21. Verborgene Kräfte
Silent Hill, Haus der Familie Gillespie
zwei Tage zuvor
Sophia stand im Flur des Gillespie-Hauses und hörte interessiert zu, was die Stimme am Handy ihr sagte. "Und du bist ganz sicher?", fragte sie mit funkelnden Augen.
Ihre Gesprächspartnerin beteuerte die Glaubhaftigkeit ihrer Nachforschungen.
Sophia lauschte angespannt, dann war sie plötzlich wie elektrisiert. "Was - du hast ein Bild?!", gab sie laut von sich. Nachdem die Frau am anderen Ende dies bestätigte, sagte Sophia sogleich: "Okay - sofort simsen, bitte. Gute Arbeit, Fiona!" Die Angesprochene fragte noch etwas nach. "Nein, du musst nicht länger in Greenfield bleiben", bestätigte Sophia ihre Frage. "Komm nach Hause. Der Orden hat bald etwas Großes zu feiern..." Ihr Gesicht nahm einen freudigen Glanz an. Schließlich verabschiedeten sich die beiden Frauen und Sophia beendete den Anruf.
Gleich darauf starrte sie ungeduldig auf den Touchscreen ihres Smartphones. Sie war so gespannt auf das Bild.
Plötzlich summte es. Fiona hatte ihr eine Whats-App-Nachricht geschickt. Hastig öffnete Sophia den Chat und klickte auf das eingefügte Bild.
'Sieh an...', dachte sie und betrachtete den Bildausschnitt, der ein wenig unscharf war. Darauf sah man eine Frau mit weißblonden kurzen Haaren zügig die Straße heruntergehen. Sie trug eine Sonnenbrille, wodurch ein Großteil der Gesichtszüge nicht zu erkennen waren.
Doch Sophia störte sich daran wenig. Während sie das Handy in der linken Hand vor sich hielt, zog sie mit der rechten Hand ein altes Foto aus ihrer Hosentasche. Darauf war eine blonde, junge Frau mit kurzen, strähnigen Haaren zu sehen, die jemand von weiter weg mit einer hohen Zoom-Einstellung aufgenommen hatte.
Sophia verglich dieses Bild mit der Aufnahme aus Greenfield. Die Sonnenbrille konnte viel kaschieren, doch wenn man sie sich wegdachte und die Mundpartie verglich, besaß die ältere Frau auf dem Handy doch eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der jungen, blonden Frau auf dem alten Foto. Zumal die Frisur der älteren Frau ziemlich genauso aussah, wie die der jüngeren. Nein - nicht genauso, erkannte Sophia. Sie sah immer noch so aus. Weil es nicht zwei verschiedene Frauen waren. Weil auf beiden Bildern dieselbe Frau zu sehen war.
Sophia kniff die Augen zusammen und lächelte triumphierend. "Hab ich dich also endlich gefunden...", murmelte sie verschwörerisch.
Dann schlug ihr Herz schneller. Sie spürte Hass aufglimmen, der ihr fast weh tat. Mit bösem Blick starrte sie auf das Bild im Handy. Hier war also die Frau zu sehen, die ihre Mutter auf dem Gewissen hatte. Fröhlich spazierte sie durch die Welt, als wäre nichts geschehen. Sophia atmete keuchend aus und steckte das Handy sogleich schnell weg.
Während sie versuchte, sich zu beruhigen, hörte sie jemanden die Treppe herunterkommen. Ein großer Mann mit dunklen Locken erschien am Treppenabsatz und ging zügig an ihr vorbei Richtung Haustür. Sophia sah ihm verwundert hinterher. "Gabriel...", sagte sie überrascht, "wohin so eilig?"
Der großgewachsene Mann blieb nahe der Tür stehen, drehte sich aber nicht um. "Ich... ich habe noch etwas zu erledigen", sagte er mit seiner tiefen, festen Stimme.
Sophia bemerkte eine Ausbuchung an der Seite seiner Sommerjacke. "Und dafür brauchst du wohl einen von Tante Dahlia's speziellen Gegenständen, wie?"
Schuldbewusst fasste Gabriel sich an die Jackentasche und steckte kurzerhand seine Hand hinein. "Das geht dich nichts an", sagte er bestimmt und drehte seinen Kopf zur Seite.
Sophia schnaubte nur. Dann hielt sie ihren Kopf zur Seite und meinte: "Du hast sie immer noch nicht begrüßt, oder?! Deine lieben Kleinen..."
Gabriel drehte sich um. "Lass das, Sophia", sagte er und kniff die Augen leicht zusammen. Eine ungeahnte Spannung wurde plötzlich im Raum spürbar. "Alles zu seiner Zeit...", meinte Gabriel abwehrend.
