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Amar Ama - Unsterbliches Wasser - Nolan

Die Dunkelheit lag wie ein schweres Tuch unter Deck. Nur das spärliche Licht, das durch die Holzplanken fiel, sorgte dafür, dass man die Hand vor Augen sah. Von draußen war das leise Klatschen der Wellen zu hören, die gegen den Rumpf des mächtigen Schiffs schlugen und die Hängematten zum Schaukeln brachten. 

Nolan lag mit offenen Augen in seiner Hängematte. Er hatte die Hände hinter seinem Kopf verschränkt und lauschte dem leisen Plätschern, während er das Schaukeln genoss. Fast wäre die Stille der einsamen Morgenstunden der schönste Teil des Tages gewesen, wenn nicht das Geschnarche der Anderen gewesen wäre. 

Mit einem leisen Seufzen richtete Nolan sich auf und schwang die Beine aus den festen Leinen heraus. Er passte gekonnt den richtigen Moment im Schaukeln ab, um die nackten Füße auf den Boden zu stellen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.  

Wenn man gezielt etwas suchte, dann war die Dunkelheit doch ziemlich finster. Nolan hatte keine Angst im Dunkeln, er glaubte weder an Geister noch an Gespenster und wenn es sie doch gab, dann rettete ihn auch das Licht nicht vor ihnen, doch es war trotzdem unpraktisch, wenn man seine Stiefel suchte. 

Leise fluchend griff Nolan zweimal ins Nichts, bevor er endlich das abgenutzte Leder zu fassen bekam. Auf einem Bein hüpfend versuchte er das Gleichgewicht zu halten, während er den Fuß in die harten Stiefel zwängte. 

Bei einer besonders starken Welle taumelte Nolan zur Seite und stieß promt in eine der Hängematten. Ihr Besitzer grunzte im Schlaf unwillig. 
„Entschuldigung.“ Flüsterte Nolan so gut er konnte. Er konnte nicht flüstern. 

Aus Angst, die anderen Piraten auch zu wecken tastete er sich mit kleinen Schritten und ausgestreckten Armen durch die Hängematten, bis er an die erste Treppenstufe stieß. 
Die Treppe knarrte, als Nolan die wenigen, steilen Stufen leise nach oben schlich, so laut, dass er befürchtete, die anderen würden doch auf ihn aufmerksam werden, doch bis auf das laute Atmen und Schnarchen blieb es still. 

Die Holztür, die am Ende der Treppe auf ihn wartete, war bereits etwas morsch und hing schief in den Angeln. Sie musste bei ihrem nächsten Hafengang ausgetauscht werden, aber bis dahin konnte es noch lange dauern. 

Der König von England hatte es sich mal wieder zur Aufgabe gemacht, die Meere sicherer zu machen und dieses Mal tat er das auch mit Nachdruck.

Aus seiner fixen Idee hatte sich ein Pakt mit noch anderen Herrschern von Ländern, deren Namen der junge Pirat nicht kannte, gebildet und jetzt war es an keinem Hafen mehr wirklich sicher. Nolan wusste nicht, wie viele Piraten bereits aufgeknüpft worden waren, aber er wusste, dass er ganz sicher nicht dazu gehören wollte. 

Trotzdem wünschte er sich, sie würden bald wieder in einen Hafen einlaufen, als er vergeblich an der Tür rüttelte. Schlussendlich stemmte er einen Fuß gegen den Holzrahmen, um mit beiden Händen an der Klinke zu zerren. 

Plötzlich schwang die Tür so heftig auf, dass Nolan das Gleichgewicht verloren. Hilflos versuchte er noch sich zu fangen, als er rückwärts die Treppe herunter taumelte, doch vergebens. 

Er prallte so heftig in eine Hängematte, dass der darin Liegende herausplumste. Es gab einen lauten Rumms, kurz war es still und Nolan glaubte schon, es sei nichts Schlimmeres passiert, dann hob der Verunglückte in der Dunkelheit den Kopf. 

Nolan sah zu, dass er die Beine in die Hand nahm und flitzte schnell die Treppe herauf, um aus der Gefahrenzone zu verschwinden. 

Draußen empfing ihn die kühle Luft mit offenen Armen. Nolan hielt einige Momente lang andächtig inne, die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt, während er die salzige, feuchte Luft tief inhalierte. 

Er hatte immer gedacht, dass man sich an den Geruch und den Geschmack der See gewöhnen würde, dass man sie irgendwann nicht mehr wahrnehmen würde, doch dem war nicht so. 

Jeden einzelnen Morgen, wenn er aus dem Mief unter Deck heraustrat und statt der stickigen, stinkenden Luft seine Lungen mit klarer, unverbrauchter Luft füllen konnte, wurde er tief in seinem Inneren sentimental. 

Das musste er von seinem Vater haben. Sein Vater war auch Pirat gewesen, zumindest hatte man ihm das gesagt. Er selbst hatte ihn nie kennen gelernt und seine Mutter hatte nicht viel über ihn reden wollen. Nolan hatte das Jahrelang auch nicht gewollt. Und jetzt war er selbst ein Pirat geworden. 

Nolan musste unwillkürlich lächeln, dann öffnete er die Augen wieder. Der Himmel war noch grau, doch er wusste, dass in ein paar Minuten die Sonne aufgehen würde. Seine innere Uhr irrte sich nie. 

Mit leisen Schritten ging er über die langen Holzplanken hin zu dem hohen Mast. Sein Blick wanderte über das dunkle Holz bis hin zu dem Krähennest, dann griff er die erste Sprosse und begann zu klettern. 

Sprosse um Sprosse kletterte Nolan nach oben, ohne dass er darüber nachdenken musste. Seine Arme und Beine bewegten sich wie von selbst und seine Finger schlossen sich von allein um das raue Holz, so oft hatte er das schon gemacht. 

Er summte leise vor sich hin, ein englisches Lied, kein deutsches. Er mochte auch die deutschen Lieder, er sang sie gerne mit den anderen Piraten, aber wenn er allein war, dann sang oder summte er trotzdem lieber auf Englisch. 

Seine Mutter war Deutsche, sie hatte ihm die Sprache beigebracht, die er jetzt täglich sprach, doch als er mit knapp zehn Jahren zu seiner Tante nach England gekommen war, hatte er nicht nur einen Haufen englischer Seemannslieder gelernt, sondern auch angefangen, seinen Vater zu schätzen und zu bewundern. 

Schon auf der Schifffahrt von Deutschland nach England hatte Nolan sich in die See verliebt und kaum, dass er volljährig gewesen war, hatte er auf dem erst besten Schiff angeheuert. Es war purer Zufall gewesen, dass die Besatzung seine Muttersprache gesprochen hatte.

Mit einem leisen Ächzen zog er sich in das Krähennest hinein und setzte sich für einige Momente auf den runden Boden. Obwohl ihm die Piraten eingebläut hatten, niemals nach unten zu schauen, blickte Nolan nach unten auf das Deck. Ihm wurde nicht schwindelig. Ihm war noch nie schwindlig oder schlecht geworden, nur weil er aus großer Höhe hinabgesehen hatte. 

Nach einigen Momenten stand Nolan wieder auf und trat an das hölzerne Geländer, um sich daran zu lehnen. 
Von hier oben konnte er bis zum Horizont sehen. Soweit das Auge reichte nur Wasser. 

Nolan richtete den Blick zunächst hinter das Heck. Fast schon akribisch suchte er die Wassermassen ab, doch es war nichts zu sehen. Trotzdem richtete er den Blick erst nach einigen Momenten wieder nach vorne. 

Die ersten Sonnenstrahlen erhellten die klare Luft, kaum dass Nolan sichergestellt hatte, dass sie allein waren. Mit einem beruhigten Lächeln setzte er sich wieder auf das Holz, zog sich die abgelatschten Stiefel aus und streckte die nackten Füße in die Höhe. 

Er wackelte mit den Zehen, damit sie nicht froren, bevor er sich zurücklehnte und die Augen schloss, um den Sonnenaufgang und die letzten Minuten der Stille zu genießen. 

„Nolan!“ Das heisere Bellen vom Deck schreckte ihn auf. Hastig kam er wieder auf die Füße und beugte sich über das Geländer, um runterzugucken. „Ist alles sicher?“ Das ließ die anderen Piraten dröhnend lachen. 

Nolan wurde rot, bevor er nickte. Er wollte, dass es ihm egal war, dass sie ihn verspotteten, aber es störte ihn trotzdem. Und es störte ihn, dass er nicht einfach damit aufhören konnte, jeden Morgen das Meer abzusuchen. 

„Alles sicher.“ Rief er zurück und löste sich wieder von dem Geländer. „Dann komm wieder runter. Das Schiff segelt sich nicht allein.“ Nolan nickte und ging zurück zu den Sprossen. 

Noch ein letzter Blick zum Horizont und – Nolan erstarrte. Dann zog er sich wieder in das Krähennest hoch und versuchte den Punkt am Horizont zu fokussieren. 

Er hatte ein Schiff gesehen. Ein schwarzes Schiff mit blutroten Segeln. Nolan wusste, dass es nur seine Vorstellungskraft und Fantasie war, doch er glaubte fast die Leichen der Besatzung an Deck zu sehen, obwohl das natürlich unmöglich war. 

„Was ist da oben los?“ Er ignorierte die erneute Frage, kniff nur die Augen zusammen und versuchte das Schiff erneut zu erblicken, doch da war nichts. Egal wie sehr er sich bemühte, da war nichts. Aber er wusste, dass da etwas gewesen war. Und wenn er richtig lag, dann waren sie in Gefahr. 

Nolan sprang zurück zu der Leiter und kletterte so hastig herunter, dass er zweimal ins Leere griff und fast herunterstürzte. 

„Was ist los?“ Begrüßte man ihn unten an Deck. „Du siehst aus, als hättest Du ein Gespenst gesehen.“ Nolans Herz raste. „Ich muss zum Kapitän.“ Stieß er keuchend hervor.
Ohne weiter auf die anderen einzugehen, taumelte er weiter, bis ihn etwas bremste. Etwas, oder besser jemand. 

Irritiert sah Nolan auf und sah in das bärtige Gesicht seines Kapitäns. „Nolan. Scheuchst du schon wieder die Besatzung auf?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf, obwohl er genau das tat. „Ich hab etwas gesehen.“ Würgte er hervor. „Ich habe ein Schiff gesehen.“ 

Der Kapitän lachte und tätschelte Nolan mit einem so gönnerhaften Gesichtsausdruck die Schulter, dass er sich richtig blöd vorkam. „Auf dem Meer ist es ganz normal, dass man mal Schiffe sieht.“ 

Nolan löste sich heftig von ihm und wies in die Richtung, in der er das Schiff gesehen hatte. „Das war nicht irgendein Schiff.“ Fauchte er. „Das war die Flying Dutchman.“ 
Stille. 

„Die Flying Dutchman?“ Nolan schloss kurz die Augen, um sie unbemerkt zu verdrehen. Natürlich, niemand konnte hier englisch sprechen. „Der Fliegende Holländer.“ Noch in dem Moment, da er es aussprach, wusste er, dass er besser den Mund gehalten hätte. 

Ihr Gelächter war dröhnend laut, doch Nolan ertrug es tapfer. Auch, dass sie ihm auf die Schulter klopfte ließ er sich gefallen, bis ein Ruf sie alle aufschrecken ließ.

„Schiff in Sicht!“ Rief ein Pirat. Nolan befreite sich sofort aus dem Pulk und hastete an die Reling. Ohne zu fragen, pflückte er ihm das Fernrohr aus der Hand und kniff das eine Auge zu. 

Er suchte das Wasser ab, bis es plötzlich dunkel am anderen Ende der Linse wurde. Nolan ließ das Fernrohr los und sah hoch zu seinem Kapitän, der jetzt selbst den Horizont absuchte. 

Nolan entdeckte das fremde Schiff auch ohne durch das Fernrohr zu gucken, so nahe war es schon gekommen. 

Es war kleiner als ihr eigenes Schiff und hatte zerrissene Segel. Das Holz wirkte selbst aus der Entfernung morsch und auch die von Kanonenkugeln hereingeschlagenen Löcher waren gut sichtbar. 

Das auf dem Schiff nichts mehr zu holen war, das war offensichtlich. Trotzdem wusste Nolan, dass sein Kapitän das Schiff ansteuern würde. Sie waren Piraten und dass man auf solchen Schiffen trotzdem manchmal noch einen Schatz finden konnte, war weit verbreitetes Wissen. 

„Segel setzen.“ Nolan biss sich auf die Unterlippe und sah Richtung Heck, wo er die Dutchman gesehen hatte. „Bereit machen zum Entern, wir kapern dieses Schiff.“ Nolan wusste, dass er den Befehlen gehorchen sollte, doch er fühlte sich wie gelähmt.

Wenn all die Gerüchte stimmten, dann segelten sie gerade in ihr Verderben. 

„Worauf wartest du noch?“ Schnauzte ihn sein Kapitän an. Nolan sah ihn fest an. „Das ist eine Falle.“ Um sie herum begann das rege Treiben, die Segel wurden gehisst und das Steuer gedreht, sie segelten genau auf das fremde Schiff zu. 

„Was soll das heißen?“ Er rechnete es dem Bärtigen hoch an, dass er ihm zumindest die Chance gab, sich zu erklären, doch Nolan wusste auch dass die Erklärung dem Kapitän nicht gefallen würde. 

„Das ist ein Trick. In alten Überlieferungen heißt es, dass die Dutchman ein zweites Schiff absetzt, dass Fremde anlocken soll. Während man sich mit dem Schiff beschäftigt, kann sie unbemerkt näherkommen und wenn man sie bemerkt, dann ist es schon zu spät.“ 

„Bindet ihn an den Mast.“ Befahl der Kapitän zwei vorbeieilenden Piraten, ohne auch nur auf Nolan einzugehen. „Er wird wahnsinnig.“ 

Nolan wich zurück, wollte sich erklären und sagen, dass dem nicht so war, doch sie packten ihn an den Armen und schleiften ihn mit sich, bis hin zu dem Mast, von dem er eben erst hinuntergeklettert war. 

Er ließ sich widerstandslos von ihnen festbinden, schloss nur die großen, blauen Augen, damit sie die Tränen der Verzweiflung nicht sahen. In seinem Kopf sang seine Tante die ersten Zeilen des Piratenliedes, das sie ihm früher immer vor dem zu Bett gehen vor gesungen hatte. 

The sky was grey and cloudy
And the wind was from the west
When we spied a battered frigate
With her tattered sail full dressed 

Nolan öffnete die Augen nicht, als ein Windstoß ihm die blonden Haare zerzauste. Er wusste auch so, dass der Wind von Westen kam. Und er wusste auch, dass der Himmel heute wolkenverhangen und grau war. 

„Rafft die Segel!“ Nolan öffnete die Augen erst wieder, als der Ruf seines Kapitäns die Luft zerriss. Sie waren so nahe an dem fremden Schiff, dass er die Besatzung mit bloßem Auge gut erkennen konnte. „Wendet das Schiff!“ 

Noch während Nolan überlegte, was seinen Kapitän zu dem Sinneswandel bewegt hatte, erblickte er den Matrosen auf dem anderen Schiff. Er trug eine altertümliche Uniform, doch das was den jungen Piraten stutzig machte, waren die großen Flaggen in seinen Händen. 

„Hey.“ Sprach Nolan einen vorbeieilenden Piraten an. „Was ist denn hier los?“ Der andere hielt kurz inne und sah verwirrt zu ihm, dann zuckte er knapp mit den Schultern. „Die haben die Pest.“ 

Nolan verstand nicht, warum ihr Kapitän das Schiff stoppte. Nur weil jemand vorspielte, die Pest zu haben, um sich vor einem Angriff zu retten, war das noch immer kein Grund, nicht anzugreifen. 

Ein zweiter Blick zu dem fremden Matrosen erklärte alles. Der Mann sah furchtbar krank aus. Am Mast baumelte ein lebloser Körper, der schon seit Tagen vor sich hin faulen musste. 

Nolan sah seine Annahme als bestätigt. Das Schiff war ein Teil der Flying Dutchman und ihrer grausamen Inszenierung. Reflexartig wendete er den Kopf zur Seite, doch da war nur das raue Holz an seiner Wange. 

Der Matrose auf dem anderen Schiff hob erneut seine Flaggen und begann sie zu bewegen. Nolan legte interessiert den Kopf schief. 

Das andere Schiff hatte Briefe, es fragte, ob sie sie mitnehmen könnten. Nolan biss sich auf der Unterlippe herum und rief dann doch nach seinem Kapitän. 

„Was ist los?“ Es verwunderte ihn, dass der Kapitän überhaupt noch mit ihm reden wollte. Nolan atmete tief ein und aus und rief sich noch einmal die nächsten Zeilen des Liedes ins Gedächtnis. 

They signaled they had letters home
They asked if we could take
They dropped them in a barrel
They left bobbing in their wake

We reefed the sails and slowed the ship
To fish they barrel out

„Die Besatzung der Dutchman besteht je nach Überlieferung aus Leichen. Und das Schiff, das sie als Köder aussenden, das sagt, es hätte Briefe nach Hause, damit man bremst und-“ 

Der Kapitän unterbrach ihn mit einer Ruhe, die Nolan ganz ruhig machte. Zumindest bis er das dreckige Stofftaschentuch aus seinem Gürtel zog. 

Nolan versuchte nicht einmal sich zu wehren, als er geknebelt wurde und er versuchte auch nicht, das Tuch auszuspucken, als sein Kapitän wieder ging.

Wie erwartet platschte ein Fass voller Briefe in das salzige Wasser und wie erwartet warf der Kapitän höchstpersönlich den Enterhaken nach dem Fass aus. 

Beim zweiten Versuch hörte Nolan, wie das Metall auf das Holz schlug. Er schloss die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie sie das Fass an Deck holten. 

Wenn man dem Kinderlied folgte, dann würde das fremde Schiff jetzt verschwinden und noch bevor die Piraten das Fass öffnen konnten, würde man die Dutchman erblicken. 

The old ship sailed to the distance
And we saw her come about
The captain watched through a spy-glass
And we heard him catch his breath
And we saw the storm a-brewing
Had become a wall of death

Nolan wusste, dass es nicht so kommen würde. Niemand würde zum Heck sehen und dort das schwarze Schiff mit den blutroten Segeln entdecken. Deswegen würden sie nicht rechtzeitig entkommen. 

Er senkte resigniert den Kopf und schloss mit einem tiefen Atemzug die Augen. Jetzt war es ohnehin alles zu spät. 

„Schiff in Sicht!“ Der Schrei zerriss die Stille früher als erwartet, doch Nolan wusste, dass es trotzdem zu spät war. Ohne dass er es verhindern konnte, schlich sich eine einsame Träne aus seinem Auge, rollte über seine Wange und löste sich schlussendlich von seinem spitzen Kinn.

Turn this ship around me boys
Turn around and run!
That storm it wants a battle
And it’s sure that were outgunned!
What of the ship that’s out there
Do we leave her to the gale?
She’s called the Flying Dutchman
And it’s rage that fills her sails!

Aus einem ihm unerklärlichen Grund kam ihm plötzlich der altbekannte Refrain in den Sinn. Nolan verzog den geknebelten Mund zu einer grotesken Fratze, die er sich selbst nicht erklären konnte, die aber ein Lächeln darstellen sollte. 

„Nolan?“ Es war der Kapitän höchstpersönlich, der zu ihm kam. Er klang nicht einmal ansatzweise so beunruhigt, wie er sollte. 

Nolan hob den Kopf und starrte dem Bärtigen in die dunklen Augen. Der schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. 

