir gut? Was ist passiert, wie kam es dazu?»
Ich war noch zu benommen, um ein Wort herauszubringen. Sie half mir auf und gemeinsam liefen wir zu den Hütten, weg von der starrenden Menge und dem gerade erst geschehenen Kampf. Die Trainier versuchten die anderen Jugendlichen wieder dazu zu bewegen, zu ihren eigenen Gruppen zurückzukehren, da das Training noch nicht vorbei war, aber niemand hielt uns auf.
Wir liefen zu einer der Hütten, wahrscheinlich Amelias. Sie schloss die Tür auf und gemeinsam setzten wir uns auf ihr Bett.
«Nun erzähl schon!», bettelte sie mich an. Erschöpft atmete ich aus. Ich wusste selbst nicht recht, was ich ihr sagen sollte.
Also erzählte ich ihr einfach von meinem ersten Kampf, und wie dann plötzlich Aren aufgetaucht war und mit mir kämpfen wollte. Ich beschrieb ihr den ganzen Kampf, aber ich liess die Stelle aus, als er sich zu mir hinabgebeugt und mir etwas zugeflüstert hatte.
Warum ich ihr davon nichts erzählte, wusste ich selber nicht.
Später am Abend kehrte ich zu meiner eigenen Hütte zurück. Das Mittagessen und das Training, welches auch am Nachmittag stattgefunden hätte, liessen wir beide aus. Zuerst hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen, ich wollte nicht schon gleich nach meiner Ankunft einen schlechten Eindruck hinterlassen, aber Amelia hatte mir gesagt, dass es nicht weiter schlimm war, wenn man einmal fehlte. Wir hatten noch lange über dies und jenes geredet und es tat gut, von den heutigen Geschehnissen und meinen Problemen abgelenkt zu werden.
Auch diese Nacht war mein Schlaf sehr unruhig, und als ich am Morgen aufwachte, hatte ich das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Ich frühstückte mit Amelia zusammen und danach begaben wir uns auf den Trainingsplatz. Als wir die Runden liefen, nahm ich mir fest vor, noch schneller zu sein. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich gut war.
Und vielleicht wollte ich es auch Aren beweisen.
In den nächsten Tagen konzentrierte ich mich ausschliesslich auf das Training. Von Aren sah ich nichts mehr. Ich lernte viel über Kampftechniken dazu und wurde immer besser. Ich setzte nicht auf meine körperlichen Kräfte, sondern viel mehr auf geschicktes Ausweichen der Schläge des Gegners und präzises Zuschlagen. Womit ich am meisten Probleme hatte, war, mein Amber zu kontrollieren.
Wie bitte schön sollte es möglich sein, solch eine immense Kraft zu kontrollieren? Immer, wenn ich auf ein bestimmtes Ziel schoss, traf der Strahl mindestens drei Meter daneben. Bei allen anderen sah es so leicht aus, aber ich kriegte es einfach nicht auf die Reihe. Wenigstens schnitt ich in den anderen Kategorien gut ab.
Beim Abendessen sassen Amelia und ich zufällig wieder bei Miya, Shawn und Fynn. Jeder erzählte von seinem Tag und es war ein angenehmes, unbeschwertes Gespräch. Nach einer längeren Pause fragte Miya:
«Kommt ihr heute auch zum Lagerfeuer?»
Ich schaute Amelia fragend an. Welches Lagerfeuer?
«Das habe ich dir ganz vergessen zu sagen!», rief Amelia ganz aufgeregt.
«Einmal im Jahr gibt es ein grosses Lagerfeuer, wo sich alle versammeln. Es ist nichts wahnsinnig Besonderes, aber so lernst du die anderen vielleicht etwas besser kennen und die Stimmung ist wunderschön.»
Ich nickte. Das hörte sich wirklich interessant an.
«Ich hole dich eine Stunde nach Sonnenuntergang ab.»
In meiner Hütte angekommen, duschte ich mich schnell und zog mir danach bequeme Kleider an. Danach setzte ich mich auf mein Bett und wartete ungeduldig darauf, dass Amelia endlich kam. Endlich ertönte ein Klopfen an der Tür und zusammen begaben wir uns in einen hinteren Teil des Lagers, welcher an den Wald angrenzte.
Schon von weitem sah man das riesige Feuer. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Beim Herangehen wurde mein Staunen nur noch grösser. Es befanden sich schon viele Leute dort und standen in einem Kreis um das Feuer. Wir gesellten uns zu einer Gruppe von Leuten und Miya stellte mich vor.
«Das ist Aurora Korshua. Und Aurora, das sind...», sie zeigte in die Runde, «alle.»
Es waren wirklich zu viele Leute, und ich hätte mir die Namen sowieso nicht merken können. Ich lächelte in die Runde.
«Schön, euch kennenzulernen», sagte ich schüchtern. So schnell würde ich mich nicht daran gewöhnen, unter so vielen Leuten zu leben und ich fühlte mich immer noch unwohl, wenn die ganze Aufmerksamkeit auf mir lag.
Die anderen unterhielten sich und anfangs hörte ich noch interessiert zu, aber nach einer Weile schweifte ich mit meinen Gedanken ab und hörte nur noch abwesend zu.
Bis heute wusste ich nicht, was der Auslöser dafür gewesen war. Aber auf einmal begann mein Herz unglaublich schnell zu schlagen und ich zitterte am ganzen Körper. Das einzige, was ich hörte, war das Knistern des Feuers. Die hohen Flammen und der Rauch in meiner Nase liessen mich einen Schritt zurückgehen. Es erinnerte mich zu sehr an...
Meine Brust zog sich zusammen und ich kriegte fast keine Luft mehr. Ich krümmte mich und verzog das Gesicht. Mein Atem ging nur stossweise und mir wurde unglaublich schwindlig, alles begann sich auf einmal zu drehen. Ich musste weg von hier.
«Aurora, ist alles in Ordnung mit dir?», fragte mich Amelia. «Ja, alles gut», presste ich hervor.
«Ich gehe nur mal kurz frische Luft schnappen», sagte ich und deutete auf den Wald hinter mir.
Im Nachhinein hätte ich nichts dümmeres sagen können. Wir waren draussen. Ich bekam schon frische Luft. Was wollte ich? Noch frischere Luft? Aber wie gesagt, man musste berücksichtigen, dass ich nun gerade dabei war, eine Panikattacke zu haben.
Amelia nickte und sah mich etwas besorgt an, wandte sich dann aber wieder dem Gespräch zu. Ich lief in den Wald hinein, so gut es ging. Doch schon nach kurzer Zeit bekam ich gar keine Luft mehr und ich hielt mich stützend an einem Baum fest. Ich versuchte, meine Fingernägel in die Baumrinde zu krallen, um mich an irgendetwas festhalten zu können, aber es funktionierte nicht. Vergeblich versuchte ich, wieder zu Luft zu kommen und atmete einige Male ein, aber es wirkte, als wären meine Atemwege komplett verstopft und der Sauerstoff gelangte nicht in meine Lungen.
Mir wurde schwindlig, mein Schädel pochte laut und ehe ich mich versah, kippte ich nach hinten. Ich wäre auf den Boden geknallt, hätten mich nicht zwei starke Arme aufgefangen.
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