Sophia ging ein paar Schritte auf ihn zu. Ihre blonden halblangen Haare wippten im Takt ihres Ganges. "Du willst wohl nicht, dass die armen Kleinen schlecht von dir denken, was?", stichelte sie. "Der gute alte Superdaddy von früher..."
Gabriel atmete sichtbar ein und schüttelte langsam den Kopf. "Wenn du glaubst, mich mit solchen Sticheleien zurückzugewinnen, bist du auf dem Holzweg, Sophia." Kaum hatte er das gesagt, drehte er sich auf dem Absatz um und ging nach draußen.
Sophia blinzelte verunsichert. Gabriels Worte schienen etwas bei ihr berührt zu haben. Dann dachte sie wieder an die Frau mit der Sonnenbrille. Egal, was Gabriel von ihr dachte. Es war Zeit, nach Greenfield zu fahren...
___
Im Obergeschoss des Hauses betrat gerade Dahlia das Kinderzimmer. Sofort zogen Henry und Anna erschrocken die Luft ein.
"Komm Anna", sagte Dahlia fast liebevoll und winkte das Mädchen zu sich. "Du kannst mit mir Abendbrot essen."
Verunsichert blieb Anna am Tisch sitzen und schaute nervös. Weil die alte Frau sie so unerbittlich ansah und fordernd die Hand ausstreckte, stand sie dann lieber doch vom Stuhl auf und ging ein paar Schritte auf sie zu. "Willst du... willst du mir wieder von Alessa erzählen?", fragte sie schüchtern.
Dahlia nickte. "Ja, das werde ich." Sie setzte ein freundliches Lächeln auf. "Wie du nun schon weißt, war sei ein Mädchen mit vielen Interessen."
Anna guckte verunsichert und schielte dann zu den Motten und Insekten hinüber, die an der Wand in mehreren Glasvitrinen angebracht waren. "Hat sie etwa auch diese Dinger gesammelt?", fragte sie. Ihre zarte Stimme klang angeekelt.
Dahlia nickte langsam. "Ja, das hat sie. Aber dieses Hobby war ihr nicht gut bekommen. Sie hatte viele Alpträume deswegen."
Anna nickte nur und stand weiterhin unschlüssig da.
Dahlia packte kurzerhand ihre Hand. "Na komm, Liebes - ich werde dir wieder etwas Interessantes erzählen." Daraufhin setzte sich Anna in Bewegung und ging schließlich sogar von allein aus dem Zimmer Richtung Treppe.
Henry betrachtete die ganze Szene ungläubig. Es war, als hatte die alte Frau eine gewisse Macht über seine Schwester. Diesmal war ihm das Ganze zu bunt. Er stand auf und wollte an Dahlia vorbei, Anna hinterher gehen.
Da stellte sich die angebliche Großmutter ihm in den Weg. "Was denkst du, wo du hinwillst?", knurrte sie böse.
Henry fühlte Panik aufkommen. Doch er fasste Mut und meinte: "Ich will... ich will bei meiner Schwester sein." Kaum gesagt, setzte er sich erneut in Bewegung und wollte an Dahlia vorbeikommen.
Mit ungeahnter Wucht sauste plötzlich Dahlia's Hand über seine Wange. Erschrocken taumelte er zurück und hielt sich eine Hand an die schmerzende Stelle. Mit offenem Mund sah er dabei Dahlia an, deren Augen ihn plötzlich zornig anfunkelten.
"Du hast hier überhaupt nichts zu wollen", zischte sie boshaft. "Du solltest überhaupt nicht hier sein!"
Henry stand wie erstarrt da, verstand nicht, was sie meinte.
Dahlia kniff ihre Augen gefährlich zusammen. "Wenn du noch einmal Ärger machst, sperre ich dich auf dem Dachboden ein. Verstanden?!"
Von Panik erfasst nickte Henry nur wild. Er wusste nicht genau, was die alte Frau meinte. Doch auf keinen Fall wollte er von Anna getrennt werden.
Dahlia musterte ihn einen Moment lang durchdringend. Dieser kleine Racker ging ihr langsam auf die Nerven. Seine ritterlich kindliche Art, mit der er seine Schwester beschützen wollte, erinnerte sie an einen gewissen Harry Mason. Gott, wie sie diesen Mann hasste! Er, der ihr damals bei der Sache mit Alessa dazwischen gepfuscht hatte. So einen braucht die Welt nicht nochmal! Und wenn Henry Brighton nicht tun würde, was sie wollte, würde sie ihn schon mit ihren Methoden erziehen. Damit er gefügig wird. Ein braves Lamm, bereit als Opfer für Gott...