„Kann ich dich wieder losbinden oder drehst du dann vollständig durch?“ Nolan kamen spontan mindesten ein Dutzend passende Antworten in den Sinn, aber keine erschien ihm gut genug und deswegen schwieg er. Außerdem war er ohnehin noch geknebelt. 

„Die anderen reden über dich.“ Erzählte der Kapitän ihm und zog ihm das Tuch aus dem Mund. Nolan kommentierte das nicht. „Sie sagen, man sollte deinen Sturkopf als Rammbock verwenden.“ Eigentlich sagten sie, dass man seinen Sturkopf als Rammbock verwenden könne, weil er härter war als jede Mauer, Nolan kannte den Spruch bereits und er kannte auch all die anderen Sticheleien, aber er sagte auch dazu nichts.

„Du solltest dir ein neues Schiff suchen, wenn wir das nächste Mal in einen Hafen einlaufen.“ Jetzt platzte ihm doch der Kragen. „Wenn wir das nächste Mal in einen Hafen einlaufen?! Wenn wir jetzt nicht mal langsam etwas unternehmen, dann wird niemand von uns ein nächstes Mal in einen Hafen einlaufen!“ 

Kurz war der Kapitän sprachlos, dann schüttelte er den Kopf. „Wenn du dich nicht langsam zusammenreißt, dann kannst du dir das Schiff von unten angucken.“ 

Nolan biss sich fest auf die Unterlippe, dann senkte er den Kopf. „Kannst du mich zumindest so festmachen, dass ich nach hinten gucken kann?“ Der Kapitän seufzte leise. „Geh nach oben und da bleibst du.“ Nolan fragte nicht wie lange er dableiben musste. Egal was die Zahl war, sie würden alle sterben, bevor die Zeit abgelaufen war. 

Kaum, dass er losgebunden war, schob er sich mit gesenktem Blick Richtung der Sprossen und kletterte schnell nach oben, in der Hoffnung, dass niemand auf ihn aufmerksam wurde. Es war ihm peinlich. 

Erst als Nolan endlich das sichere Krähennest erreicht hatte, traute er sich, den Blick auf den Horizont zu richten. 

Die Flying Dutchman war bereits bedrohlich nahegekommen. Nolan wusste nicht, wie er sie sich vorgestellt hatte, aber die Dutchman war ein imposantes Schiff mit einem pechschwarzen Rumpf, der selbst die finsterste Nacht in den Schatten stellte. Die blutroten Segel blähten sich im Wind, doch das war nicht das Gruseligste. 

Um das Schiff tobte ein Sturm. Nolan wusste nicht, ob die anderen Piraten es nicht sehen wollten oder nicht sehen konnten, aber er konnte es. Er sah die dunklen Wolken, die sich über dem Schiff türmten und er wusste, dass aus ihnen ein Gewitter hervorbrechen würde. 

Nolan verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln und überlegte kurz, ob er sich einfach runter auf das Deck stürzen sollte, um alles was kommen würde abzukürzen. 

Er ließ es dann doch bleiben. 
Mit einem leisen Seufzen setzte er sich hin und sah zu dem Schiff, das sich viel zu schnell näherte. Sie waren verloren. 

Nolan stützte den Kopf in die Hand und fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Haare. Er hatte sie am Vortag noch gewaschen, sehr zum Gespött der restlichen Besatzung. Jetzt wünschte er, er hätte die Zeit besser genutzt. 

Sein Blick wanderte wieder zu dem großen Schiff, das sie verfolgte. Es war mittlerweile so nahe an sie herangekommen, dass es möglich war, auf Deck zu sehen und einzelne Besatzungsmitglieder zu erkennen. Nolan wusste, dass er in wenigen Minuten wissen würde, welche Überlieferung über das Aussehen der Besatzung stimmen würde. Er setzte auf die Leichen. 

„Nolan?“ Es war der Kapitän höchstpersönlich, der sich zu ihm in den Ausguck zog. „Ja?“ Nolan gab sich Mühe, weder trotzig noch beleidigt zu klingen, aber es gelang ihm nicht. Der Andere sah darüber hinweg und setzte sich neben ihn. 

Nolan wischte sich verstohlen die Tränen weg und biss sich auf die Unterlippe. Was kam jetzt? Wollte man ihn über Bord werfen, um die Männer zu beruhigen? 

„Ich möchte die Anderen nicht beunruhigen, deswegen bin ich hier hoch gekommen. Angenommen, das wäre wirklich der Fliegende Holländer, was müsste man machen, um zu entkommen?“ 

„Nichts.“ Gab Nolan zurück. Seine Stimme brach. „Wir können gar nichts mehr machen, es ist zu spät. Wir sind alle tot. Die Dutchman wird uns bald eingeholt haben und dass wir den Kampf nicht gewinnen können, das siehst du wohl auch.“ 

Der Kapitän zeigte sich unbeeindruckt. „Und was müsste man machen, um unter normalen Umständen zu entkommen?“ Nolan lachte hohl auf. „Das Einzige, was einen vor der Flying Dutchman retten kann, ist das Festland. Sobald man sie entdeckt, muss man zusehen ans Land zu kommen. Wenn man Glück hat, dann kommt man rechtzeitig an.“ 

Sein Blick wanderte zu dem bewölkten Himmel, an dem schon seit Tagen keine Vögel mehr zu sehen waren. Sie mussten meilenweit von einer Insel entfernt sein. 

Der Kapitän seufzte leise und fuhr sich durch die Haare. „Gibt es sonst irgendetwas, das man machen kann?“ Nolan schüttelte den Kopf, bevor er ihn wieder in die Hand stützte und zu der Dutchman zurücksah. 

Mittlerweile konnte man die Besatzung klar erkennen. Es waren keine Skelette und auch keine Leichen im herkömmlichen Sinne. Es waren lebende Tote. Sie hielten Säbel in ihren Händen, die sie in die Luft reckten und damit wedelten.

Ihr heiseres Lachen wurde von einem kräftigen Windstoß an Nolans Ohren getragen, eine Gänsehaut lief über seinen Nacken. In seinem Kopf begann die nächste Strophe.

The thunder growled like demons
And the lightning stabbed the waves
And the Dutchman she leapt towards us
Riding fury from the graves
Our captain, he stayed at the wheel
The crew they manned the lines
And still that ship and storm
Were quickly closing in behind

Our ship we crest a giant wave
And crashed to the trough below
And the crew held on to what they could
They were damned if they let go
The rain and sea and storm winds
Crashed against our ship with wrath
And from the deck of that cursed ship
We could hear them laugh

„Was weißt du alles über den Fliegenden Holländer?“ sprach der Kapitän ihn nach einigen Momenten der Stille wieder an. Nolan zuckte mit den Schultern. 

„Nicht viel. Sie hat einen schwarzen Rumpf und rote Segel und ihre Besatzung besteht aus lebenden Toten. Je nach Überlieferung kann der Kapitän, der bis zum jüngsten Tag dazu verdammt ist, herum zu segeln, alle sieben, zehn oder hundert Jahre für einen Tag an Land. Wenn sich an dem Tag eine Frau in ihn verliebt, ist er erlöst.“ 

„Das ist nicht wirklich hilfreich. Was weißt du über das Schiff?“ Nolan zuckte mit den Schultern. „Schwarzer Rumpf, rote Segel.“ Doch dann riss er sich zusammen. Sein Kapitän war ein kluger Mann. „Sie kann aus dem Nichts auftauchen, man munkelt, dass sie aus dem Meer aufsteigt. Außerdem kann sie angeblich bei Flaute und gegen den Wind segeln. Wenn ich sie mir so angucke, dann glaube ich, dass sie noch viel mehr kann.“ 

Der Bärtige seufzte ein tiefes Seufzen und rieb sich die Augen. Nolan beobachtete ihn dabei stumm. 

„Behalt das Gespräch für dich, in Ordnung? Ich möchte meinen Männern keine unnötige Angst machen.“ Nolan nickte langsam. „Muss ich trotzdem hier oben bleiben?“ Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Mach was du möchtest.“ 

Nolan sah stumm zu, wie der andere wieder aus dem Ausguck kletterte, bevor er seinen Blick wieder auf die Dutchman richtete. Wenn er sich anstrengte, dann konnte er den Schriftzug an ihrem Bug als ‚The Flying Dutchman‘ erahnen. 
Er schloss die Augen und überlegte, ob er runter zu den anderen gehen sollte. Er blieb sitzen. 

Nolan fand, dass er zu jung zum Sterben war. Aber er wusste auch nicht, was er machen sollte, um das zu verhindern. Kurz spielte er mit dem Gedanken, eines der Ruderboote zu kapern und sein Glück damit zu versuchen, doch er ließ es bleiben und lehnte den Kopf gegen das raue Holz. 

Sein Magen grummelte vor Aufregung, doch Nolan schluckte die Übelkeit herunter und schloss die Augen, in der Hoffnung, einfach alles zu verschlafen. 

Hinter seinen geschlossenen Augen konnte er sehen, wie sie das Schiff wendete und der Dutchman durch ein raffiniertes Manöver auswichen und dann das Festland ansteuerten, doch er wusste, dass das nur Wunschdenken war. Es gab kein Manöver und auch kein Land. 

Der erste Kanonenschuss brachte das Schiff zum Wanken. Nolan schreckte auf und sah, dass die Dutchman direkt neben ihnen war. Die Untoten schienen sich prächtig zu amüsieren, ihr raues Lachen drang zu ihnen herüber, während sie bereits die Enterhaken umher wirbelten, bereit sie zu werfen. 

Nolan griff seinen Säbel und zog ihn. Wenn jemand in das Krähennest kommen würde, würde er sich verteidigen. Aber erstmal setzte er darauf, dass niemand ihn hier oben erblicken würde. 

Nolan hörte, wie die Haken in die Reling einschlugen, doch er blieb sitzen, wo er war und sah nicht hin. Er wollte nicht sehen, was unten an Deck passiert. Es zu hören war schon schlimm genug. 

Das teuflische Lachen wurde durch die salzige Luft getragen, Nolan versuchte es genauso auszublenden, wie er auch die verängstigten Schreie seiner Mannschaft ausblendete. 
In seinem Kopf begann seine Tante erneut den Refrain zu singen. 

Turn this ship around me boys!
Turn around and run!
That storm it wants a battle
And it’s sure that we’re outgunned!
That ghostly ship is hunting us
It’s bringing on the gale!
She’s called the Flying Dutchman
And it’s rage that fills her sails!

Die versprochene Hoffnung blieb aus. Nolan hielt sich die Ohren zu, doch er konnte das Klirren des Metalls trotzdem hören, wann immer zwei Säbel aufeinandertrafen. 

Ein schmerzerfüllter Schrei zerriss die Luft, Nolan wurde ganz schlecht, er wollte nachsehen, wer verletzt war, doch er zwang sich dazu, ganz still sitzen zu bleiben und zu schweigen. Kein Mucks, damit sie ihn nicht fanden. 

Nicht gerade heldenhaft, aber was brachte es schon, wenn sie ohnehin alle totgeweiht waren?

Ein weiterer Knall übertönte die Kampfgeräusche, der Mast geriet ins Wanken. Erst viel zu spät realisierte Nolan, dass der Mast getroffen worden war und umkippte. 

Hastig sprang er auf, den Säbel in der einen Hand, das kleine Messer zwischen den Zähnen, und versuchte noch die Sprossen wieder runterzuklettern, doch er wusste, dass das sinnfrei war. 

Der Mast neigte sich unter ihm mit einem Knarren, Nolan zögerte kurz, bevor er sich von dem Holz abstieß und in ein Tau hereinsprang. 
Die rauen Fasern rissen ihm die Handfläche auf, als er versuchte, sich festzuhalten, sie verbrannten seine Haut.

Egal wie sehr er sich anstrengte, wie fest er die Finger um das Seil schloss, er prallte trotzdem fast ungebremst auf die Holzplanken, die ächzend unter ihm nachgaben, splitternd brachen.

Nolan knallte inmitten zwischen Hängematten auf den Boden unter Deck. Der Aufprall drückte ihm die Luft aus den Lungen, der Schmerz vernebelte kurz seine Sinne. 

Er hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, sein Kopf pochte und ihm war schlecht, dann wurde alles dunkel. 

Nolan kam erst nach einigen Momenten wieder zu sich und es brauchte noch einige Momente mehr, bis er sich langsam wieder aufsetzen konnte. Mit einem unterdrückten Ächzen setzte er sich wieder auf und stellte verblüfft fest, dass er sich weder an seinem Messer noch an seinem Säbel verletzt hatte.

Sein Glück und seine Erleichterung waren nicht von langer Dauer. An dem gezackten Loch über ihm erschien einer der lebenden Toten.

Seine Haare waren dünn und kleben strähnig an seinem eingefallenen Gesicht, er grinste ein zahnloses Lächeln. An seiner Wange war ein klaffendes Loch, die Haut hing in Fetzen herunter. In seiner Hand hielt der Pirat einen rostigen Säbel. 

Erst, als der Fremde zu ihm in die Dunkelheit zu ihm herab gesprungen kam, stellte Nolan fest, dass es nicht nur Rost, sondern auch Blut war. 

Ungeschickt floh er rückwärts krabbelnd, tastete dabei nach seinem Säbel, stieß mit dem Schultern voran krachend in einige Fässer, die polternd über ihm zusammenbrachen. 

Der fremde Pirat näherte sich langsam, triumphierend. Er kostete seinen Sieg voll und ganz aus, war sich Nolans Niederlage bereits sicher, doch Nolan war nicht gewillt, so einfach aufzugeben. 

Fieberhaft tastete er mit der Hand über den Boden, bis er etwas Hartes, Kaltes an seinen Fingerspitzen spürte. Ohne den Anderen aus den Augen zu lassen schloss er langsam die Finger darum, so unauffällig wie nur möglich, damit der Andere es nicht bemerkte. 

Gerade als der Untote sein Säbel über den Kopf hob, riss Nolan das Metallteil mit einem beherzten Ruck unter den Fässern hervor und schleuderte es ihm entgegen. 

Den kurzen Augenblick, den er abgelenkt war, nutze Nolan. Er sprang auf und rammte seine Schulter in das längst verrottete Fleisch. 

Sie gingen gemeinsam zu Boden, der Untote umklammerte Nolans Hüfte, biss und kratzte ihn, doch er biss die Zähne zusammen und versuchte sich tretend und strampelnd zu befreien.

Seine Hände tasteten wieder fieberhaft über den Boden, bis er hartes Leder zu greifen bekam. Ohne darüber nachzudenken, zog er es dem Untoten über den Kopf, der ihn daraufhin loslassen musste. 

Nolan taumelte einige Schritte ins Licht und lachte ungläubig auf, als er erkannte, dass er da einen seiner Stiefel in der Hand hielt. Der Schuh musste aus dem Krähennest gefallen sein. 

Die kurze Verschnaufpause hielt nicht lange an, weil der lebende Tote einfach wieder aufstand. Er schüttelte kurz den Kopf, als wollte er seine Gedanken klären, dann bückte er sich erstaunlich leichtfüßig und hob seinen fallengelassenen Säbel wieder auf, bevor er wie eine Katze auf Nolan zu sprang. 

Nolan blieb nichts anderes, als sich erneut an einer Flucht zu versuchen, er sprang rückwärts aus der Reichweite seines Angreifers, wich zurück, bis er die Schiffswand an seinem Rücken spürte. 

Die Klinge traf das Holz direkt neben seinem Kopf, Nolan duckte sich unter ihr hinweg und floh weiter. Barfuß ging es durch den Dreck und Staub der letzten Jahre, er quetschte sich in den schmalen Spalt zwischen einem Kistenstapel und der Wand und schob sich hindurch, nur um auf der anderen Seite bereits erwartet zu werden. 

Gerade noch rechtzeitig zog er den Kopf ein, um der Klinge zu entgehen. Mit einem leisen Stöhnen rutschte er wieder zurück zwischen die Kisten, so weit, dass man ihn von keiner der Seiten mit dem Säbel erreichen konnte. 

So war er erstmal in Sicherheit, doch Nolan wusste, dass das nicht ewig währte. Er brauchte einen Plan, um hier rauszukommen. 

Ächzend lehnte er sich gegen die Kisten, die sich knarrend ein Stück bewegten. Dann hielt Nolan kurz still, doch der Untote hatte es nicht mitbekommen, sondern mühte sich immer noch damit ab, an ihn heranzukommen. Vom Deck drangen laute Schreie und Kampfgeräusche durch das Loch und die Ritzen zwischen den Planken. Nolan lehnte sich gleich noch einmal gegen die Kisten, die sich gleich ein ganzes Stück bewegten. 

Er atmete tief ein und aus, bevor er dann antäuschte, wieder hinter den Kisten hervorzukommen. Der lebende Tote fiel auf die Finte herein, stürmte um die Kisten herum und Nolan warf sich erneut gegen sie und dieses Mal kippten sie um und begruben den Fremden unter sich. 

Nolan konnte sich kaum darüber freuen, er kletterte flink über den Kistenhaufen und zerrte aus der reglosen Hand den schmierigen Säbel. Besser diese als gar keine Waffe. 

Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich hier unten zu verbarrikadieren, doch noch bevor er ein Versteckt ins Auge gefasst hatte, polterte hinter ihm durch das Loch jemand auf die Planken. 

Nolan wirbelte herum, das Schwert gerade noch rechtzeitig hochreißend, um den Schlag zu parieren. Weiter die Hiebe blockend wich er zurück, die freie Hand tastend nach hinten gestreckt, damit er nicht plötzlich in der Falle saß. 

Der lebende Tote stach immer wieder zu, doch Nolan konnte der Spitze des Säbels jedes Mal ausweichen. 

Er musste hier raus, so viel war ihm klar. Hier unten war es nur eine Frage der Zeit, bis er stolperte, in eine Ecke geriet, weil er nichts sah, oder dann doch getroffen wurde. 

Sein Blick wanderte zu dem Loch in der Decke, doch er wusste, dass er das gar nicht erst versuchen musste. Wenn er hier raus wollte, dann durch die Tür. 

Ein lauter Knall holte ihn ruckartig aus seinen Gedanken, der plötzlich aufwirbelnde Staub ließ ihn die Augen zukneifen und husten. Halb blind, halb taub, mit einem lästigen Fiepen im Ohr taumelte er rückwärts, dann fühlte er das kalte Wasser, das seine nackten Füße umströmte. 

Erst nach einigen Momenten verstand er, dass eine Kanonenkugel der Dutchman ein Loch in die Seitenwand seines Schiffs gerissen hatte, durch das nun Wasser in den Lagerraum strömte. 

Er musste hier raus. Nolan griff den schleimigen Säbel fester und stürmte, ohne zu zögern auf den Untoten zu, der keine Chance hatte, ihm zu folgen. Hastig stürmte er an ihm vorbei, dann die kleine Treppe hoch und an Deck. 

Der Kampf tobte noch immer. Es war so viel Durcheinander, dass Nolan einige Momente brauchte, um sich zu orientieren. Momente, in denen er zu abgelenkt war, um den Säbel kommen zu sehen, der auf ihn zu raste. 

Die scharfe Klinge zerriss sein helles Hemd, drang einige Millimeter tief in seine Haut ein und teilte sie von einer Rippe zur anderen. 

Stöhnend vor Schmerz sackte Nolan zusammen, Tränen stiegen in seine Augen, während der geklaute Säbel polternd auf die Planken fiel. Mit einer Hand stützte er sich auf dem Boden ab, der andere Unterarm presste sich fest auf die Wunde.

Warmes Blut sickerte in sein Hemd, färbte den hellen, bereits nassen Leinenstoff so rot wie die Segel der Flying Dutchman. 

Er rechnete damit, dass die Klinge ein weiteres Mal auf ihn herab sausen und ihn umbringen würde, doch es passierte nichts. So lange, dass Nolan stöhnend den Kopf hob und sich umsah. 

Er erkannte seinen Angreifer an der verschlissenen, roten Weste. Der Untote war in einen anderen Kampf verwickelt, deswegen hatte er ihn noch nicht umgebracht. 

Nolan biss die Zähne zusammen und kroch zur Reling, um sich mit zitternden Knien unter riesigen Schmerzen hochzuziehen. Schwer atmend stand er da, als er den Schrei hörte. 

„Feuer!“ Er sah die Flammen nicht, doch er roch den Qualm. Das kleine Schiff brannte. Und wenn er bedachte, wie viel Rauch von unter dem Deck aufstieg, dann würde es bald lichterloh abfackeln. 

Sein Blick wanderte zu dem abgebrochenen Mast. Wenn es brannte, so hatte seine Mutter es ihm beigebracht, dann sollte man nicht nach oben fliehen, weil der Rauch aufstieg. Trotzdem wäre Nolan jetzt gerade gerne in sein Refugium, das Krähennest, geflohen. 

Zu allem Überfluss gesellte sich zu dem Fiepen in seinem halbtauben Ohr die nächste Strophe des Schlafliedes. 

That was when we sighted land
It became a race with time
We believed it Santa Marta
The Dutchman closing in behind
„Risk it all!“ the captain cried
„It’s the only chance we got!“
Salvation if we make it
And our souls if we get caught

The storm was all around us
And the Dutchman cut our wind
The beast nearly capsized up
And we watched our strong mast bend
We were almost to the harbor
We could see the natural break
And each man willed her forward
For they knew what was at stake

Ein weiterer lebender Toter beanspruchte mehr Aufmerksamkeit, als Nolan aufbringen konnte. 

Trotzdem drehte er sich schwach zu ihm und sah in der glänzenden Klinge seinem eigenen Spiegelbild in die blauen Augen. 

Dann hob er den Kopf und starrte dem Anderen fest in die toten Augen. Was sollte er noch machen? Er saß in der Falle, war verletzt und unbewaffnet. Doch er schloss die Augen nicht, sondern sah seinem Tod direkt in die Augen, sah wie er die glänzende Klinge hob. 

Ein kräftiger Ruck ging durch das Schiff, als die nächsten Kugeln einschlugen. Nolan klammerte sich an das raue Holz der Reling, versuchte auf den Beinen zu bleiben, obwohl das Schiff unter ihm taumelte und wankte. 

Neben ihm knallte einer der fremden Piraten so heftig gegen die Reling, dass sie splitternd brach. Der Fremde fiel mit einem lauten Platschen in das Salzwasser, Nolan sah ihm kurz nach. 

Als er merkte, dass die Reling sich auch unter ihm knackend neigte, war es bereits zu spät. 

Das Salzwasser schlug eiskalt über seinem Kopf zusammen, es brannte in der neuen Wunde. Nolan schlug heftig um sich, in der Hoffnung wieder aufzutauchen, bis er bemerkte, dass das Holz sich in seinem zerrissenen Hemd verfangen hatte.

Mit hastigen, groben Bewegungen befreite er sich, tauchte wieder auf, und sah hoch zu seinem Schiff. Es füllte sich beängstigend schnell mit Wasser und der dunkle Rauch, der Meter weit in den Himmel aufstieg, musste für Schiffe in dutzenden Meilen sichtbar sein. 

Paddelnd versuchte Nolan sich in den wilden Wellen über Wasser zu halten, hustend spuckte er etwas Salzwasser aus. 

Ein weiterer Teil brach aus der Reling heraus und landete direkt neben ihm im Wasser. Die nächste große Welle schwappte hoch, schlug über seinem Kopf zusammen und drückte ihn nach unten. Trotz der Schmerzen kämpfte Nolan weiter, versuchte zurück an die Wasseroberfläche zu gelangen, doch als die nächsten Holzstücke auf ihn herab prasselten, ihn an den Schultern und am Kopf trafen und verletzten, konnte er nicht mehr. 

Ohne dass er es verhindern konnte, sank er wie ein Stein in die unendlichen, pechschwarzen Tiefen herab. 

Irgendwo unter ihm entdeckte Nolan ein schwaches, grünliches Leuchten, das langsam näher zu kommen schien. Aus dem schwachen Glühen wurden bald zwei zu grüne Leuchtpunkte, die er erst als Augen erkannte, als sie fast in Reichweite waren. 

Die leuchtenden Augen gehörten zu einem krankhaft blassen Gesicht, mit beinahe durchscheinender Haut, unter der Nolan bläuliche Adern sehen konnte. 

Das Gesicht mit den scharfen Wangenknochen und den sanft geschwungenen Lippen war zweifelsohne menschlich, aber auf keinen Fall das eines Menschen. Was auch immer da auf ihn zu schwamm war anders als erwartet kein Mensch.

Zumindest keiner der lebenden Toten, aber auch kein Pirat seiner Mannschaft. 

Vor Schreck ließ Nolan blubbernd das letzte bisschen Luft aus seiner Lunge entweichen, als er den langen, schuppigen Schwanz mit der großen Flosse entdeckte. Das Wesen war eine Meerjungfrau. Und sie streckte ihre langen, schlanken Finger nach ihm aus, legte sie an Nolans Wangen.

Wie erstarrt hielt er still, als sie ihm so nahekam, dass ihre Lippen sich fast berührten, dann legte er reflexartig die Hände an den mageren Brustkorb. 

Erst nach einigen Momenten stellte er fest, dass er jede Rippe spürte, noch etwas später fühlte er die harte, flache Brust an seiner eigenen, während die Flosse sich um seine Beine schlang, seinen geschundenen Körper fest an den des Meerjungmannes zog. 

In seinem Schock wehrte Nolan sich nicht gegen den Fremden, der ihm deutlich zu nahe kam. Er blendete all die Schauergeschichten aus, die er über Meerjungfrauen gehört hatte, zumindest bis er feststellte, dass der Fremde ihn anders als erwartet nicht zurück an die Wasseroberfläche brachte, sondern in die unendlichen Tiefen herabzog. 

Bei einem zweiten Blick auf die vollen, leicht bläulichen Lippen sah Nolan die zahlreichen, nadelspitzen und rasiermesserscharfen Zähne. Zähne, die dazu gedacht waren, festes Fleisch von harten Knochen zu reißen. 

Jetzt konnte Nolan nicht mehr an sich halten. Das hier war keine zufällige Rettung, er war nur ein willkommenes Abendessen! Panik stieg in ihm auf. Mit einem heftigen Ruck riss er sich von dem Meerjungmann los, wehrte sich wild um sich schlagend und tretend gegen dessen Versuchen wieder an ihn heranzukommen und versuchte hektisch Richtung Oberfläche zu kommen. 

Das Wasser brach über ihm auf, mit brennender Lunge schnappte Nolan nach Luft, bevor er hastig einem brennenden Holzstück auswich, das neben ihm ins Wasser einschlug. 

Der Qualm brannte in seinen Augen und seiner Lunge, wenn unter ihm nicht das Monster gewesen wäre, wäre er wieder abgetaucht, doch so paddelte er verzweifelt zur Seite, versuchte nicht von irgendeinem der brennenden Teile getroffen zu werden, doch da der Ozean um ihn herum in Flammen stand, war das schwierig. 

Ein harter Schlag traf Nolan an der Schläfe, er sah im Augenwinkel noch das helle Lodern der Flammen, dann wurde um ihn herum alles schwarz. 

~

Als Nolan wieder zu sich kam, war es um ihn herum so finster, dass er glaubte, wieder in seiner Hängematte unter Deck zu sein. 

In regelmäßigen Abständen stieß etwas gegen seinen Unterschenkel, so lange, bis er leise stöhnend das Bein weg zog, bevor er sich auf den Rücken drehte. 

Über sich sah er unzählige kleine Lichtpunkte. Sterne, wie Nolan erkannte, er lag unter freiem Himmel. 

Sein pochender Kopf brauchte viel zu lange, um zu erkennen, dass er noch am Leben war. Er war nicht tot und er war an Land. Oder zumindest nicht im Wasser. 

Nolan begann unwillkürlich zu lachen, ein heiseres, raues Lachen drang aus seinen spröden Lippen, es zog schmerzhaft an seinem verwundeten Bauch, doch er konnte es nicht stoppen. 

Mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl setzte er sich langsam auf und stützte beide Hände auf den Boden. Sand. Er fühlte warmen Sand unter seinen Händen. Daraus konnte Nolan schlussfolgern, dass er an einem Strand war. 

An seinen nackten Füßen spürte er die kühlen Wellen, die immer wieder und wieder den sanft ansteigenden Strand hochkletterten. 

Nolan atmete die klare, salzige Luft tief ein und hielt sie einige Sekunden lang in seiner Lunge, bevor er wieder aus atmete. In dem dunklen Wasser spiegelten sich die Sterne und der große Mond. 

Mit einem gequälten Stöhnen wuchtete Nolan sich wieder auf die Füße, seine zitternden Beine gaben fast unter ihm nach, doch er stolperte einige Schritte, bis er zu einem großen Stein kam, dessen Konturen in der Dunkelheit nur schwach zu sehen waren. Er klammerte sich schwer atmend an die raue Oberfläche, lehnte den Kopf daran und dann brannten plötzlich die salzigen Tränen in seinen Augen.

Nolan beruhigte sich erst nach einigen Minuten wieder, als das Pochen in seinem Schädel noch stärker und schmerzhafter geworden war. Mit einer trotzigen Geste wischte er sich mit dem feuchten Ärmel die Augen und die Nase ab, bevor er sich langsam wieder aufrichtete. 

Tief einatmend legte er wieder den Arm auf den breiten Schnitt und drückte so fest darauf, dass er den Schmerz nicht mehr fühlte, bevor er langsam los ging, zurück zu der Stelle, wo er gelegen hatte. 

In regelmäßigen Abständen schwemmte die See einen Stock an den Strand, nur um ihn in das Meer zurückzuziehen. Nolan griff danach, schloss die Finger um das nasse Holz und stützte sich darauf ab. 

So machte er sich humpelnd auf den Weg. Er würde sich jetzt erst einmal umgucken und nach Menschen suchen. Deswegen wankte er erst einmal über den Sand zurück zu dem Stein und von dort aus dann weiter, entlang dem Wasserrand. 

Unter seinen nackten Füßen wurde aus dem feinen Sand Steine, größere und kleinere Felsbrocken, die ihm in die Sohlen schnitten und das Vorwärtskommen schwierig machten, doch er ging weiter. 

Nach einigen Metern musste Nolan eine Pause machen, er setzte sich so auf einen Stein, dass er die nackten Zehen ins Wasser tauchen konnte. Ein tiefes Seufzen kam über seine Lippen, er stützte den Kopf nachdenklich in seine Hand und betrachtete sein verschwommenes, kaum sichtbares Spiegelbild. Er sah furchtbar aus. 

Seine Gedanken wanderten weg von der Insel, raus auf das offene Meer. Nein, nicht auf das Meer, sondern unter die Wasseroberfläche, hin zu leuchtenden Punkten, die Augen waren. 

Sein Cousin hatte ihm erzählt, dass Meerjungfrauen eigentlich Menschen waren. Frauen, die sich auf ein Schiff geschlichen hatten und entdeckt worden waren. Man hatte ihnen die Arme und Beine gefesselt, bevor man sie über Bord geworfen hatte. Ohne es verhindern zu können waren die Frauen bis auf den Meeresgrund gesunken, wo sie ertrunken waren.

Ihre gefesselten Beine waren zu einer starken Flosse zusammengewachsen und das salzige Wasser hatte ihre Stimmbänder zerkratzt, als sie gelernt hatten, unter Wasser zu atmen. 

Sein Cousin hatte gesagt, dass die Frauen auf Rache aus waren. Dass sie Boote und Schiffe angriffen und Seemänner ins Wasser zerrten, um sie am Meeresgrund zu ertränken. Wie in die Geschichte ein Mann passte, das wusste er auch nicht. 

Ein roter Schleier im Wasser beanspruchte seine Aufmerksamkeit für sich und als Nolan sich dicht an das Wasser beugte, um der Sache auf den Grund zu gehen, hörte er neben dem Fiepen ihn seinem Ohr noch etwas anderes. Ein lautes Platschen, kurz darauf schlug das Wasser unter seinen Fingern größer Wellen, mehr Blut strömte ins offene Meer. 

Nolan verstand erst nach einigen Momenten, was das bedeutete. Da war jemand verletzt. Und dieser jemand verlor gerade viel Blut. 

Wenn er hier angeschwemmt worden war, dann war es gut möglich, dass auch jemand anderes aus seiner Mannschaft hier angeschwemmt worden war. Mit neuem Tatendrang gefüllt stützte er sich wieder hoch und humpelte hastig am Wassersaum entlang, bis er etwas am Strand zwischen den Steinen liegen sah, das entfernt menschlich sein konnte. So zügig wie nur irgendwie möglich taumelte er zu der Erhebung und sank daneben zusammen. 

Es war wirklich ein Mensch. Nolan packte ihn an der nassen Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Der Geruch ließ ihn würgen, er brauchte dem Toten nichts ins Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass er schon seit Jahren tot war. Beim zweiten Blick erkannte er auch die rote Weste. 

Kurz stiegen Tränen in seine Augen, doch Nolan blinzelte sie weg, als er verstand, dass das Blut wo anders herkommen musste. Sein Blick wanderte über den Strand, bis er dann einige Meter von sich entfernt, im seichten Wasser zwischen den Steinen eine Bewegung sah. 

Hastig erhob er sich wieder und watete auf den Stock gestützt in die Fluten. Irgendwas zappelte in dem tiefschwarzen Wasser, es sah fast aus wie ein großer Fisch. Vielleicht ein Delfin. 

Erst als Nolan schon ganz nahe war, sah er den grünen Schimmer. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er den Meerjungmann erkannte. 
Ob er ihm durch den Ozean bis hier hin gefolgt war, weil er sich das Abendessen nicht hatte entgehen lassen wollen? Nolan wusste es nicht.

Was er wusste war, dass in der Schwanzflosse des Anderen ein Säbel steckte, das sich offensichtlich so zwischen den Steinen verkeilt hatte, dass er nicht mehr freikam. Blut sprudelte aus der Wunde, doch Nolan stand wie erstarrt da, als er verstand, was hier passiert war. 

Die beiden Fremden waren zweifelsohne in einen Kampf geraten und der Meerjungmann war als Sieger aus dem Kampf hervor gegangen, das sagten zumindest die Bissspuren am Hals des Toten. Und trotzdem hatte der Pirat es geschafft, den Meerjungmann zu treffen und festzusetzen. 

Das Platschen verstummte ruckartig, als der Meermann Nolan bemerkte. Der Blick aus seinen grünen Augen ruhte so intensiv auf ihm, dass Nolans Haaransatz kribbelte. Unsicher wich er einige Schritte zurück, bis an den Strand, doch der Fremde machte keine Anstalt, ihm zu folgen.

Stattdessen lag er ganz ruhig da, auf die Hände gestützt und den Kopf aus dem Wasser gehoben. Seine Brust hob und senkte sich langsam, er zerrte nicht mehr wie von Sinnen an dem Säbel und schlug auch nicht wie wahnsinnig mit der Flosse um sich. 

Nolan wollte gehen, er wusste das es klüger war, zu gehen, aber er brachte es nicht über sich. Er schaffte es nicht, den Blick von dem Meerjungmann zu lösen, weil er wusste, dass der hier sterben würde. 

Mit einem leisen Seufzen raufte er sich die Haare, bevor er auf den Stock gestützt wieder etwas näher stolperte.

Der Meerjungmann blieb ganz ruhig. Er sah einfach aus den leuchtenden Augen zu ihm rüber, atmete tief ein und aus. 

Nolan kam genau so nahe, dass er außerhalb seiner Reichweite blieb und suchte sich einen möglichst festen Stand, bevor er den Blick auf das blasse Gesicht richtete. 

„Wenn du mich angreifst, sterben wir beide.“ Seine Stimme war vom Salzwasser rau und kratzig. Der Andere blinzelte langsam, sagte aber nichts dazu. Nolan redete einfach weiter. 

„Ich versuche dir zu helfen, okay? Ich guck mir das alles an und dann versuch ich dir da rauszuhelfen.“ 

Als er vorsichtig näherkam und sich über das Schwert beugte, schloss der Meerjungmann langsam die Augen und lehnte sich mit einem tiefen Seufzen zurück. 

Nolan kniete sich in das Wasser, das ihm knapp bis zum Nabel reichte. Wann immer eine Welle besonders hoch schwappte, brannte das Salz in dem Schnitt, aber er biss die Zähne zusammen und sagte nichts. 

„Ich fass dich jetzt an.“ Erklärte er leise, bevor er seine Hand auf die Schuppen legte. Sie waren unter seiner Hand glatt und kühl.

Mit der anderen Hand fasste er das Säbel und obwohl er es höchstes ein paar Millimeter bewegte, trat sofort neues Blut aus der Wunde. 

Nolan ließ wieder von ihm ab und stand langsam auf, um zu dem Kopf des Meerjungmannes zu humpeln. „Hey.“ Der Andere öffnete die Augen erneut und blickte ihm ruhig an.

Seine wallenden, braunen Haare klebten ihm nass an der Stirn, dem Hals und den Rippen. 

„Ich versuch jetzt, den Säbel raus zu ziehen.“ Keine Antwort, keine Reaktion. Das war zwar kein ja, aber auch definitiv kein nein. „Aber das wird weh tun, verstehst du? Ich tu dir jetzt gleich weh, weil ich das muss, wenn ich dir helfen will und nicht, weil ich dir wehtun will. Verstehst du das?“

Schweigen. 

„Ich möchte nur, dass du nicht mich als Übersprungshandlung angreifst, in Ordnung?“ Nolan wusste nicht einmal, ob der andere ihn überhaupt verstand. Resigniert seufzend senkte er den Kopf, bis sich plötzlich eine nasse Hand an seine legte, schlanke Finger seine umschlossen. Er sah irritiert auf, dem Meerjungmann direkt in die grünen Augen. Er hielt den Blickkontak, bis der Fremde vorsichtig nickte. „Gut.“

Nolan löste sich wieder von ihm und zog seine Hand aus der des anderen, um zurück zu der Flosse zu humpeln. 

Leise seufzend zog er sich das zerrissene Hemd aus und wickelte ihn um den nassen, glitschigen Griff des Säbels, um zumindest ein bisschen Halt zu haben, bevor er beide Hände darumlegte. 

„Drei, zwei, eins.“ Zählte er langsam runter, bevor er dann mit einem kräftigen Ruck die Klinge aus dem Fleisch zog. Blut sprudelte aus der Wunde, Nolan wollte gerade das Hemd vom Säbel wickeln und damit die Wunde verbinden, doch der andere befreite sich zappelnd aus den Steinen, das kräftige Schlagen seiner Schwanzflosse verursachte eine so starke Welle, dass Nolan von den Füßen gerissen wurde. 

Sprachlos musste er zusehen, wie der Meerjungmann im tiefen Wasser verschwand. 

~

Der nächste Morgen empfing Nolan mit offenen Armen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und sie schien erbarmungslos auf ihn herunter. Der Himmel war klar und wolkenlos, doch das konnte seine Laune kaum heben. 

Antriebslos blieb er einige Momente lang im Sand liegen, die brennenden Augen zur Sonne gerichtet, dann befreite er die Arme aus dem Sand. In der kalten Nacht hatte er sich im Sand eingegraben, um nicht zu frieren, jetzt schaufelte er sich langsam wieder frei. 

Leise ächzend setzte er sich wieder auf und wischte sich den Sand von den Beinen, um aufzustehen. 

In dem Schnitt an seinem Bauch klebte der Sand und die Hose war ebenfalls vollgeklebt. 

Nolan verlagerte das Gewicht auf ein Bein und zog sich die Hose runter, bevor er sich dann auf das andere Bein stellte und sie auszog. 

Mit kleinen Schritten ging er wieder zum Wasser. Die kleinen Wellen umspielten seine Knöchel, unter seinen Füßen stob der Sand auf. Im klaren Wasser konnte er kleine Muscheln sehen. 

Unter anderen Umständen hätte Nolan es hier wohl schön gefunden, jetzt gerade hatte er keinen Blick dafür. 

Vorsichtig, um nicht in einen Seeigel zu treten, trippelte er bis zur Hüfte ins Wasser, um zuerst die Hose zu waschen, die vor Sand und Dreck stand. 

Als sie zumindest akzeptabel sauber war, legte er sie sich über die Schulter, bevor er sich seinem sandigen Bauch widmete. Obwohl es ihm die Tränen in die Augen trieb, öffnete er die dreckige, verkrustete Wunde wieder. Das Salz brannte und das warme Blut floss über seine Finger, doch Nolan wusch sie tapfer aus, bevor er wieder an Land watete. 

Obwohl die Hose noch nass war, zog er sie wieder an, um zumindest nicht ganz nackt zu sein. Mit dem Hemd musste er sich gar nicht erst bemühen, es war so zerrissen, dass es einfach keinen Sinn hatte, es wieder anzuziehen. 

Nolan riss es kurz entschlossen in Streifen und verband damit notdürftig den Schnitt, mit den übrigen Streifen umwickelte er seine Füße, um zumindest das Gefühl von Schuhen zu haben und sich die Sohlen nicht sofort zu verletzen. 

Sein Magen knurrte leise, kein Wunder. Nolan musste das letzte Mal am Abend vor dem Angriff gegessen haben. Das war über vierzig Stunden her. Und wann hatte er zum letzten Mal etwas getrunken? Das wusste er gar nicht. 

Sein Blick wanderte weg vom Meer, hin zum Land. Die Enttäuschung traf ihn wie eine Sturmböe. Er war nicht auf dem Festland, nicht einmal auf irgendeiner großen Insel. Wenn er ehrlich war, dann wusste Nolan nicht einmal, ob die Insel bewohnt war. Vermutlich nicht. 

Mit einem leisen Seufzen hob er seinen Stock auf, warf noch einen letzten Blick über die Schulter, bevor er losging. 

Die Insel war eigentlich nichts anderes als ein großer Sandhaufen mit einer steinigen Seite. Es gab keine Pflanzen, was Nolans Hoffnung auf Wasser zerschlug und wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass ein Schiff eine Insel ansteuerte, die siebzehn Schritte in die Breite und dreiundzwanzig Schritte in die Länge groß war, das hätte er sich auch ausrechnen können, wenn seine Tante ihn nicht in die Schule gezwungen hätte. 

Nolan wusste nicht, ob er es sich erlauben konnte, jetzt in einem Akt der Frustration gar nichts oder etwas total Blödes zu tun, oder ob er sich einfach zusammen reißen sollte, um seine Situation zu verbessern. 

Mehrere Minuten lang starrte er einfach nur regungslos in die Stille, bevor er fast schon wütend ausspuckte. Dann grub er die Hände in die Taschen und sah hoch zu der erbarmungslosen Sonne. Er war innerhalb kürzester Zeit dem sicheren Tod mehrfach von der Schippe gesprungen, er hatte zuerst die Dutchman und dann einen Meerjungmann überlebt, er konnte jetzt nicht einfach sterben. Nicht, ohne es nicht zumindest zu probieren. 

Sein erster Weg führte ihn zu dem Toten, der immer noch auf den Steinen lag. 

Kurz war er angeekelt, doch dann zog er ihm doch die Weste aus, um den eigenen Oberkörper vor der unerbittlichen Sonne zu schützen. Dann griff er den Säbel, den er in der Dunkelheit der Nacht neben den Toten hatte fallen lassen. Die Waffe war das wertvollste, was er gerade besaß. Sie würde ihm nichts bringen, sein größtes Problem war die Abwesenheit von Wasser, dicht gefolgt von der gleißenden Sonne, aber er fühlte sich besser, wenn er den Säbel am Gürtel trug.

Nolans Blick richtete sich auf den Horizont, doch kein Schiff war in Sicht. Obwohl er sich die Mutlosigkeit eigentlich verbot, kam ein kleines, wehleidiges Seufzen über seine Lippen, bevor er die Zähne zusammenbiss und die Hände zu Fäusten ballte. 

Er hatte die Flying Dutchman überlebt. Er war dem sicheren Tod von der Klinge gesprungen und dann hatte er zweimal einen Meerjungmann getroffen und er lebte immer noch. Es war eigentlich Zeit zum Feiern.

Als erstes packte er die Leiche unter den Armen und zerrte den Körper von den Steinen in die Mitte der Insel. Nolan wusste nicht, ob es das Land war, die den lebenden Toten umgebracht hatte und er wieder lebendig wurde, wenn das Meer sich seinen Sklaven wieder holte, oder ob die Bisse des Meerjungmannes ihn getötet hatten, aber er wollte es nicht riskieren. 

Erst als das größte Problem beseitigt war, ging Nolan zurück zum Wasser. 

Um sich etwas abzukühlen ging er mit den Knöcheln ins Wasser und schloss erleichtert die Augen. Jetzt, da er sich eine kurze Pause gönnte, pochte seine Bauchwunde heftig. Nolan wollte gerne ins tiefe Wasser gehen, obwohl er wusste, dass das seinem Bauch nicht gut ging, und sich richtig runter kühlen, doch er wusste, dass da draußen jemand lauerte, der vielleicht keine Ahnung von Anstand und Dankbarkeit hatte und eine reichhaltige Mahlzeit sicherlich nicht verschmähen würde. Deswegen spritzte er sich nur das kühle Wasser gegen die Schenkel, bevor er wieder an den Strand ging. 

Sein Blick wanderte wieder zum Horizont, er biss sich kurz auf die Unterlippe, bevor dann leise seufzte. Nachdem er diesen geradezu winzigen Sandhaufen ausgemessen hatte, ging es nun an das eingemachte. Zum einen musste er sich beschäftigen und ablenken, zum anderen musste er an seinem Überleben arbeiten. Dafür wollte er alles sammeln, was auf dieser verdammten Insel zu finden war, ganz gleich wie sinnvoll oder sinnfrei es wirkte. 

Nolan begann da, wo es angefangen hatte. Neben den neuen Fußspuren sah er im Sand immer noch den Abdruck, wo er zum ersten Mal aufgewacht war. 

Unwillkürlich begann er wieder vor sich hinzusummen, während er sich nach einem Stück Holz bückte. 
Eigentlich, so dachte er, hatte er mit der Insel ziemlich viel Glück gehabt. Wenn er hier hingetrieben worden war, dann war es wahrscheinlich, dass viel hier her gespült wurde. Vielleicht war ja tatsächlich etwas Brauchbares darunter. 

In seiner spontanen Hochstimmung stimmte er die letzte Strophe seines Schlafliedes an. 

Once we charged into that harbor
The Dutchman heaved away
And we heard their bitter screams
For the devil lost his prey
Once we made it safely
To the leeward of the bay
We cracked that barrel open
To see what those letters say

Mit einer Hand am Stock brachte er das Treibholz zu dem Toten in die Inselmitte, bevor er wieder runter zum Wasser ging und das nächste Stück aufhob und ebenfalls zu dem wachsenden Haufen trug. 

In der Hoffnung auf etwas zu essen, sammelte Nolan nicht nur Steine und Holzstücke, sondern auch Muscheln. Vielleicht konnte er ja sogar mit dem Säbel einige Fische fangen. Es war zumindest einen Versuch wert.

There must have been a hundred
And that’s when we realized
These moldy parchments were addressed
To those who’d long since died
If you see a battered frigate
‚Neath a grey and stormy sky
Give way and watch behind you
Or you’ll hear your captain cry

Als Nolan endlich einmal um die Insel herumgekommen war, war der Haufen auf eine beachtliche Größe gewachsen. Lediglich dem steinigen Teil der Insel war er noch nicht Herr geworden. 

Obwohl er wirklich viel gefunden hatte, jede Menge Holz, Steine und Muscheln und sogar ein Delfingerippe, war der große Schatz ausgeblieben. Nolan hoffte, ihn zwischen den Steinen zu finden, was auch immer es sein würde. 

Doch bevor er sich an die Steine machte, ging er erst noch einmal runter ans Wasser, setzte sich so in den Sand, dass seine Beine bis zu den Knien im Wasser waren. 

Nolan schwitze. Er schwitzt so sehr, dass er nicht wusste, wo sein Körper die Flüssigkeit zum Schwitzen hernahm. Seine Zunge klebte trocken an seinem Gaumen, sie fühlte sich geschwollen und nutzlos an. 

Er erlaubte sich einige Minuten lang eine Pause, bevor er wieder aufstand und zum Horizont sah. Kein Schiff in Sicht. 

Seufzend ging er zu den Steinen und bückte sich nach einem Stück Holz, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit beanspruchte. 

Draußen, zwischen den Steinen im Wasser war etwas. Nolan kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was da draußen trieb, doch es war sinnlos. Trotzdem, da draußen war etwas Großes. Etwas, das vielleicht wertvoll oder zumindest nützlich war. 

Nolan blendete aus, dass da draußen die Gefahr lauerte und er blendete auch aus, dass die Bergung schmerzhaft sein würde. Ohne weiter darüber nachzudenken, kletterte er auf einen Stein und von dort aus auf den nächsten. So wollte er zu dem Ding kommen, was da draußen trieb, ohne ins Wasser zu treten. 

Es war ein Segel. Ein, an einer Seite angebranntes, weißes Segel, das Nolan so bekannt vorkam, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. 
Er unterdrückte ein Schluchzen und streckte seinen Stock nach dem nassen Stoffstück aus, um es auf den Stein zu zerren. Das Segel war schwer, Nolan musste sich mit aller Kraft dagegen lehnen, um es aus dem Wasser über die Steine an Land zu ziehen. 

Blut tränkte den provisorischen Verband an seinem Bauch, doch Nolan ignorierte es, als er noch etwas sah. Am Strand, im Sand, lag eine Flasche. Eine Flasche und sie war noch verkorkt. 

Nolan ließ von dem Segel ab, wankte zu der Flasche und sank daneben zusammen. Egal war darin war, es kostete ihn alle Willensstärke, die Flasche nicht aufzureißen und mit einem Zug zu leeren. 

Stattdessen griff er die Flasche, hielt sie wie einen Schatz in beiden Händen und betrachtete sie Minutenlang andächtig, bevor er sie langsam entkorkte. 
Zwei Schlucke, mahnte er sich. Zwei Schlucke durfte er trinken, den Rest würde er aufsparen. 

Der Vorsatz war gut, doch kaum, dass das kühle Glas seine Lippen berührte und die brennende Flüssigkeit in seine Kehle rann, gab es keinen Halt mehr. Nolan leerte die Flasche mit einem Zug so hastig, dass er befürchtete, sich zu übergeben. Er riss sich zusammen und schloss die Augen, während er das kühle Glas an seine heiße Stirn drückte, um die so wichtige Flüssigkeit in seinem Magen zu behalten. 

Erst nach einigen Minuten stand Nolan langsam wieder auf und brachte die leere Flasche und das nasse Segel ebenfalls zu dem Haufen. Dann setzte er sich neben den Haufen und starrte raus auf den Ozean. Das Wasser schien ihn zu verspotten. 
Nolan riss sich erst nach fast einer halben Stunde wieder zusammen. Mühsam beherrscht faltete er das Segel, oder zumindest das was davon übrig war, zusammen und begann dann die Fundstücke zu sortieren. 

Erst als er damit fertig war, widmete er sich wieder dem Toten. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, auch seine Hosentaschen zu durchsuchen. 

Die Linke war leer, aber in der rechten fand er eine Münze. Eine goldene Münze, die mit Sicherheit viel wert war, auf diesem verdammten Sandhaufen aber wertloser war als die leere Flasche. Nolan streckte sie trotzdem ein, bevor er zu der langsam untergehenden Sonne sah. 

Er würde ein Feuer machen, beschloss er. Ein Feuer, um den Toten, der bereits heftig stank, zu verbrennen. Dann würde er versuchen, aus dem Gerippe und dem Tuch ein behelfsmäßiges Zelt zu bauen und ein paar Muscheln zu essen. 

Ächzend begann Nolan Holz über die Leiche zu stapeln, bevor er begann, zwei Holzstöcke aneinander zu reiben. 

Der Funke sprang erst über, als seine Arme schon längst taub und seine Handballen voller Blasen war.   

Zumindest begann das trockene Treibholz sofort lichterloh zu brennen, doch Nolan konnte sich kaum darüber freuen. 

Er erlaubte sich keine Pause, sondern ging zu dem Gerippe. Nolan steckte die bleichen Rippen einige kleine Schritte von dem stinkenden und qualmenden Feuer in den Sand und legte kleine Steine um sie herum, damit sie auch stehen blieben, bevor er das längst trockene Segel darüber spannte.

Weil der Raum zwischen Segel und Sand für seinen Geschmack zu schmal war, begann er den Sand weg zu scharren, so dass eine Kuhle entstand, in der er Schlafen konnte. 

Vielleicht konnte das Segel ihm sogar Schutz vor der Sonne und der Hitze bieten, wenn er es in das kühle Meerwasser tauchte.

Als Nolan endlich so weit war, dass er sich den Muscheln widmen konnte, hatte er vor Erschöpfung keinen Hunger mehr und er wollte auch nicht schlafen. Stattdessen ging er wieder runter zum Wasser, den Stock und das Säbel bei sich, und setzte sich so in den Sand, dass die schwappenden Wellen seine stoffbedeckten Zehen nicht berührten, wenn sie den Strand heraufkletterten. 

In seiner Verzweiflung begann Nolan wieder vor sich hinzusummen, während er die blonden Haare aus seinen Augen strich. Das Salzwasser hatte sie verkrustet, aber er hatte nichts, um es herauszubürsten. 

Turn this ship around me boys!
Turn around and run!
That storm it wants a battle
And it’s sure that we’re outgunned!
That ghostly ship is hunting us
It’s bringing on the gale!
She’s called the Flying Dutchman
And it’s rage that fills her sails!

Um Nolan herum wurde es dunkel. Die Sonne war schon lange im Meer versunken und die Sterne standen unendlich weit entfernt am Himmel oben, als er das schwache, grüne Leuchten im Wasser entdeckte, das langsam näherkam. 

Da war wohl jemand hungrig geworden. Es erfüllte Nolan mit einer tiefen Gleichgültigkeit, dass da draußen jemand lauerte, der ihn auf der Insel gefangen hielt. Solange sie beide in ihrem Habitat blieben und die Grenzen nicht überschritten, waren sie keine Gefahr füreinander.

Und wenn der Meerjungmann da war, dann war Nolan zumindest nicht allein. 

Er reagierte nicht darauf, dass der Andere zutraulich näherkam, furchtlos so dicht an das Ufer geschwommen kam, dass er die Hände in den trockenen Sand legen und den Oberkörper aus dem Wasser heben konnte. 

Nolan schwieg und hielt unter dem intensiven Blick aus den grünen Augen ganz still, bis der fremde Mann den Zeigefinger ausstreckte und damit in den Sand malte. Nolan verstand erst nach einigen Momenten, dass der andere schrieb und nicht malte, weil er von rechts nach links, statt von links nach rechts schrieb und auch dann konnte er die vier Buchstaben nicht sofort entziffern. 

Erst nach einigen langen Momenten verstand Nolan, was der Andere getan hatte. Er konnte das Wort, das der Meerjungmann mit wackeligen Linien in den Sand geschrieben hatte, mühelos lesen, weil es aus seiner Perspektive geschrieben war.

Er musste den Kopf nicht drehen, nicht wenden und auch nicht umdenken, weil der Meerjungmann aus seiner Perspektive über Kopf geschrieben hatte. Das sprach zweifelsohne für seine Intelligenz. Trotzdem wurde Nolan aus der simplen Anweisung nicht wirklich schlau. 

Sing

„Ich soll singen?“ Fragte Nolan. Von dem Anderen kam keine Antwort. Er sah Nolan einfach ruhig an. „Was soll ich singen?“ Auf die Schnelle fiel ihm nichts ein. Sein Kopf war leer. Er wusste nur, dass es zweifelsohne besser für ihn und seine Gesundheit war, wenn er den Meerjungmann nicht gegen sich aufbrachte, vielleicht sich sogar gut mit ihm stellte.

„Okay, ich hab was.“ Sagte er dann, als ihm einfiel, was er die letzten Stunden ununterbrochen vor sich hin summte. „Das hat meine Tante mir immer zum Einschlafen vorgesungen. Wenn man es in einer Gruppe singt, dann klingt es besser, aber so… Naja.“ Er zuckte mit den Schultern und wartete einige Momente, doch der Andere schwieg nur mit ernster Mimik. Nolan sah das als Zeichen, anzufangen. 

„The sky was grey and cloudy
And the wind was from the west“ sang er leise. „When we spied a battered frigate
With her tattered sail full dressed“ 

Die grünen Augen schlossen sich mit einem langsamen Blinzeln, bevor sie sich wieder öffneten. 

„They signaled they had letters home
They asked if we could take
They dropped them in a barrel
They left bobbing in their wake“ 

Der Meerjungmann verschränkte die Arme im Sand und legte den Kopf darauf ab. Seine Flosse bewegte sich langsam im Takt der Musik. 

Nolan schluckte und merkte, wie fest er die Fäuste geballt hatte. Er bemühte sich, sie zu lockern, während er weiter sang. 

„We reefed the sails and slowed the ship
To fish they barrel out
The old ship sailed to the distance
And we saw her come about
The captain watched through a spy-glass
And we heard him catch his breath
And we saw the storm a-brewing
Had become a wall of death“

Der Meerjungmann hing gebannt an Nolans Lippen, doch der hatte keinen Blick dafür. Weit draußen im Meer hatte er etwas entdeckt. Kein Schiff, aber Leuchtpunkte. Lila, gelb, grün, blau, orange und rot. 

Während er den Refrain anstimmte, fiel ihm die zweite Sache ein, mit der man Meerjungfrauen anlocken konnte. 

„Turn this ship around me boys
Turn around and run!
That storm it wants a battle
And it’s sure that were outgunned!
What of the ship that’s out there
Do we leave her to the gale?
She’s called the Flying Dutchman
And it’s rage that fills her sails!“ 

Man sagte, dass man Meerjungfrauen wie Haie anlocken konnte, indem man Fleischbrocken und ordentlich Blut ins Wasser schüttete, aber auch dass man sie wie Delfine anlocken konnte, indem man sang.

Meerjungfrauen liebten Gesang, weil das salzige Wasser ihre Stimmbänder zerfressen hatte, ihre Stimmen auf ewig rau und heiser gemacht hatte.

Nolan verstummte und rutschte ein Stück den Strand hoch, Richtung des Feuers. Mit einem Feind im Wasser konnte er fertig werden, mit einem Dutzend nicht. Da brauchte er sich nichts vormachen. 

Obwohl er nicht mehr sang, kamen sie trotzdem näher. Nicht nur das. Sie kreisten ihn ein, verteilten sich um den Sandhaufen herum, der Nolan plötzlich noch kleiner erschien.

Hastig zog er sich bis zu dem stinkenden Feuer zurück und griff ein langes Holzstück, dessen Spitze brannte. Das würde ihn vielleicht sogar besser schützen als der Säbel. 

Die Frauen waren allesamt hübsch, mit durchscheinender Haut, aber Nolan hatte nur Augen für ihre scharfen Zähne und die langen, dünnen Arme, die in den Sand griffen. 