Den Jungen immer noch zornig anfunkelnd, drehte Dahlia sich geschmeidig um und verließ den Raum.
Als Henry das Klicken des Türschlosses vernahm, nahm die Verängstigung ab und Wut kam hoch. Er wusste nicht, was diese Frau eigentlich vorhatte. Er wusste nur, dass er mit Anna irgendwie hier raus musste.
___
Wenig später saß Dahlia mit Anna am Küchentisch und aß Abendbrot mit ihr. Wie beiläufig erzählte sie dem kleinen Mädchen dabei von der geheimnisvollen Alessa, für die sich Anna allmählich zu interessieren begann.
"Sie war etwas Besonderes", sagte Dahlia gerade und biss ein Stück Brot ab. "Doch viele ihrer Mitschüler hatten Angst vor ihr." Bei diesen Worten musterte sie Anna, die ihr genau gegenüber saß, am anderen Ende des Küchentisches.
Anna gönnte sich ein Happen von den Pommes, die Dahlia selbst gemacht hatte. Sie runzelte die Stirn. "Wieso?", fragte sie lediglich.
"Sie konnte Dinge bewirken", antwortete Dahlia und starrte Anna direkt in die Augen. "Dinge, die keiner kann." Sie suchte im Blick des Mädchens nach einer Reaktion.
Tatsächlich blinzelte Anna verunsichert. "Ach... achso?, fragte sie missmutig.
Dahlia kniff leicht die Augen zusammen. Sie ahnte, dass sie auf der richtigen Fährte war. "Oh jaaa...", sagte sie betont langgezogen. "Deswegen hielten sie viele für einen Sonderling." Sie musterte Anna scharf. "Das ist natürlich sehr erniedrigend, nicht?!", säuselte sie geheimnisvoll. "Wenn man für einen Sonderling gehalten wird, meine ich..."
Anna schluckte nervös. "Ja...", meinte sie dann unsicher, "das... das wäre nicht schön." Für einen Moment senkte sie den Kopf.
Dahlia durchbohrte sie geradezu mit ihren Blicken. Sie wartete noch einen Moment, dann setzte sie nach. "Hast du dich auch schon mal so gefühlt, kleine Anna? Dass man dich nicht versteht?!"
Wieder blinzelte Anna nervös. Ihre Miene wurde plötzlich bleich. "Ich... ich weiß nicht", brachte sie mühsam hervor. "Kann... kann sein..." Sie senkte den Blick und wollte scheinbar nichts mehr sagen.
Dahlia nickte nur langsam. Dann sah sie neben sich eine Wasserflasche stehen. "Hier", sagte sie und schob die Flasche über den Tisch, "willst du vielleicht etwas trinken?" Sie setzte ihre Kraft gezielt ein, so dass die Flasche noch ein ziemliches Stück von Anna entfernt auf dem Tisch stehen blieb.
"Oh ja", meinte Anna. Sie streckte sich im Stuhl vor, kam aber nicht mit den Fingern an die Flasche.
"Na los doch", ermunterte Dahlia sie spöttisch, "greif zu."
Doch so sehr sich Anna bemühte, kam sie mit ihrer Hand nicht an die Flasche heran. Daraufhin wollte sie aufstehen, um die Flasche zu holen, doch irgendwie war ihr Stuhl plötzlich mit den Tischbeinen verkeilt, so dass das nicht ging. Wieder streckte sie sich vom Stuhl aus vor.
"Na los doch...", säuselte Dahlia ermunternd. "Schnapp dir die Flasche..."
Anna streckte sich vor und schnappte mit ihrer Hand durch die Luft nach der Flasche. Sie stand doch so dicht vor ihr! Sie blinzelte die Flasche an und streckte weiterhin ihre Hand danach aus.
Plötzlich passierte es! Die Flasche schurrte ein kleines Stück über den Tisch auf sie zu. Erschrocken lehnte sich Anna zurück und hielt sich ihre Hände vor den Mund. "Das... das wollte ich nicht", sagte sie laut abwehrend.
Geschwind stand Dahlia auf und war sofort bei ihr. Dabei steckte sie schnell das Siegel weg, mit dem sie eben Annas Stuhl am Tisch fixiert hatte. "Sch... sch...", tröstete sie, ging neben Anna auf die Knie und streichelte ihr über den Arm. "Es ist alles in Ordnung, Liebes."
Das Mädchen hielt immer noch ihre Hände vor den Mund und starrte ungläubig auf die Flasche.
Dahlia streichelte sie weiter sanft, musterte sie aber mit neugierigen Blicken. "Das ist schon einmal passiert, nicht wahr?!", fragte sie mit geheimnisvoller Stimme.
Anna vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und nickte. Sie fing an zu schluchzen. "Einmal in der Schule", wimmerte sie, "meine Federtasche... flog durch die Luft..."
Dahlia schmunzelte innerlich. Nach außen gab sie sich ganz verständig, nickte langsam und streichelte sie weiter sanft. "Und dann haben die anderen Kinder dich seltsam angesehen, stimmts?!", hakte sie mit möglichst ruhiger Stimme nach.
Anna nickte nur mit Händen auf dem Gesicht.
"Das war nicht nett von ihnen, überhaupt nicht nett - nein", sagte Dahlia übertrieben tadelnd und schüttelte dabei mehrmals den Kopf. Dann wurde ihr Gesichtsausdruck abgeklärter. "Aber das haben sie nur getan, weil sie das nicht verstehen, weißt du?", säuselte sie geheimnisvoll. "Sie verstanden es auch bei Alessa nicht. Deshalb hatten sie Angst vor ihr."
Anna stellte das Schluchzen ein und nahm ihre Hände vom Gesicht. Ihr Blick war fragend und verängstigt zu gleich. "Konnte... konnte Alessa das etwa auch?", fragte sie zaghaft.
Dahlia schaute sie möglichst beruhigend an und nickte entschieden. "Oh ja - dies und noch viel mehr..."
Anna schluckte nervös.
Dahlia ergriff ihre Hände und umschloss sie liebevoll. "Deswegen habe ich dir von von ihr erzählt, Anna", fuhr sie verschwörerisch fort. "Weil du genau wie sie etwas Besonderes bist. Nicht jeder versteht das." Sie sah sie möglichst treuherzig an und fügte hinzu: "Aber ich, Anna, ich verstehe das."
Anna zog ihre Hände aus Dahlias Umklammerung. "Aber... ich möchte nicht so sein", gab sie von sich und schüttelte den Kopf. "Was... was soll denn Mummy von mir denken."
"Ohh - deine Mummy versteht das Ganze auch nicht", konterte Dahlia sofort und richtete sich neben Annas Stuhl zu ganzer Größe auf. "Sie will nicht wahrhaben, dass es diese Kräfte gibt. Deswegen hat sie euch so lange von diesem Teil der Familie ferngehalten."
Anna verbarg ihr Gesicht erneut in den Händen und schluchzte.
Dahlia kniff die Augen zusammen und schürzte ihre Lippen. "Wie hat denn deine Mummy eigentlich reagiert, als sie von der Sache mit der Federtasche erfuhr, hhm?!", fragte sie hinterlistig. "Hat sie dich nicht auch seltsam angeschaut?"
Annas Weinen nahm zu.
Zufrieden registrierte Dahlia, dass sie einen wunden Punkt im Herzen des Mädchen getroffen hatte. Sie musterte Anna mit zusammengekniffenen Augen. "Wer weiß...", säuselte sie mit verschwörerischem Tonfall, "vielleicht hat deine Mum nun sogar auch Angst vor dir..."
Anna hob ihr Gesicht zur Decke und heulte laut auf. "Neii...iihh...ihhn!", schluchzte sie laut. Es war nicht zu übersehen, wie ihr das Herz von diesem Gedanken blutete. Hastig sprang sie auf und rannte heulend aus der Küche. "Mummy - nein, bitte nicht - Mummy..yyh..yyhh... yhhh!"
Dahlia staunte nur einen kleinen Moment über die Wirkung ihres Nadelstiches und eilte Anna sogleich hinterher.
Im Flur tauchte in diesem Moment der alte Mann auf, da er das Weinen gehört hatte. Staunend sah er das schwarzhaarige Mädchen plötzlich auf sich zukommen.
"Schnell - halt sie fest!", zischte Dahlia, die sogleich dahinterkam.
Instinktiv tat der alte Mann ihr den Gefallen. Wie von selbst schloss er die Arme um die Kleine, als sie ihn anrannte. "Bitte... Mummy...", schluchzte Anna herzzerreißend an seinem Bein, "ich will zu meiner Mummyyy...yyhh...yyhh...yyhh..yyyyh."
Dem Alten ging der Moment sichtlich nahe. Schwer atmend legte er eine Hand an Annas Hinterkopf und strich ihr übers Haar. "Sch, Ale... ich meine, Anna", sagte er liebevoll. Dabei starrte er Dahlia erschrocken an. Fing diese Hexe etwa bei den Kindern wieder mit ihren alten, strengen Erziehungsmethoden an???