Nolan biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie angreifen würden, würde er sich verteidigen, soviel stand fest. Jetzt war es ihm egal, ob er sich mit dem Meerjungmann gut stellen konnte oder nicht, nachdem dieser die anderen Bestien angelockt hatte, war ihm nur noch sein Überleben wichtig. 

Erst nach einigen Minuten verstand er, dass sie ihn nicht angriffen. Sie lagen nur ganz ruhig da, die Arme in den Sand gestützt und die Flossen langsam hin und her schlagend und die Augen auf ihn gerichtet. Obwohl sie augenscheinlich nur darauf warteten, dass er weiter sang, wollte die Anspannung nicht weichen und er ging auch nicht wieder runter ans Wasser. Er blieb bei dem Feuer sitzen und stimmte mit zitternder Stimme den Refrain wieder an. Sie stiegen sofort mit ihm ein, verliehen dem alten Lied den gewohnten Klang. 

„Turn this ship around me boys
Turn around and run!
That storm it wants a battle
And it’s sure that were outgunned!
What of the ship that’s out there
Do we leave her to the gale?
She’s called the Flying Dutchman
And it’s rage that fills her sails!“ 

Als der Refrain beendet war, wollte Nolan eigentlich in die zweite Strophe einsteigen, doch eine plötzliche Bewegung riss ihn aus der trügerischen Ruhe. 

Er sprang auf, als sich eine Meerjungfrau mit schmalen Augen und olivfarbener Haut in den Sand warf, ihre scharfen Zähne schnappten ins Nichts und Nolan wich zurück, doch der Meerjungmann klärte die Situation, noch bevor Nolan zum Angriff übergehen konnte. 

Er packte sie an der Flosse und riss sie zurück in das Wasser, Nolan hielt die Luft an, als sie fauchend gemeinsam untergingen. Das Wasser spritzte und schlug Wellen, die anderen Meerjungfrauen verschwanden im wieder im Wasser und kurz darauf war es wieder still um den jungen Piraten. 

Eins war klar, der Meerjungmann hatte ihm gerade das Leben gerettet und war offensichtlich nicht gewillt, ihn zu teilen. Nolan wusste nur nicht, ob der Meerjungmann nur seinem Gesang weiterhin lauschen oder ihn als Mahlzeit haben wollte. 

Er legte sich eine Hand ans Herz und starrte raus in das nun wieder ruhige Wasser. Obwohl keins von den Monstern mehr zu sehen war, wusste er genau, dass er das Wasser nie wieder betreten würde. 

Nolan schreckte erst auf, als Glut und Asche von dem brennenden Stock in seiner Hand auf seinen Arm fielen, er schrie auf und warf den Stock ins Wasser, wo er zischend erlosch. 

Er sah noch einmal hoch zu den Sternen und biss sich auf die Unterlippe, als ihm schon wieder die Tränen in die Augen stiegen. Bevor er richtig losheulen konnte, kroch er lieber zurück in sein notdürftiges Zuhause und rollte sich dort ganz klein zusammen.

~

Als Nolan am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich so mies, dass er nicht aufstehen wollte. Stattdessen starrte er mit müden Augen auf das weiße Segel, unter dem sich die Hitze bereits staute. Sein Kopf pochte und sein Magen tat weh, doch beides konnte ihn nicht zum Aufstehen bewegen. 

Er wusste, dass es dumm war, liegen zu bleiben, dass ihm das weder gut tat noch half, aber er wollte nicht aufstehen. Er fühlte sich nicht danach. Natürlich wusste Nolan, dass er besser wäre, die Insel wieder abzusuchen, zu gucken ob etwas Neues angespült worden war, oder zumindest ins Wasser zu gehen um sich selbst herunter zu kühlen, doch es ging nicht. 

Zumindest, bis ein kleiner Stein zu ihm in das improvisierte Zelt geflogen kam. Nolan versuchte, sich nicht darum zu kümmern, nicht darüber nachzudenken, doch der nächste Stein traf ihn am Fuß und scheuchte ihn dann doch aus dem Sand. 

„Was ist?“ Blaffte er, während er sich aus dem Sand wühlte und aus der Kuhle kroch. Keine Antwort. Genervt wühlte er sich in die gleißende Sonne und sah sich um. Auf der Insel war niemand zu sehen. Nur am Strand, da lag eine neue Flasche. 

Nolan sah sich misstrauisch um, bevor er zu der Flasche ging und sie ohne zu zögern aufriss, um sie an seine Lippen zu setzen. Das kühle Wasser rann durch seinen trockenen Mund, seine ausgedörrte Kehle entlang. 

Viel zu schnell war die Flasche leer und sein Magen schien zu platzen. Nolan rülpste leise und wischte sich den Mund ab, bevor er taumelnd auf die Beine kam. Mit langsamen Schritten wankte er zurück zu dem Feuer, das immer noch brannte und legte seine Flasche zu der anderen. 
Ein heiseres Fauchen riss ihn aus seinen Gedanken, was die Flasche mit den Steinen zu tun hatte, er sah zum Wasser. 

Das mittlerweile vertraute Gesicht einige Meter vom Wassersaum zu sehen, machte ihn wütend. 

„Was?“ Er griff das Säbel und nahm es fest in die Hand, während er zum Wasser stürmte. „Lass mich in Ruhe! Ich weiß nicht, was du von mir willst, lass mich einfach in Ruhe! Ich bin nicht dein Essen, du bekommst mich nicht! Lieber verhungere ich hier oben, als dass ich von dir ertränkt werde!“ 

Der Meerjungmann blieb ruhig, ließ sich von dem Gebrüll augenscheinlich nicht beeindrucken. Ganz im Gegenteil, er kam langsam näher geschwommen, bis zu den Steinen und dann so nahe, dass er nur noch zwei große Schritte von Nolan entfernt war, im Wasser wartete. 

Nolan wedelte mit dem Säbel und richtete die Spitze auf das blasse Gesicht. „Geh zurück ins Wasser!“ Fauchte er ihn gereizt an. Er war wütend und der andere war ein willkommenes Ziel. 

Zumindest bis er die linke Hand aus dem Wasser hob. Nolan wollte ihn angreifen, doch dann entdeckte er die Glasflasche in seiner Hand. Sie war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt und fest verkorkt. Der Pirat war nicht dumm. Er wusste sofort, dass die beiden vorherigen Flaschen nicht zufällig hier angetrieben worden waren. 

Unsicher biss er sich auf die Unterlippe und senkte den Säbel. Er wollte diese Flasche. Er brauchte sie. Und er wusste nicht, wie er am besten darankam. 

„Okay.“ Murmelte er leise und ging in die Knie, bevor er langsam die Hand nach der nassen Flasche ausstreckte.

„Ich kenn noch ein anderes Lied. Wenn du mir die Flasche gibst, dann singe ich es dir vor.“ Die sanft geschwungenen Lippen öffneten sich einen Spalt, als der nun doch nicht mehr so Fremden die Flasche in den Sand legte und das Gesicht in die Hände mit den langen Fingern stützte. Seine Augen waren unverwandt auf Nolan gerichtet, der, ohne von ihm weg zu sehen die Hand nach der Flasche ausstreckte und sie zu sich zog. 

Der Meerjungmann blinzelte langsam, sein Brustkorb hob und senkte sich rhythmisch. 

Nolan wurde ganz heiß. Er kannte noch ein anderes Lied. Er kannte noch viel mehr Lieder, doch sein Kopf war leer. Nichts, wirklich gar nichts wollte ihm einfallen. Und deswegen begann er zu reden. 

„Ich heiße Nolan. Ich glaube, das habe ich dir noch gar nicht gesagt. Ich bin jetzt 23 Jahre alt und seit ich volljährig bin auf der See unterwegs. Davor habe ich bei meiner Tante und noch davor bei meiner Mutter gelebt. Mein Vater war Pirat. Aber eigentlich wollte ich nur fragen, wie du heißt.“
 
Der magere Körper wiegte sich kurz mit einer großen Welle mit, dann streckte der fremde Mann wieder seinen Finger aus und malte wieder vier große Buchstaben in den Sand. Wieder über Kopf aus seiner Perspektive, aber genau richtig für Nolan. 

Froy

„Du heißt Froy?“ Langsames Nicken. Nolan lächelte. Das war schon einmal ein Anfang. Sie hatten einen ersten Kontakt zueinander aufgebaut. „Wie geht es deiner Verletzung?“ Froy warf einen Blick über seine Schulter, bevor er unschlüssig mit ihnen zuckte.

„Kannst du nicht reden?“ Fragte Nolan weiter. Immerhin hatte er die anderen Meerjungfrauen auch singen gehört. Stimmen hatten sie also. 
Ein Beben lief durch Froys mageren Körper, der Meerjungmann biss sich auf die Unterlippe, bevor er den Mund öffnete. Nolan schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund, als er sah, dass Froy hinter den scharfen Zähnen keine Zunge mehr hatte.

Wobei, das war falsch. Der andere hatte eine Zunge, aber der Teil, den man zum Sprechen brauchte, war offensichtlich abgeschnitten worden. 

Froy schloss den Mund wieder und schob sich ein Stück zurück ins Wasser. Nolan folgte ihm sofort, umgriff sein Handgelenk, um zu verhindern, dass der Andere verschwand. 

„Warte.“ Bat er. Er wollte nicht allein auf der Insel zurückbleiben. „Wo hast Du die Flaschen her? Gibt es da noch mehr davon? Ich brauche die echt dringend, verstehst Du?“

Der Meerjungmann sah ihn aus den leuchtenden Augen an, bevor er sein Handgelenk wieder aus Nolans Griff befreite und im Wasser verschwand. Nolan versuchte nicht einmal, ihm zu folgen. 

Er blieb einsam und verwirrt am Strand zurück, in seiner Hand die noch volle Glasflasche, die er so festhielt, wie er nur konnte. 

Nolan verstand nicht, was hier passierte. Er wurde aus Froys Verhalten nicht schlau, er begriff nicht, warum der Meerjungmann versucht hatte ihn umzubringen und ihn jetzt am Leben hielt. Das ging über simple Dankbarkeit heraus, oder? War es nur ein Trick, um sein Vertrauen zu erschleichen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er auf Froys Hilfe angewiesen war. Und, dass da draußen Meerjungfrauen waren, für die er definitiv nicht mehr als eine Mahlzeit war. 

Ein leises Seufzen kam über Nolans trockene Lippen und sein Magen knurrte. Er ignorierte beides und zog vorsichtig den Verband von seinem Bauch. Es tat weh, weil das getrocknete Blut in den Leinen klebte, aber er zog den Stoff trotzdem ab und betrachtete die Wunde. Sie sah nicht gut aus. Aber sie war trotzdem nicht sein größtes Problem. Bevor sie ihn umbrachte, würde er verdursten oder verhungern. 

Nolan erhob sich langsam und zog den Verband wieder richtig hin, bevor er sein Säbel und die Flasche hochhob, und zurück zu seinem Unterschlupf wankte. Die Flasche vergrub er unter dem Segel im Sand, bevor er sich auf seinen Stock stützte und das Segel runter zum Wasser brachte, wo er es in das Wasser legte und wartete, dass es sich vollsog. Als es so nass war, dass er es kaum noch heben konnte, zog er es zurück zu den Rippen und spannte es erneut darüber, um in die Kuhle hineinzukriechen. 

In der Mittagssonne war es zu heiß, um sich draußen herum zu treiben. Er würde am Abend gucken, ob etwas brauchbares auf den Sandhaufen getrieben war, jetzt versuchte Nolan sein Glück erst einmal mit den Muscheln. 

Er griff eine der Schalen und einen Stein und hebelte sie auf. Das Innere der Muschel war glitschig und es roch nach Fisch. Nolan rümpfte die Nase. Er hatte noch nie Muscheln gegessen und er war sich auch sicher, dass sie ihm nicht schmecken würden.

Trotzdem nahm er mit spitzen Fingern das nasse Fleisch aus den Schalen und steckte sich in den Mund, um es ohne zu kauen schluckte. Es schüttelte ihn, sein Magen rebellierte, doch er übergab sich nicht. Obwohl er nicht wollte, griff er die nächste Muschel und den Stein. 

Als sein Magen voll war, war Nolan schlecht. Er war sich sicher, dass er Muschel lebendig lieber mochte und der Gedanke daran, dass er in den nächsten Tagen noch mehr rohe Muscheln essen würde, machte es noch schlimmer. Obwohl er nicht mehr ins Wasser gehen wollte, spielte er trotzdem mit dem Gedanken, mit dem Säbel Fische zu jagen. Er ließ es bleiben, blieb einfach unter dem Segel sitzen und schloss leise summend die Augen, um die Übelkeit nicht zu hoch kochen zu lassen.  

So verbrachte er einige Zeit, sitzend und summend, und versuchte an schönere Dinge zu denken, um die Realität nicht zu nahe an sich heranzulassen. 

Irgendwann war das stinkende Feuer ausgegangen, doch Nolan kam erst aus dem Unterschlupf, als die Sonne sich langsam herab neigte, um das Meer zu küssen. 

Ohne ein Wort zu sagen, begann er das verbliebene Holz über die Reste der Leiche zu stapeln, bevor er wieder zwei Stöcke griff und sich in den Sand setzt, um das Feuer wieder anzuzünden. 

In Gedanken notierte Nolan sich, dass er das Feuer auf keinen Fall noch einmal ausgehen lassen durfte. 

Das Feuer brannte erst wieder, als die Sonne sich dem Horizont bereits gefährlich genähert hatte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Meerjungfrauen wieder kamen, deswegen sprang Nolan auf, als hätte ihn ein Krebs in die nackte Wade gekniffen und machte sich daran, die Insel abzusuchen. 

Ein leises Fauchen riss ihn aus seinen Gedanken, ohne den Stapel Holz in seinen Armen fallen zu lassen wich Nolan bis zum Feuer zurück, bevor er raus auf das dunkle Meer sah. Ein einsames Paar grüner Augen, sonst nichts. Nolan wusste nicht, ob er erleichtert war, dass Froy wieder gekommen war, oder ob er sich darüber ärgerte und er wusste auch nicht, was er nun machen sollte. 

Schlussendlich überwogen die Neugier und die Hilfsbedürftigkeit. 

Nolan griff sein Säbel und ging damit langsam runter zum Wasser, in der Hoffnung, dass der andere ihm wieder eine Flasche oder vielleicht sogar etwas zu trinken mitgebracht hatte. 

Anders als erwartet kam Froy nicht zu dem Strand geschwommen, sondern blieb draußen im Wasser, wo er schwimmen konnte. 

„Was ist?“ Rief Nolan ihm zu. „Kommst du her oder nicht?“ Der Meerjungmann gab ein Fauchen von sich. Der Pirat war sich sicher, dass das keine Drohung, sondern einer der wenigen Laute war, die er noch machen konnte. „Na komm schon.“ Versuchte er zu locken, doch der andere blieb im Wasser. 

Nolan seufzte leise und setzte sich an den Strand. „Ich komme nicht zu dir raus.“ Rief er dann, nach einigem Überlegen. Obwohl Froy ihm geholfen hatte, hatte er nicht vergessen, dass der Meerjungmann versucht hatte, ihn zu ertränken. 

Er biss sich auf die Unterlippe und sah zu den leuchtenden Punkten in dem schwarzen Wasser. „Ich wollte heute Morgen nicht gemein zu dir sein.“ Sagte er dann, falls Froy nicht herkam, weil er sauer war. „Ich freue mich darüber, dass du da bist.“ Irrte er sich, oder kam der andere wirklich ein Stück näher? 

„Und ich muss mich auch für deine Hilfe bedanken. Dafür, dass du mir was zu Trinken bringst. Ohne dich wäre ich jetzt schon tot. Und dafür, dass du den Kerl umgebracht hast, der da hinten brennt. Den hätte ich wirklich nicht gebrauchen können.“

Das grüne Leuchten verschwand. Irritiert hielt Nolan inne, bevor er weiterredete, hoffend, dass Froy ihn hörte. „Und auch dafür, dass du mich vor deiner Freundin beschützt hast. Wenn ich irgendwas für dich tun kann, dann lass es mich wissen, ja?“ 

Er schrie auf, als Froy sich wie aus dem Nichts plötzlich genau vor ihm aus dem Wasser erhob. In seiner Angst wich er zurück, bis er erkannte, dass der andere ein spöttisches und zugleich fast kindlich glückliches Lächeln auf den Lippen hatte. 

„Du Schuft!“ Fuhr er ihn an, bevor er selbst lachen musste. Froys Grinsen wurde noch etwas breiter, bevor er sich auf die Seite drehte, den Kopf in die Hand stützte und sich in dem seichten Wasser räkelte. Seine Haare fielen ihm nass über die Schultern, nur eine Strähne klebte ihm an der Wange. 

Nolan beugte sich langsam zu ihm, nahm die nassen Haare zwischen Daumen und Zeigefinger und strich sie ihm lächelnd hinters Ohr. Froy hielt ganz still, sah nur mit großen Augen zu ihm hoch, bis Nolan sich wieder in den Sand setzte und die Finger in seinem Schoß verschränkte. 

Der Meerjungmann blinzelte langsam, dann malte er ein großes Fragezeichen in den Sand. Nolan zuckte mit den Schultern. Er wusste auch nicht, was ihn dazu geritten hatte. 

Um Froy abzulenken, räusperte er sich, bevor er das Thema wechselte. „Warum machst du das hier? Warum hilfst du mir jetzt? Du hast versucht, mich umzubringen und jetzt sind wir plötzlich Freunde?“ Froys schmale Schultern hoben sich in einem tiefen Atemzug und senkten sich mit einem vernehmlichen Seufzen wieder.

Nolan hatte kein Gold, mit dem er hätte Wetten können, aber wenn er welches gehabt hätte, dann hätte er alles daraufgesetzt, dass Froy all seine ebenso fiktiven Besitztümer dafür gegeben hätte, jetzt sprechen zu können. 

Aber Froy konnte nichts sagen und er gab auch keine weiteren Laute von sich, als er wieder begann, Buchstaben in den Sand zu malen. Dieses Mal kleiner, enger beieinander als die Male zuvor. Es würde ein langer Text werden. Und Nolan würde geduldig warten, bis der andere fertig war. 

Habe ich nicht. Idiot. 

„Was hast du nicht?“ Froy sah Nolan kurz genervt an, als dieser nachfragte, dann unterstrich er das letzte Wort mit einer groben Bewegung, bevor er mit seinem Unterarm den Sand wieder glatt zog, Platz für neue Wörter machte. 

Wenn ich versucht hätte, dich umzubringen, dann wärst du jetzt auch tot. 

Kurz war Nolan wirklich beeindruckt davon, wie tadellos Froys Rechtschreibung war und verwundert darüber, wie gut seine Zeichensetzung war, dann beschloss er, dass er wann anders darüber nachdenken würde, warum der Andere eine so gute Bildung hatte. 

„Natürlich hast du versucht, mich umzubringen. Du hättest mich fast ertränkt.“ Froy verdrehte die grünen Augen und wischte mit dem Unterarm wieder den Sand glatt.

„Nimm dir Zeit.“ Versuchte Nolan ihn zu beruhigen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Meerjungmann ließ sich nicht beruhigen. 

Ich habe versucht dein Leben zu retten. 

„Wie das? Und warum?“ Ohne hochzusehen wischte Froy die Worte weg und schrieb etwas neues. 

Du hast jetzt genug Zeit, um darüber nachzudenken. 

Nolan wollte nachfragen, was das zu bedeuten hatte, doch Froy drehte sich ruckartig um und verschwand wieder im Wasser. Der Pirat sah ihm noch einige Momente lang nach, bevor er sich langsam erhob und wieder zu seinem Unterschlupf zurück ging. Er glaubte Froy mittlerweile gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er so schnell nicht wieder kommen würde.

Während er sich in den Sand buddelte, war er unfassbar froh, dass er noch eine nicht angerührte Flasche bei sich hatte. 

Zwei Tage lang blieb Froy weg. Zwei lange Tage, in denen zwar jeden Mittag, wenn Nolan aufgewacht war, eine neue Flasche am Strand gelegen hatte, doch von Froy war nichts zu sehen gewesen. Und auch von den anderen Meerjungfrauen nicht. 

Nolan hatte es wirklich probiert. Er hatte gesungen und er hatte Stöcke und Steinen den Ozean geworfen und er war sogar ein Stück hinein gegangen und hatte sich und seine Sachen gewaschen. Das Blut aus der immer noch nicht verheilten Schnittwunde hatte sich im Ozean verteilt und trotzdem war niemand gekommen. 

Und jetzt war Froy wieder da. Einfach so, ohne dass Nolan etwas dafür getan hatte. Der Meerjungmann war im Wasser zwischen den großen Steinen, da wo sich auch das Segel verfangen hatte, und er gab sich so unbeteiligt, dass es wieder auffällig war. 

Nolan scherte sich nicht darum. Er ließ Säbel und Stock im Sand liegen und kletterte auf einen Stein, um von dort aus auf den Nächsten zu steigen.
 
So gelangte er, ohne das Wasser zu berühren, zu Froy. Er setzte sich auf den Stein neben ihm und schwieg, um dem Anderen die Zeit zum Reagieren zu geben. Froy sah nicht einmal zu ihm hin. 

„Hey.“ Begrüßte Nolan ihn leise. „Schön, dass du wieder da bist. Ich habe dich vermisst. Und mir Sorgen um dich gemacht.“ Erst als er es aussprach, stellte er fest, dass er sich wirklich Sorgen um Froy gemacht hatte. Nolan wusste nur nicht, ob das daran lag, dass er auf Froy angewiesen war oder daran, dass er Froy mittlerweile durchaus mochte. 

„Was ist los?“ Der Meerjungmann reagierte nicht auf seine Worte, deswegen lehnte Nolan sich von dem Stein herunter und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Froy drehte sich so ruckartig um, dass Nolan erschrocken keuchte, doch bevor er fragen konnte, was das sollte, packte der andere ihn grob an den Schultern und riss ihn von dem Stein ins Wasser. 

Der Pirat verschluckte sich, hustete das salzige Wasser aus, bis Froy ihn unter die Wasseroberfläche zog. Nolan verstand sofort, was hier passierte. 

Der Meerjungmann musste eine unwahrscheinliche Intelligenz haben, immerhin hatte er Nolan auf raffinierte Art und Weise dazu gebracht, entgegen all seiner Vorsätze die sichere Insel zu verlassen. 

Aber der Pirat hatte jetzt keine Zeit, sich über den Intellekt eines Monsters Gedanken zu machen, immerhin versuchte dieses gerade, ihn zu ertränken. 

Nolan war nicht gewillt, jetzt als Mittagessen zu enden. Er hatte sich schon einmal aus Froys Fängen befreit und das würde er wieder schaffen. 

Mit ruckartigen Bewegungen versuchte er sich aus den Fängen zu befreien, er trat wild um sich, biss und kratzte, doch er musste feststellen, dass er keine Chance hatte. Und während Froy ihn raus in das offene Meer zog, wurde Nolan die Luft knapp. 

Tränen stiegen in seine Augen, als er begriff, dass er jetzt sterben würde. Nolan hörte auf, sich zu wehren und ließ den Kopf mit geschlossenen Lidern an Froys Schulter sinken. Gegen den Druck auf seinen Ohren unternahm er nichts. 

Das Wasser brach über ihm auf, als Nolan schon längst mit seinem Leben abgeschlossen hatte. 

Hastig riss er die Augen auf und schnappte nach Luft, unfähig zu verstehen, was hier gerade passiert war, bevor er Froy ansah, der ihn immer noch festhielt. Er riss sich von dem Meerjungmann los und paddelte einige Meter weg von ihm. Der andere folgte ihm nicht, sondern sah ihn nur ruhig aus den grünen Augen an. 

Nolan war so überfordert mit der Situation, dass er in Tränen ausbrach. Er wehrte sich nicht, als Froy zu ihm geschwommen kam und ihn sanft in seine Arme schloss. Er legte ihm den Kopf an die Schulter, schloss die Augen und schluchzte gegen die kühle Haut, während Froy ihm sanft den Rücken streichelte. 

„Was soll das?“ Schniefte er. Von Froy kam keine Antwort. Wie auch? Der Meerjungmann stieß nur ein leises Fauchen aus und Nolan fühlte, wie sie sich wieder in Bewegung setzten. 

Nach nur wenigen Momente wurde Nolan wieder im Sand abgesetzt. Er löste sich von Froy und rutschte weg vom Wasser, hin zu dem Feuer. Der Meerjungmann blieb im Wasser und begann wieder in den Sand zu schreiben, doch der Pirat interessierte sich nicht mehr dafür. Er kroch hoch zu seinem Zelt und vergrub sich, nass wie er war, im Sand und schloss die Augen. Sollte der Andere machen was er wollte, ihm war es egal. 

~

Als Nolan seinen Unterschlupf am nächsten Vormittag wieder verließ, konnte er nicht sagen, ob Froy immer noch oder schon wieder am Strand auf ihn wartete. Er wusste auch nicht, was er von der Aktion halten sollte.

Der Meerjungmann hatte eindrucksvoll bewiesen, dass Nolan einen Angriff wirklich nicht überlebt hätte und im Endeffekt hatte er ihm wieder nichts getan, aber der Pirat war trotzdem sauer. Sauer und erschöpft. Er hielt das ganze emotionale Hin und Her nicht mehr aus. Es machte ihn müde und zermürbte ihn, vielleicht sogar noch mehr als dieser verdammte Sandhaufen und sein Bauch es taten. 

Froy winkte ihm mit einem breiten Lächeln, im Sand vor ihn waren fünf große Buchstaben gezeichnet. 

Sorry

„Schon okay.“ Sagte Nolan, obwohl gar nichts okay war. Mit langsamen Schritten kam er zu dem anderen runter ans Wasser, setzte sich aber außerhalb seiner Reichweite in den Sand. „Was sollte das?“ Froy zuckte mit den schmalen Schultern und strich sich die langen Haare hinters Ohr zurück, bevor er mit dem Unterarm den Sand glatt zog und wieder zu schreiben begann. 

Glaubst Du mir jetzt, dass ich dich nicht umbringen wollte? 

Jetzt war es an Nolan, mit den Schultern zu zucken. „Schätze schon. Aber ich werde wirklich nicht schlau aus dir.“ Die geschwungenen Lippen seines Gegenübers verzogen sich zu einem Lächeln, dann hievte Froy sich ein Stück den Strand hoch und griff die Hand des Piraten, hielt sie kurz in der eigenen. 

Bevor der verwirrte Nolan nachfragen konnte, was das jetzt schon wieder zu bedeuten hatte, rutschte der Meerjungmann zurück ins Meer und begann wieder zu schreiben. 

Brennendes Holz schwimmt. Lebende Tote können nicht tauchen. 

Nolan legte den Kopf schief, biss sich auf die Unterlippe und richtete den Blick einige Momente lang auf den Himmel, bevor er dann wieder runter zu dem Meerjungmann sah, der ihn gespannt musterte. 

„Du hast versucht, mir das Leben zu retten?“ Froy nickte langsam und stützte das Gesicht wieder in die Hände. „Und warum?“ Die Antwort wurde wieder mit kleinen, schnellen Buchstaben in den Sand geschrieben.
 
Ich habe mitbekommen, was an Bord passiert ist und fand es unfair, dass du sterben solltest, weil dein Kapitän und die Crew dir nicht geglaubt haben. Außerdem wollte ich wissen, wie das Lied ausgeht. 

„Wow.“ Stellte Nolan leise fest und sah wieder hoch in den Himmel. Froy hatte in sein Schicksal eingegriffen und es so gelenkt, wie es hätte sein sollen. „Und alle anderen hast du sterben lassen?“ Froy nickte nach kurzem Zögern, bevor er die Geste im Sand ergänzte. 

Ich konnte entweder dich oder keinen retten.

„Und dann hast du einfach über Leben und Tod entschieden?“ Der Meerjungmann seufzte auf Nolans Frage hin und ließ die Schultern hängen, bevor er stoisch die Buchstaben wegwischte und neue Worte schrieb. 

Wenn ich dich nicht gerettet hätte, hätte ich auch über Leben und Tod entschieden. Ich konnte nicht keine Entscheidung treffen und dann habe ich mich für dein Leben entschieden. Umbringen kannst du dich immer noch, wenn du damit nicht einverstanden bist, wieder auferstehen nicht. 

Nolan musste unwillkürlich lächeln und rutschte etwas näher an das Wasser. „Danke. Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast. Kannst du mir sagen, was passiert ist, nachdem ich ohnmächtig geworden bin?“ Froy nickte langsam, Nolan half ihm, den Sand wieder glatt zu wischen. 

Du wurdest von einer Strömung erfasst und abgetrieben. Die Weste ist dir gefolgt, deswegen bin ich hinterher und hab ihn mir geschnappt, als du in Sicherheit warst. 

Nolan bedankte sich erneut, bevor er die nächste Frage stellte. „Woher bekommst du die Flaschen?“ Froy begann zu lächeln und wies mit dem Kopf auf das weite Wasser. „Wer suchet, der findet?“ Fragte Nolan leise und Froy nickte erneut. 

„Und?“ Fragte der Pirat nach einigen Momenten der Stille. „Was machen wir jetzt? Wie geht es weiter? Ich kann nicht den Rest meines Lebens hierbleiben.“ Ohne etwas zu sagen oder zu schreiben, schob Froy sich zurück in das Wasser und streckte seine Hand nach ihm aus. Nolan blieb im Sand sitzen. „Vergiss es!“ rief er. „Bei aller Freundschaft, ich komme nicht ins Wasser.“ 

Der Meerjungmann zuckte erneut mit den Schultern und schwamm noch einige Meter weiter raus. „Warte!“ Er wollte nicht, dass Froy ihn hier wieder allein ließ. „Wo willst du hin? Wann kommst du wieder?“ Der andere hob eine Hand und winkte ihm, dann verschwand das grüne Leuchten seiner Augen im dunklen Wasser. 

Nolan blieb allein am Strand zurück. Einige Minuten lang gönnte er sich noch eine Pause, dann erhob er sich seufzend und sah zu dem Feuer, das bereits bedrohlich weit abgebrannt war. Also bückte er sich runter, zu einem Stück Treibholz und dann zu dem nächsten. 

Mit kleinen Schritten, um seinen Bauch zu entlasten, brachte er die beiden Stöcke zum Feuer und warf sie in die letzten Flammen, die sich sofort in das Holz fraßen. Zumindest war der Tote mittlerweile fast verbrannt, das Feuer und die ganze Insel stanken nicht mehr so furchtbar. 

Als das Feuer erstmal gerettet war, griff Nolan wieder seinen Stock und humpelte runter zum Strand, um noch mehr Holz zu sammeln. Er hatte wirklich Glück, dass die Insel offensichtlich in einer Strömung lag und viel Treibholz angeschwemmt wurde. 

Und er hatte noch mehr Glück. Am Strand entdeckte er eine der Kisten, in denen man auch auf seinem Schiff Vorräte gelagert hatte. Das Holz war plötzlich egal, er wankte so schnell er konnte zu der Kiste und zog sie aus dem seichten Wasser heraus und den Strand herauf, bis hin zu seinem Zelt.
 
Er nahm das Säbel und begann damit die Seile, die um die Kiste geschlungen waren und sie zu hielten, aufzuschlitzen. Das Salzwasser hatte die Fasern bereits mürbe gemacht und so dauerte es kaum eine Minute, bis Nolan die Kiste aufklappen konnte. Als er den Inhalt sah, stiegen ihm Tränen der Freude in die Augen. 

Dörrobst. Getrocknete Äpfel, Pfirsiche und Aprikosen, noch mehr Äpfel und sogar einige Birnen. Das Wasser hatte sie aufgeweicht, vermutlich waren sie auch total salzig, aber das war ihm egal. Alles war besser als noch mehr Muscheln. 

Damit das Obst nicht schimmelte, legte er es zum Trocknen auf einige der gesammelten Steine. Nolan hatte keine Angst, dass Vögel es ihm klauen würden, solange er auf der Insel war, war das Obst in Sicherheit. Und er hatte nicht vor, die Insel so schnell wieder zu verlassen. 

Als er wieder hochsah, sah er Froys Augen zwischen den Steinen leuchten. Ohne zu wissen warum, musste Nolan lächeln. „Na?“ Rief er ihm zu. „Was machst du da draußen? Willst du nicht herkommen? Ich hab was zu essen da.“ 

Der Meerjungmann kam schnell näher, fast bis zum Strand, und zog den Oberkörper aus dem Wasser, die Arme auf einem der Felsen verschränkt. Nolan setzte sich seinerseits auf einen Stein an Land und warf dem anderen einen halben Apfel zu. 

Froy roch zuerst daran, bevor er abbiss und kaute. Der Pirat sah zugleich neugierig und irritiert zu, wie Froy sich zwei Finger in den Mund schob und den Kopf in den Nacken legte, um heftig zu schlucken. Dann verstand er. Man brauchte seine Zunge, um zu schlucken, doch der Meerjungmann hatte offensichtlich eine Möglichkeit gefunden, mit seinem Handicap umzugehen. 

Als der Apfel verspeist war, warf Nolan dem Anderen noch einen Birnenschnitz zu, den dieser geschickt fing, und sich zwischen die vollen Lippen schob, um darauf herum zu beißen. Die grünen Augen verdrehten sich genussvoll und Nolan stellte fest, dass der Meerjungmann außergewöhnlich hübsch war. 

Wenn er so darüber nachdachte, dann waren auch die anderen Meerjungfrauen allesamt sehr hübsch gewesen, mit symmetrischen, ebenmäßigen Gesichtszügen gewesen, zumindest soweit er das in seiner Panik und der aufkommenden Dunkelheit gesehen hatte. 

„Froy?“ Der Meerjungmann sah ihn mit zwei Fingern im Mund, offensichtlich mitten im Schluckprozess, aufmerksam an.

„Sind eigentlich alle Meerjungfrauen so hübsch?“ Kurz war der Andere still, dann legte er den Kopf in den Nacken und schluckte, bevor er die Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzog. Nolan wollte gerade fragen, ob er auch noch eine Antwort bekam, als Froy ihm einen Luftkuss zuwarf und verschmitzt mit den Augenbrauen wackelte. 

Nolan wurde rot und schüttelte den Kopf. „Blödmann.“ Und trotzdem kam er nicht umhin zu bewundern, wie gut Froy sich ohne Sprache verständigen konnte. Eins war klar, der Meerjungmann hatte die Zunge nicht erst gestern herausgeschnitten bekommen. „Willst du noch eine Birne?“ 

Der Meerjungmann schwieg viel zu lange. Nolan hatte mit einem schnellen Nicken oder Kopfschütteln gerechnet, doch Froy schwieg und sah kurz zum Sand, bevor er den Blick senkte. Ob er wohl eine schlagfertige Antwort auf den Lippen gehabt hatte, die aber schon nicht mehr lustig war, wenn er sie zu Ende geschrieben hatte? Plötzlich tat Froy Nolan so sehr leid, dass er mit dem Gedanken spielte, zu ihm ins Wasser zu kommen und ihn zu trösten. 

„Wie sieht es aus? Willst Du oder willst Du nicht?“ Die grünen Augen richteten sich auf ihn, doch sie hatten den Schalk verloren. Froy schüttelte langsam den Kopf und rutschte von dem Stein zurück ins Wasser. Nolan wusste sofort, was er vorhatte. 

„Stopp!“ Der Andere hielt kurz inne. Nolan redete schnell weiter. „Geh noch nicht weg. Ich möchte gerne weiter mit dir reden. Ich verbringe gerne Zeit mit dir. Und ich habe noch super viele Fragen.“ Nichts davon konnte Froy davon abhalten, wieder im Wasser zu verschwinden. Der Pirat seufzte leise und richtete den Blick wieder auf das Obst neben ihm. Jetzt wollte er schon gerne wissen, was Froy ihm nicht gesagt hatte. 

Nachdenklich strich er sich durch die Haare, die eigentlich schon längst wieder einmal hätten gewaschen werden müssen und schreckte auf, als Froy genau vor ihm den Kopf aus dem Wasser schob. 

„Ey!“ Beschwerte er sich gespielt und fasste sich ans Herz, weil er hoffte, den anderen wieder zum Lächeln zu bringen. Es funktionierte. Froys Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Grinsen. Nolan gefiel dieser zufriedene, fast schon jugendlich verspielte Ausdruck auf dem blassen Gesicht und das freche Funkeln in den grünen Augen deutlich besser als die traurige Niedergeschlagenheit und die trübe Resignation und das wollte er Froy auch gerne sagen, aber er wusste nicht so recht wie, ohne dass der andere wieder spottete. 

Eigentlich, so überlegte Nolan stumm, war das aber auch nichts Schlimmes. Streng genommen war das doch sogar genau was er wollte. 

„Du solltest mehr Lächeln. Steht dir deutlich besser.“ Noch während er die Worte aussprach, merkte der Pirat, dass er weder den Tonfall getroffen noch etwas Witziges und Provokantes gesagt hatte.

Der Meerjungmann grinste trotzdem noch breiter, bevor er sich die Haare zurückstrich und die spitzen Zähne zeigte. Obwohl das ebenfalls nicht lustig war, lachte Nolan pflichtbewusst, zumindest bis ein stechender Schmerz durch seinen Bauch fuhr und ihn zusammen zucken ließ. 

Nolan krümmte den Rücken, beide Arme fest um den Bauch geschlungen und die Zähne aufeinandergebissen. Tränen traten ihm in die Augen, er verzog das Gesicht vor Schmerz, der erst nach einigen Momenten abklingen wollte. Jetzt bemerkte er auch Froys Hand auf seinem Oberschenkel und als er ihn ansah, sah er auch wie besorgt er ihn ansah. 

„Schon gut.“ Presste er angestrengt hervor. Es war nichts gut. Und der Meerjungmann durchschaute ihn natürlich sofort. 

Seine kühlen Hände schoben sich unter die geklaute Weste und ertasteten dort den provisorischen Verband. Nolan sah an sich herunter und beobachtete, wie der andere den blutgetränkten Hemdstreifen aufknotete und von der Wunde wegzog. Wenn Nolan sich nicht so miserabel gefühlt hätte, dann hätte ihn Froys Gesichtsausdruck wohl zum Lachen gebracht, doch jetzt biss er sich nur auf die Unterlippe und schloss die Augen. Er wollte die geschwollene, rote Haut, die sich um die Wunde spannte, genauso wenig sehen, wie den verkrusteten Schnitt sehen. 

Er sah erst wieder auf, als die kalten Finger des anderen sich um seine eigenen legten, sah in die grünen Augen, die unter den zusammengezogenen Augenbrauen sorgenvoll wirkten. „Was ist?“ Fragte er leise. 

Froy öffnete den Mund und stieß ein hilfloses Krächzen aus, Nolans Herz zog sich schmerzhaft zusammen. „Schon okay. Mir geht es gut.“ Der Meerjungmann verdrehte die leuchtenden Augen und entfernte sich schnell, schlängelte sich geschickt zwischen den Steinen durch, hin zu dem Sandstrand. 
Nolan griff seinen Stock und hievte sich wieder auf die Füße, um zu ihm zu humpeln. 

Im Sand erwartete ihn ein großes Fragezeichen. 

Ächzend setzte er sich hin und lehnte sich etwas zurück, um tief ein und aus zu atmen, damit der Schmerz verschwand. 

„Es ist alles in Ordnung, Froy. Mir geht es gut, das wird wieder.“ Er hatte gewusst, dass die Wunde sich entzünden würde. Er hatte es gewusst, als er die Weste nicht gewaschen hatte, bevor er sie angezogen hatte und auch, als er die Wunde mit Salzwasser gewaschen hatte. 

Froys Fauchen riss ihn wieder aus seinen Gedanken, er sah in den Sand, wo bereits die nächsten Worte standen. 

Hör auf, mich wie ein Kleinkind zu behandeln und sag, was los ist. 

„Du musst dir keine Sorgen machen-“ Setzte Nolan an, doch als der Meerjungmann seine Zähne fletschte, verstummte er wieder. Seufzte leise, bevor er einlenkte. „Schon gut. Mir geht es dreckig. Ich habe keine Ahnung, wie ich das wieder in den Griff bekommen soll.“ Froy nickte langsam und griff wieder seine Hand.

Eine fast schon tröstliche Berührung, bevor er sich wieder löste und neue Worte in den Sand malte. 

Warte, ich komme gleich wieder. 

Nolan fragte gar nicht erst, was Froy vorhatte, sondern nickte und blieb sitzen, wo er war, während der Andere wieder einmal im Ozean verschwand. 

Leise ächzend verbarg er den Schnitt wieder unter den schmutzigen Hemdstücken, bevor er sich rücklings in den Sand sinken ließ. 

Das vertraute, heisere Fauchen kündigte Froys Rückkehr an, aber Nolan reagierte kaum darauf. Er brummte etwas Unverständliches, damit der Andere wusste, dass er ihn gehört hatte, aber er ließ die Augen geschlossen und hob auch nicht den Kopf. 

Die nasse Hand des Meerjungmannes legte sich auf seinen Bauch und zog den eben erst sorgsam wieder angelegten Verband etwas grob von der Wunde. Nolan hielt brav still, auch als eine Welle kühles Salzwasser an seine Rippen schwappte. 

Froys energisches Stupsen in seine Seite ließ ihn dann doch die Augen öffnen. „Was ist los?“ Eine Flasche schob sich in sein Sichtfeld, von dem braunen Glas tropfte das Salzwasser auf seine Wangen. Alkohol. Unschwer zu erkennen, was der Meerjungmann damit vorhatte. „Mach ruhig.“ 

Die Flasche verschwand wieder aus seinem Sichtfeld, Nolan schloss die Augen und atmete tief ein, bevor er tapfer die Zähne zusammenbiss. 

Er schrie trotzdem auf, als sich die kalte Flüssigkeit auf seinen Bauch ergoss, mit verzogenem Gesicht bog er den Rücken, seine Rippen hoben und senkten sich hektisch, dann klang der Schmerz langsam ab. Mit tränentrüben Augen sah er zu Froy, der ihn mitleidig ansah, dann sah er wieder zu der Flasche in Froys Hand.

Angestrengt atmete er noch einmal tief ein und aus, dann streckte er bittend die Hand aus. Der Andere reagierte sofort, griff die angebotene Hand so, dass Nolan sie drücken konnte. 

Der Pirat biss sich auf die Unterlippe und spannte seine Muskeln an, bevor er langsam nickte. 

Die kalte Flüssigkeit klatschte erneut mit Schwung auf seinen Bauch und obwohl Nolan schon wusste, wie stark die Schmerzen waren, schrie er erneut auf, während er Froys Hand so fest drückte, dass er glaubte die Knochen knacken zu hören. 

Dieses Mal hörte der Meerjungmann nicht auf, weil der Pirat schrie, sondern machte weiter, bis die Flasche leer war. 

Kaum, dass das Prasseln aufgehört hatte, wollte Nolan sich auf die Seite rollen, sich ganz klein machen und im Sand verscharren, doch Froy wusste das zu verhindern. Er packte ihn an der Hüfte und der Brust und hielt ihn unerbittlich fest, bis Nolan einsah, dass er in seinem Zustand keine Chance gegen den Meerjungmann hatte und ganz still liegen blieb. 

Der Druck auf seine Knochen ließ erst einige Momente später wieder nach. Nolan blieb ruhig liegen, nur seine Muskeln zitterten und verkrampften sich in unregelmäßigen Abständen. Froys kalte Hand legte sich auf seine Stirn, er wusste nicht, ob der Meerjungmann seine Temperatur fühlen oder ihm nur sanft die verschwitzten Haare aus dem Gesicht streichen wollte. 

Nolan wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er sich langsam wieder aufsetzte und zu Froy sah, der sich, als hätte er nur darauf gewartet, wieder tiefer in das Wasser schob und den Blick ruhig erwiderte. 

„Danke.“ Sagte er und sah an sich herunter. Die Wunde sah immer noch furchtbar aus. Froys Absicht in allen Ehren, Nolan wusste, dass es jetzt kaum noch etwas brachte, die Wunde zu desinfizieren. Das hätte man viel früher machen müssen. 

Doch er sagte nichts, weil er hoffte, dass Froy das nicht wusste. Es gab nichts, was sie für die Wunde tun konnten und er hatte keine Nerven für einen panischen Meerjungmann. 

Der Plan ging offensichtlich auf, immerhin kam der andere näher und zog Nolan ein Stück ins Wasser, so dass die kühlen Fluten seine Beine und den von der Hitze und dem aufkeimenden Fieber überhitzten Körper etwas abkühlen konnten. Er schloss die Augen und seufzte leise, als Froy seinen Kopf in seinen Schoß bettete. 

Abwesend legte er ihm eine Hand in die Haare und streichelte sie ein wenig, mit der anderen stützte er sich in den Sand, damit sein Bauch sich entspannen konnte. 

Der Meerjungmann hob seinen Kopf für Nolans Geschmack viel zu schnell wieder und fauchte so lange, bis er die Augen wieder öffnete. Im Sand erwarteten ihn die nächsten Buchstaben. 

Komm mit. 

Während Nolan las, verschwand Froy wieder im Wasser und winkte ihm, dass er ebenfalls ins Wasser kommen sollte. Der Pirat schüttelte den Kopf.

„Vergiss es, Froy. Du weißt, dass ich nicht ins Wasser gehe.“ Auf seine Worte hin schlug der Meerjungmann wütend mit seiner Flosse ins Wasser, bevor er wieder an den Strand geschwommen kam, um neue Worte in den Sand zu schreiben. 

Du musst zu einem Arzt, sonst stirbst du. 

Dann hatte Froy wohl doch mehr Ahnung, als Nolan angenommen hatte. Nun gut, dann brachte es nichts mehr, irgendwas zu leugnen. 

„Das stimmt. Aber solange kein Schiff hier anlegt, kann ich hier nicht weg. Und nachdem das Stinke-Feuer schon nicht funktioniert hat, bezweifle ich, dass hier überhaupt jemals ein Schiff vorbei kommt.“ 

Deswegen war mein Plan auch, dich zu einem Schiff zu bringen. 

Nolan wollte antworten, doch Froy schrieb noch weiter. 

Ich habe dich hier hingebracht, wissend, dass hier keine Schiffe vorbeikommen, damit du nicht sofort wieder auf einem Schiff anheuerst und auf dem Meer verschwindest. Ich wusste nicht, dass dein Bauch sich entzündet, deswegen habe ich nicht damit gerechnet, dass du hier wegmusst, bevor ich eine Lösung habe, wie ich ein Schiff hier herbekomme. 

„Stopp.“ Er unterbrach ihn, obwohl er sich sicher war, dass Froy noch viel mehr zu schreiben hatte. „Was soll das denn heißen? Du hast mich hergebracht und hier gefangen gehalten?“ 

Gegen seinen Willen stieg Wut in ihm auf. Er mochte Froy. Er war ihm dankbar, dass er sein Leben gerettet hatte und ihm jetzt Gesellschaft leistete. Aber er war nicht damit einverstanden, dass der andere ihn gegen seinen Willen mit Absicht auf diesem verdammten Sandhaufen festhielt. 

Der Meerjungmann begann nicht sofort zu schreiben, um sich zu erklären oder zu rechtfertigen, sondern sah ruhig zu Nolan hoch, suchte seinen Blick und griff sogar seine Hand, doch Nolan beendete den Körperkontak sofort. „Schreib.“ Befahl er und Froy begann zu schreiben. 

Die Dutchman hinterlässt keine Überlebenden. Sobald du wieder auf einem Schiff anheuerst, wird sie dich jagen und ich kann nicht versprechen, dass ich dich wieder retten kann. Deswegen wollte ich, dass du erstmal hierbleibst, bis zumindest ein bisschen Gras über die Sache gewachsen und die Dutchman möglichst weit weg ist. 

Nolan entspannte sich fast augenblicklich. Er glaubte dem Anderen. Was er sagte klang schlüssig und logisch und vor allem hatte Nolan keine Nerven mehr dafür, ständig sein Vertrauen in Froy in Misstrauen und wieder zurückzuwandeln.

„Meinetwegen. Aber musste es unbedingt dieser Sandhaufen sein, oder hätte es nicht zumindest etwas mit ein bisschen Vegetation und Süßwasser sein können?“ Froys Antwort im Sand bestand aus fünf Buchstaben ohne Satzzeichen. 

Sorry 

Seufzend akzeptierte der Pirat die Entschuldigung, während Froy den Sand wieder glättete, um weiterzuschreiben. 

Kommst Du jetzt endlich? 

„Wofür? Du hast selbst gesagt, dass ich nicht zurück auf ein Schiff kann. Und selbst wenn ich könnte, hier ist kein Schiff.“

Ich bringe dich zu einem Schiff, das möglichst nahe an einem Hafen ist. Bei deinem Bauch wird jeder Kapitän einsehen, dass du so schnell wie möglich an Land zu einem Arzt musst. 

Nolan runzelte die Stirn. „Angenommen, ich würde tatsächlich mit dir mitkommen, dann haben wir immer noch das Problem, dass irgendwo deine Freundinnen im Wasser lauern und wenn du dann mit einem Leckerbissen wie mir ankommst, dann glaube ich nicht, dass du mich lebend bis zu einem Schiff bekommst.“ Froy verzog seine Lippen zu einem milden Lächeln und schüttelte den Kopf. 

Mach dir darum keine Sorgen. Niemand wird dir etwas tun. 

Er hatte keine andere Wahl, als dem Meerjungmann zu vertrauen. Aber nur weil er ihm vertraute, hieß das nicht, dass er ihm ins Wasser folgte. Und deswegen schüttelte er auch energisch den Kopf, als Froy wieder die Hand nach ihm ausstreckte. 

Was ist noch? 

Er starrte die Worte im Sand an, die zwar harsch klangen, aber mit Sicherheit nicht so gemeint waren. Eigentlich wusste Nolan sogar, dass sie lieb gemeint waren, Froy sah ihn zugleich aufmerksam und freundlich an und das machte es noch schwieriger für ihn, zu sagen, warum er hauptsächlich nicht ins Wasser wollte. 

„Es tut mir leid, Froy. Ich habe dich wirklich sehr gerne, ich mags wirklich gerne, dass du da bist, und ich bin dir echt verdammt dankbar für alles, was du für mich getan hast, aber ich kann nicht mit dir ins Wasser. Ich habe berechtigte Angst, dass ich das nicht überleben werde. Ich will dir damit nicht unterstellen, dass du mich absichtlich umbringst, sondern nur sagen, dass es passieren könnte, dass ich ohnmächtig werde und dann ertrinke oder so.“ 

Kurz hatte er Angst, dass Froy nun wütend werden oder verschwinden würde, fast glaubte er, die grünen Augen verletzt aufblitzen zu sehen, doch der Meerjungmann blieb ganz ruhig. Sein Blick ruhte einige Momente lang auf Nolans Gesicht, dem Pirat wurde unter der intensiven Musterung ganz warm. 

Dann passierte alles ganz plötzlich.
Froy erhob sich schnell aus dem Wasser und packte Nolan an den Schultern. In der Erwartung, wieder einfach ins Wasser gezerrt zu werden, lehnte er sich noch so weit zurück, wie sein Bauch es zu ließ und kniff die Augen zusammen, dann drängte sich der nasse Körper an seinen eigenen. Irritiert riss er die Augen wieder auf und sah in die leuchtenden Augen, die ihm so nah wie nie zuvor waren. 

Froys Lippen waren angenehm kühl und fühlten sich feucht an, als sie sich sanft auf die Nolans drückten. Nolan hielt schockiert, fast wie eingefroren inne und wagte einige Momente kaum, sich zu bewegen, während in seinem Magen eine nervöse Übelkeit aufstieg. 

Gerade als er sich an den Gedanken gewöhnt hatte, dass der Andere ihn hier gerade küsste und die Hände an seine Hüfte legen wollte, löste Froy sich wieder von ihm und rutschte zurück in das Wasser. Nolan starrte ihn an, als hätte er gerade Amerika neu entdeckt, als der Meerjungmann sich gelassen die Haare zurückstrich und sich über die vollen Lippen leckte. 

Für Nolan war das sein zweiter Kuss gewesen und der erste mit einem Mann, doch für Froy schien das nicht zu gelten, wenn man sich die Gelassenheit anguckte, mit der er es sich wieder im seichten Wasser bequem machte und herausfordernd zu ihm sah. 

Nolans Wangen brannten vor Hitze, er war sich sicher, dass sein Kopf feuerrot angelaufen war, und als er gedankenverloren die Fingerspitzen an seine Lippen legte und sah, wie sich Froys Lippen zu einem Lächeln verzogen, musste er beschämt den Blick abwenden. 

Sein Herz schlug viel zu schnell, es galoppierte in seiner Brust als würde es vor der Flying Dutchman fliehen und sein Bauch kribbelte so sehr, dass es weh tat. 

„Was…War das?“ murmelte er leise, aber von Froy kam natürlich keine Antwort. Das war auch nicht nötig. Nolan wusste es auch so. 

Sein Cousin hatte ihm gesagt, dass der Kuss einer Meerjungfrau einen Seemann vor dem Ertrinken schützen konnte. Er hatte gesehen, dass die Flying Dutchman real war und dass es Meerjungfrauen und auch Meerjungmänner gab. Warum sollte ausgerechnet dieser Teil der Legenden also nicht stimmen?

„Na gut.“ Nolan biss sich auf die Unterlippe. Sie schmeckte salzig. „Dann spricht wohl nichts dagegen, mit dir mitzukommen.“ Er versuchte locker und gelassen zu wirken, doch ihm war klar, dass seine Versuche erbärmlich waren, allenfalls seine innere Aufruhr zeigten. 

Ohne Froys Antwort abzuwarten, warf er den Blick auf sein Zelt und überlegte, ob er noch etwas mitnehmen musste. Das Holz und die Steine konnte er nicht brauchen, darüber dass er die Muscheln zurücklassen konnte, war er fast schon froh und den Säbel, den er tatsächlich gebrauchen könnte, konnte er nicht mitnehmen. Um das Obst war es zwar schade, aber auch das würde er nicht brauchen. Das Einzige, was er mitnehmen wollte, war die Münze, die er bereits in seiner Hosentasche hatte. 

Ein letzter Blick auf sein Zelt, dann rutschte er langsam ins Wasser. Froy fasste ihn an der Hand und zog ihn mit sich, aus dem flachen Wasser zu den Steinen, so dass Nolan gerade noch stehen konnte. 

Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass der Meerjungmann ihn mit dem Rücken an einen der großen Steine drückte und er wollte es auch gar nicht. 

Angespannt schloss er die Augen und biss die Zähne zusammen, als Froy ihm ganz nahekam, so nahe, dass er vermutlich aus Versehen den Schnitt berührte, und seinen Körper an Nolans drückte.

Er hielt still und ließ zu, dass Froy seine Arme richtig hin sortierte und legte den Kopf an die knochige Schulter. Einige Momente lang verweilten sie so, dicht beieinander und umschlungen, dann spürte Nolan, wie der Andere sich vom Grund abdrückte und mit ihm gemeinsam in das Wasser eintauchte.
 
Nolan klammerte sich an ihn, weil er auf keinen Fall verloren gehen wollte, während um ihn herum das Wasser schnell kälter wurde. Der Druck auf seine Brust nahm bald schon zu und die Luft in seinen Lungen wurde knapp, doch gerade als er dachte, er müsse jetzt schon herausfinden, ob er vor dem Ertrinken geschützt war, nahm der Druck auf seinen Brustkorb ab und sein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. 

Gierig schnappte er nach Luft, die Finger in Froys Schultern gekrallt atmete er mehrfach tief ein und aus, in der Erwartung, dass es sofort wieder ins Wasser ging, doch es passierte nichts. 

Nach einigen weiteren Momenten öffnete er zaghaft die Augen und sah direkt in Froys leuchtende Augen.

Unwillkürlich musste er lächeln. „Mir geht es gut.“ Sagte er und obwohl er fühlte, dass sein Bauch wieder blutete, meinte er es auch so. „Es ist alles in Ordnung.“

Sein Blick wanderte über das Wasser, in mehreren Meilen Entfernung konnte er gerade so den Sandhaufen ausmachen, von dem er gekommen war. „Du bist ganz schön flink.“ Froys Lippen verzogen sich zu ihm Lächeln, dann deutete der Meerjungmann auf seine Augen. Nolan verstand sofort, dass er die Augen offenlassen sollte und obwohl er nicht wusste, warum, schloss er die Augen nicht, als er wieder unter Wasser gezogen wurde. 

Um sie herum tummelten sich einige Fische, doch als Nolan die Korallen erblickte, die sich um ihn herumtummelten, stellte er fest, dass Froy ihn gerade zu einer weiteren Sandbank gebracht hatte. 

Die Vermutung bestätigte sich, als sie wieder auftauchten und Froy in das seichte Wasser schwamm. Am Wassersaum entdeckte Nolan Schleifspuren im Sand, sie führten zu einem aufgewühlten Sandhaufen. Er musste nicht in das Loch in dem Haufen hineinsehen, um zu wissen, was der Meerjungmann ihm hier gerade zeigte. 

Sein Kapitän hatte ihm erklärt, dass es durchaus üblich war, Kisten mit Vorräten an Sandstränden zu verstecken, entweder damit ein feindliches Schiff sie nicht erbeuten konnte oder um selbst einen Vorrat für Notfälle anzulegen. Offensichtlich hatte Froy beobachtet, wie diese Kiste versteckt worden war und hatte ihn in den letzten Tagen daraus versorgt. 

„Du hättest mich auch einfach hier aussetzen können.“ Brummte Nolan leise, bevor er den Kopf wieder an Froys Schulter legte und sich unter Wasser ziehen ließ. 

Unter ihm zogen die Korallen und Fische vorbei, der Abstand zum Grund wurde immer größer, bis Nolan nur noch ein tiefschwarzes Blau sah. 

Seine Lungen schienen fast zu platzen, als ihm der Fehler in seiner Logik auffiel. Nur weil der Kuss einer Meerjungfrau einen Seemann vor dem Ertrinken schützte, hieß das nicht, dass er jetzt plötzlich wie Froy unter Wasser atmen konnte. 

Panik stieg in ihm auf, als er dem Meerjungmann so heftig er konnte gegen die Schulter schlug, wieder und wieder, bis Froys Blick sich auf ihn richtete. Hastig, weil ihm bereits schwarz vor Augen wurde, deutete er auf seinen Hals, dann dahin, wo er die Wasseroberfläche vermutete, bevor er sich wieder in seine Schulter klammerte. 

Er schnappte verzweifelt nach Luft, kaum dass er wieder atmen konnte, versuchte sich von Froy zu lösen, damit der ihn nicht wieder untertauchte. Der Meerjungmann ließ ihn bereitwillig los und Nolan paddelte sofort ein Stück weg von ihm, während seine schmerzenden Lungen sich mit Sauerstoff füllten. 

„Ich kann nicht atmen.“ Stieß er auf den fragenden Blick des Anderen aus. „Du hättest mich fast ertränkt!“ Er erhielt keine Antwort. Froy blinzelte nur, bevor er langsam nickte. Dann kam er zu Nolan geschwommen und strich ihm sanft über die Wange. Eine stumme Entschuldigung, vermutete Nolan. „Schon gut.“ Sagte er, weil er nicht wollte, dass Froy sich schlecht fühlte. „Du hast es nicht böse gemeint und es ist ja nichts passiert. Wie weit ist es noch bis zu deinem Schiff?“ 

Der Meerjungmann wies mit der Hand Richtung der Abendsonne, bevor er mit den Schultern zuckte. Nolan nickte, obwohl ihm das gar nichts sagte. 

Eine Bewegung neben ihm riss ihn aus den Gedanken, ließ ihn aufschrecken und in Froys Arme flüchten. Der Meerjungmann schloss sofort die Arme um ihn und stieß ein leises Glucksen aus. Obwohl der Andere kein Anzeichen von Furcht zeigte, brauchte der Pirat einige Momente, bis er sich traute, nachzusehen was da passierte. 

Er sah in intelligente Augen in einem grauen Gesicht. Ein Delfin, wie er schnell feststellte. Nein, nicht nur ein Delfin. Als Nolan sich umblickte, stellte er fest, dass sie wohl inmitten einer Delfinschule geraten waren. Mehrere der Tümmler schwammen um sie herum, bis sie viel zu schnell wieder abtauchten und in den Weiten des Ozeans verschwanden.

Mit einem Lächeln auf den Lippen sah er zu Froy, der den Delfinen nachsah. „Wollen wir weiter?“ fragte er leise, woraufhin der Meerjungmann ihn sanft an der Hüfte packte und wieder mit sich unter Wasser zog. 

~

Als Nolan das Schiff sah, dass sie ansteuerten, war es schon wieder dunkel um sie herum geworden. 
Froys leuchtende Augen spiegelten sich im tiefschwarzen Wasser wie die zahlreichen Sterne am Nachthimmel.

„Wie geht es jetzt weiter?“ Fragte Nolan leise, während er zu dem großen, hell erleuchteten Schiff sah, dass noch mehrere hundert Meter entfernt von ihm war. Froy konnte ihn immerhin nicht einfach hier im Wasser aussetzen. 

Statt einer Antwort bewegte der Meerjungmann sie mit leichten Flossenschlägen, bis Nolan etwas Hartes an seinem Rücken spürte.

Reflexartig griff er danach und bekam ein glitschiges Stück Holz zu fassen. Es war ordentlich schwer, also musste es auch eine gewisse Größe haben. Ein Teil einer Planke oder einer Kiste, vermutete Nolan. 

Erst als Froy ihn losließ, verstand er, dass er offensichtlich darauf klettern sollte. Er tat es- oder zumindest versuchte er es. Das Holz tanzte auf den Wellen und richtete sich unter seinem Gewicht so stark auf, dass es unmöglich war, sich hochzuziehen. 

Nolans Bauch schmerzte so sehr, dass ihm schwarz vor Augen wurde, doch er versuchte es weiter, bis Froy leise fauchte und ihn wieder an der Hüfte packte. 

Mit der Hilfe des Meerjungmannes war es plötzlich eine Leichtigkeit, sich auf das Holz zu ziehen und sich dort annähernd bequem hinzusetzen.

Wasser tropfte aus seinen Haaren auf seine nackten, sonnenverbrannten Arme und vermischte sich mit den Tropfen auf seiner Haut zu größeren Tropfen, die an ihm herunterliefen, sich ihren Weg durch die feinen Härchen bahnte und schlussendlich auf das nasse Holz tropften. 

„Was jetzt?“ Froy hob die Hände und bedeutete Nolan zu warten. Da sich das Holzbrett unter ihm bei jeder Bewegung bedrohlich neigte, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als ruhig sitzen zu bleiben, während der Meerjungmann in den unendlichen Meerestiefen verschwand. 

Obwohl nur ein paar Minuten vergangen sein konnten, als ein schwaches Leuchten Froys Rückkehr ankündigte, kam die Zeit, die er zitternd und frierend auf dem Holz verbracht hatte, ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. 

„Was hast du da unten gemacht?“ Wollte Nolan wissen. Der Andere kam an das Holz herangeschwommen und stützte sich mit den Armen auf eine Kante. Hätte der Pirat sich nicht sofort auf die andere Seite gelehnt, wären sie beide umgekippt. 

Froy ließ ohne ein weiteres Geräusch zwei Hände voll Sand auf das Brett klatschen. Nolan kam ein weiteres Mal nicht umhin, die Intelligenz seines Gegenübers zu bewundern. Das erleichterte ihre Kommunikation schon einmal. 

Zumindest dachte er das, bis er feststellte, dass er in der Schwärze der Nacht nicht lesen konnte, was Froy für ihn schrieb. Und das sagte er ihm auch. Froy antwortete mit einem zutiefst genervten Seufzen. Dann griff er Nolans Hand und begann mit dem Finger einzelne Buchstaben auf seinen Unterarm zu malen. 

Fühlst du das? 

Sogar das Fragezeichen malte Froy. „Natürlich merke ich das. Also, wie geht es weiter?“ Der Meerjungmann schrieb langsam, Buchstabe für Buchstabe weiter. 

Ich bringe dich noch bis in die Nähe des Schiffs. Wenn ich weg bin, dann rufst du nach Hilfe. Was du erzählst, ist deine Sache, Hauptsache du sagst, dass du schnell an Land musst und erwähnst mich mit keinem Wort. 

Nolan nickte tapfer, als Froy seine Hand wieder losließ und bis zu den Schultern im Wasser versank. Kurz fragte er sich, wie er das Brett bewegen wollte, dann setzte sich das Holz unter ihm in Bewegung, weil der Meerjungmann ihn schob. 

Sie stoppten erst, als sie nur noch wenige Meter von dem Schiff entfernt waren, das ruhig vor sich hintrieb.

Kurz hatte Nolan Angst, dass das Schiff ein Geisterschiff war, doch dann hörte er das Reden und Lachen von Deck. Die Mannschaft redete auf Englisch. Nicht nur das, es war gehobenes Englisch. Vermutlich ein Handelsschiff. Froy hatte offensichtlich eine gute Wahl getroffen. 

„Wie geht es jetzt weiter?“ Fragte Nolan, obwohl er das ganz genau wusste. Er wollte Zeit schinden, weil er nicht wollte, dass Froy einfach im Wasser verschwand. Der Meerjungmann wies mit dem Finger auf das Schiff und schenkte Nolan ein aufmunterndes Lächeln. Er zog eine Grimasse, die ein Lächeln sein sollte, sich aber komplett falsch anfühlte.

Froy kommentierte es nicht. Vermutlich hatte er einfach keine Lust etwas zu schreiben.

„Und dann? Was ist, wenn ich wieder gesund bin? Wie geht es dann weiter? Wie sehen wir uns wieder?“ Nolan beugte sich angestrengt flüsternd zum Wasser runter, seine Stimme kam ihm viel zu laut vor.

Froy schluckte offensichtlich angestrengt, sein Kehlkopf hüpfte dabei. Nolan glaubte, die leuchtenden Augen feucht glänzen zu sehen, aber er war sich nicht sicher.

„Was ist los, Froy?“ Er hielt ihm die Hand hin, doch es brauchte einige Momente bis der Meerjungmann sie auch ergriff und fest drückte.

Trotzdem schrieb er nichts. „Froy, was ist los?“ Lange Stille. Dann biss Froy sich auf die Unterlippe und begann wieder Buchstaben auf Nolans Arm zu malen.

Du musst mir etwas versprechen.

Aus Angst, Froy würde sofort verschwinden, wenn er nicht zustimmte, nickte Nolan. Der andere wischte mit der flachen Hand über seinen Unterarm, fast als wolle er die unsichtbaren Worte wegwischen, bevor er weiterschrieb. 

Du darfst nie wieder ein Schiff betreten. 

Dem Piraten blieb die Luft weg. Nie wieder auf einem Schiff anheuern und Pirat sein war das eine. Nie wieder ein Schiff zu betreten, war etwas ganz anderes. Ein Ding der Unmöglichkeit. 

„Das kann ich nicht versprechen.“ Sagte Nolan mit gepresster Stimme. „Ich kann nicht den Rest meines Lebens auf einem willkürlich gewählten Stück Land verbringen.“

Bei dem Gedanken daran, nie wieder das Schaukeln unter seinen Füßen zu spüren, nie wieder auf einen Mast zu klettern, um den Blick auf den Horizont zu richten, wurde ihm schlecht. 

Du musst. Sonst wird die Dutchman dich finden.

Nolan wusste, dass Froy recht hatte. Und obwohl er tapfer nickte, vermisste er es jetzt schon, die salzige Luft einzuatmen und die Nase in den kühlen, feuchten Wind zu recken. 

„Gut.“ Würgte er hervor. „Meinetwegen. Nie wieder auf ein Schiff, ist in Ordnung. Aber dafür musst du mir auch was versprechen. Du kommst mich besuchen und wenn ich wieder fit bin, dann bringst du mich irgendwo auf eine einsame Insel mit Vegetation.“ 

Froy seufzte vernehmlich, bevor er langsam den Kopf schüttelte. 

Das kann ich nicht. 

Nolan starrte auf seinen Unterarm, auf den der andere die vier Worte geschrieben hatte. „Warum nicht? Das ist für dich eine Sache von ein paar Stunden. Ich habe dir gerade etwas für den Rest meines Lebens versprochen und du sagst, dass dir das zu viel ist?“ Er merkte, dass er zu laut geworden war, noch bevor Froy den Finger an seine Lippen legte. 

Es gibt einen Haufen von Menschen, die Jagd auf mich machen würden, wenn sie mich sehen würden. 

Nolan wusste, dass Froy recht hatte. Er hatte davon schon gehört, nicht nur in Legenden, sondern auch in der Realität. Und trotzdem wollte er das nicht wahrhaben. 

„Du willst damit sagen, dass wir uns nie wieder sehen, wenn ich das Schiff betrete?“ Froys ausbleibende Reaktion war Antwort genug. Tränen stiegen Nolan in die Augen und jetzt war er sich sicher, dass er in Froys leuchtenden Augen die Tränen glänzen sah. 

„Ich will nicht, dass du gehst.“ Wenn er das gewusst hätte, hätte er den verdammten Sandhaufen niemals verlassen. Der Meerjungmann stieß einen undefinierbaren Laut aus, Nolan konnte nicht einschätzen, was er damit ausdrücken wollte. „Ich meine das ernst, Froy. Ich will nicht, dass du jetzt einfach verschwindest und wir uns nie wieder sehen.“

Damit der Andere nicht einfach so abtauchen konnte, griff er seine Hand und verwob ihre Finger. Froy stieß wieder einen undeutlichen Laut aus und sank noch etwas tiefer ins Wasser. Er klang traurig, vielleicht etwas bedauernd oder wehmütig, so genau wusste Nolan das nicht zu sagen. Aber es spielte ja auch keine Rolle. 

„Bitte, Froy.“ Eigentlich war der Pirat niemand, der andere anflehte. Aber eigentlich war er auch niemand, der sein Schicksal akzeptierte und trotzdem hatte er sich von seinem Kapitän zunächst fesseln und dann knebeln lassen, ohne zu protestieren.

Jetzt war es genau umgekehrt. Er bat und er wusste, dass er auch betteln und flehen würde, weil er sein Schicksal nicht akzeptieren konnte.

„Du kannst doch auch nicht wollen, dass wir uns nie wieder sehen.“ 
Es war krank. Sein Verhalten war wirklich krank und er wusste das selbst. Wie lange kannten sie sich jetzt? Eine Woche? Und trotzdem flehte er, bei Froy bleiben zu dürfen? Das war doch albern! Und trotzdem fühlte es sich falsch an, den Meerjungmann einfach so hinter sich zu lassen. Nicht einmal für eine unbestimmte Zeit, sondern für immer. Das klang so endgültig. 

„Froy… Jetzt mach doch auch mal was! Äußre dich doch auch mal!“ Froy machte nichts und er äußerte sich auch nicht. Er sah einfach stumm zu Nolan hoch, während eine große, runde Träne sich aus seinem Auge löste und über die blasse Wange lief.

„Froy, bitte! Bedeutet das hier dir denn gar nichts?“ Tränen der Verzweiflung und der Hilflosigkeit mischten sich zu denen der Trauer.

„Froy…“ Seine Stimme brach, er musste neu ansetzen. 

„Froy, du weißt jetzt, wie das Lied ausgeht und du hast mein Schicksal ausreichend gerade gebügelt. Also, jetzt verrat mir endlich, was du noch hier machst, wenn dir das hier nichts bedeutet… Und das tut es ja offensichtlich nicht.“ 

Der Meerjungmann blinzelte langsam. Eine nächste Träne floss aus seinem Auge und rollte ihm über die Wange, bevor sie mit einem leisen Geräusch ins Wasser tropfte. Er schwieg. Und Nolan schwieg auch, während er die Hand des Anderen losließ und sich trotzig die Nase abwischte. Dann biss er sich auf die Unterlippe und wischte sich mühsam beherrscht die Tränen weg. 

„Gut.“ Sagte Nolan schließlich, seine raue Stimme zitterte. „Dann sagst du eben nichts dazu. Ist mir auch recht, geht mich ja nichts an. Dann schwimmst du jetzt wohl einfach weg, verschwindest einfach auf Nimmerwiedersehen?“ Froy blieb stumm. Nur seine großen Augen waren unverwandt auf Nolan gerichtet, während sich Träne um Träne aus ihnen löste. 

Sie großen Tränen waren der einzige Grund, warum Nolan seine Hand nicht wegzog, als Froy sie wieder griff und sanft drückte. „Sprich mit mir.“ Bat er, obwohl er ganz genau wusste, dass der Meerjungmann das nicht konnte. „Jetzt sag mir doch bitte einfach, was hier los ist.“ Er bettelte und Froy senkte ergeben den Kopf, bevor er ihn langsam schüttelte.

Nolan unterdrückte ein Schluchzen. Er wollte sich nicht so verletzlich zeigen, wenn der Meerjungmann ihm immer und immer wieder so abtropfen ließ. 

Nach einigen Momenten des Schweigens stieß Froy wieder eines der kläglichen Geräusche aus. Nolans Herz zog sich vor Mitleid zusammen, doch er blieb standhaft. Beugte sich nicht zu dem Anderen, um ihn tröstend zu umarmen. Stattdessen ballte er die freie Hand zur Faust und setzte sich etwas aufrechter hin. Das Pochen in seinem Bauch verstärkte sich. „Du solltest jetzt gehen.“

Der Meerjungmann blinzelte erneut langsam, bevor er wieder angestrengt zu schlucken versuchte, dann nickte er langsam. Nolan hörte das leise Kratzen, als Froy wohl erneut etwas in das bisschen Sand schrieb, aber er konnte es nicht lesen.

Die nasse, immer noch etwas kalte Hand löste sich wieder von seiner, Froy legte kurz beide Hände an den Rand der Planke, bevor er sich ein Stück zurückschob und langsam im dunklen Wasser unterging.

Das grüne Leuchten seiner Augen entfernte sich langsam, wurde schwächer und schwächer und Nolan konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. 

Ohne dass er es irgendwie verhindern konnte, strömten die Tränen aus seinen Augen, zunächst versuchte er noch, sie weg zu wischen, doch er gab es bald auf. Es hatte keinen Sinn. 
Froy war weg. Er hatte ihn weggeschickt, um ihnen beiden den Abschied zu erleichtern, er hatte gehofft, dass es ihm besser gehen würde, wenn der Andere weg war, doch dem war nicht so. Es ging ihm furchtbar, viel schlimmer als zuvor. 

Als er das grünliche Leuchten wieder näherkommen sah, zweifelte er kurz an seinem Verstand, bis dann vor ihm das Wasser aufbrach. Die kleine Welle brachte das Holz unter ihm gefährlich zum Wanken, doch als Nolan in Froys blasse Gesicht sah, das von nassen Haaren umrahmt wurde, war es ihm egal. 

Ohne zu fragen, was der Andere schon wieder hier machte, ließ er ihn näherkommen und ließ auch zu, dass Froy ihm etwas nasses, glattes in die Hand gab. Ohne es anzusehen, steckte er es zu der Münze in seiner Tasche und blickte ihn kurz an, bevor er tief einatmete und den Meerjungmann packte. Seine Finger gruben sich in die nassen Haare, er zog ihn fast schon grob an sich, während er seine Lippen fest auf die Froys drückte, ihn gierig küsste. 

Im Gegensatz zum Kuss einer Meerjungfrau hatte der Kuss eines Seemanns keinen besonderen, Mythen umrankten Hintergedanken. Er hatte nur die eine Bedeutung und als Froy sich für einige Momente lang an ihn drückte, den Kuss genauso ungestüm erwiderte, wie Nolan ihn begonnen hatte, wusste der Pirat, dass die Botschaft angekommen war. 

Trotzdem löste Froy sich viel zu schnell wieder von ihm, das nervöse und zugleich wohlige Kribbeln in seinem Magen hatte sich gerade erst eingestellt, als der Meerjungmann den Kopf zurückzog. Obwohl er damit den Schnitt mehr belastete, als gut für ihn war und das Brett sich unter ihm bedrohlich neigte, beugte er sich erneut zu dem Meerjungmann und wollte ihn ein zweites Mal küssen.

Froy wich scheu wirkend zurück. 
„Lass mich mit dir kommen.“ Bat Nolan so leise er irgendwie konnte. „Bitte, Froy. Ich will nicht den Rest meines Lebens ohne das Meer verbringen.“ Er war sich sicher, dass Froy intelligent genug war, um zu verstehen, dass das Meer an dieser Stelle auch ein Synonym für ihn selbst war.

„Der Schnitt wird schon wieder. Wir können ihn mit Alkohol desinfizieren und versuchen, ihn auszubrennen und zu nähen oder so, ich kann nähen. Wirklich.“ 

Die geschwungenen Lippen des Meerjungmannes öffneten sich einen Spalt, er schien angestrengt nachzudenken, bevor er wieder zu Nolan sah. „Bitte, Froy. Bitte nimm mich mit.“ Er lehnte sich so nahe zu ihm, dass er den warmen Atem des Anderen auf seinen Lippen spüren konnte.

Froys Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln und Nolans Herz setzte einen Schlag aus, weil er glaubte, den Meerjungmann endlich überzeugt zu haben. 

Viel zu spät sah er die Tränen in den Augen des anderen, noch während er versuchte ihn irgendwie aufzuhalten, stieß Froy ein lautes, gurgelndes Fauchen aus, bevor er untertauchte. Nolan versuchte gar nicht erst, ihm zu folgen, sondern sah hoch zur Reling des großen Schiffes, über die sich ein Matrose mit einer Laterne in seiner Hand beugte. 

„Ich bin hier.“ Rief Nolan mit tränenerstickter Stimme. Im schwachen Licht der Laterne sah er, dass der Meerjungmann ‚Sorry‘ in den Sand geschrieben hatte. Nolan wischte den nassen Sand mit einer groben Handbewegung von dem Holz und sah wieder hoch zu dem Matrosen.

„Mein Schiff wurde versenkt. Ich bin der einzige Überlebende und ich brauche dringend Hilfe und einen Arzt.“ Während man oben am Deck lautstark diskutierte und beratschlagte, zog Nolan aus seiner Tasche das, was Froy ihm gebracht hatte. Eine glänzende, Perlmutt schimmernde Muschel. Eine Auster. 



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