Im nächsten Moment stand Dahlia auch schon vor ihm. Sie ging hinter Anna auf die Knie. "Sch... sch...", sagte sie beruhigend und streichelte ihr über den Rücken.
"Lass mich...", gab Anna schluchzend von sich und zuckte abwehrend mit ihrem Rücken hin und her.
"Aber... aber... ich kann dir helfen", gab Dahlia daraufhin mit betont unschuldigem Tonfall von sich. "Helfen, diese Kräfte zu bändigen."
Annas Schluchzen ließ nach, aber noch immer rührte sie sich nicht vom alten Mann weg. "Ich will zu meiner Mummyyyy", jammerte sie, "wo ist Mummyyy..." Sie schniefte. "Du hast gesagt, Mummy wird bald kommen. Das war gelogen."
Der Alte stand unschlüssig da und wusste nicht, was er sagen sollte.
"Aber nein", erwiderte Dahlia in einem höheren Tonfall. "Deine Mummy wird bald hier sein - so glaub es doch. Der Tag kommt immer näher." Sie starrte auf den wimmernden Rücken des Mädchens und schürzte ihre Lippen. "Und ich glaube, deine Großmutter wird auch kommen...", fügte sie mit tieferem Tonfall verschwörerisch hinzu.
Der alte Mann horchte bei diesen Worten auf. Warum sagte Dahlia dies mit so einem triumphierenden Blick?
Anna drehte sich halb zu Dahlia um. "Wirklich?", fragte sie schniefend.
Dahlia nickte mit großer Überzeugung im Blick. "Oh ja... sie wird kommen...", säuselte sie mit einem merkwürdigen Unterton. "Und bis dahin, Anna, kann ich dir zeigen, wie man mit diesen Kräften umgeht."
'Mit diesen Kräften???', dachte der Mann überstürzt. Sein Puls schlug schneller. Was war hier los?! Wer sind die Eltern der Kinder eigentlich???
Anna stand immer noch umklammert an den Beinen des Alten und schaute Dahlia zweifelnd an.
"Lass mich dich unterrichten", sagte die alte Frau wohlwollend und nickte ihr freundlich zu. "So, wie ich damals Alessa darin unterrichtet habe. Dann wirst du lernen, damit umzugehen. Und dann braucht niemand mehr vor dir Angst haben." Sie machte eine entschiedende Handbewegung bei diesen Worten. "Und wenn deine Mummy und Grandma dann kommen und sehen, wie du das alles kannst, werden sie es auch verstehen." Dahlia erhob sich und sah Anna freundlich an. "Und sie werden dich so akzeptieren, wie du bist."
Anna schaute immer noch unverständig. Vertrocknete Tränen klebten an ihren Wangen. Dann nickte sie einmal langsam.
Dahlia sah den Alten an. "Bring du sie nach oben, ja?"
Der alte Mann hatte tausend Fragen, nickte aber nur und ging dann langsam mit Anna zur Flurtreppe. Das Mädchen, das total fix und fertig war, ließ sich bereitwillig mitschleifen.
___
Ein paar Minuten später war der Mann wieder unten und räumte zusammen mit Dahlia das Abendessen vom Tisch ab. Immer wieder schaute er Dahlia dabei argwöhnisch an.
Als nur noch ganz wenig wegzuräumen war, fasste der Mann sich ein Herz und fragte sie: "Dahlia, was ist eigentlich mit diesen Kindern? Woher stammen sie?!"
Seine einstige Entführerin gab sich betont lässig. "Du stellst zu viele Fragen, Jonathan", sagte sie abwehrend, während sie vom Tisch die großen Behälter für die Vorratskammer aufnahm.
Der alte Mann stand auf der anderen Seite des Tisches und beäugte sie nur misstrauisch. Sein Herz raste. Etwas, was ihn schon lange beschäftigt hatte, war erneut wachgerufen worden.
Als Dahlia sich umdrehte und mit vollen Händen aus der Küche hinausging, wagte er ihr eine Frage hinterherzuwerfen: "Ist Alessa damals wirklich gestorben?!"
Dahlias Gang schien unverändert. "Natürlich...", sagte sie im Rausgehen ohne sich umzudrehen.
Doch dem Alten war dieser eine kleine Moment nicht entgangen, diese winzige Sekunde, in der sich Dahlias Gang versteift hatte. Die Frage hatte sie unvermittelt getroffen und sie hatte sich zu übertrieben bemüht, das zu überspielen.
Es war nur ein kurzer Augenblick, aber er war da...
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro