14. Der alte Mann
Silent Hill, Haus der Familie Gillespie
eine Woche zuvor
Lustlos saß Anna an dem kleinen Holztisch und starrte niedergeschlagen vor sich ins Leere. Ihr Bruder Henry saß auf dem Bett an der gegenüberliegenden Wand hinter ihr und schaute sich unsicher um. Das schien mal das Zimmer eines Mädchens gewesen zu sein, doch ganz sicher war er sich nicht. An der Wand, wo Anna saß, hatte jemand bilderartige Glasvitrinen befestigt, in denen total viele Insekten und Motten fein säuberlich neben- und untereinander eingeklebt waren. Einfach nur widerlich! Kein Wunder, dass Anna ihren Blick sehr schnell von dieser Wand abgewandt hatte.
Henry fröstelte. Er und Anna saßen nun schon seit ein paar Minuten in Hemd und Schlüpfer da. Zuvor hatte diese merkwürdige alte Frau sie gebadet und abgeduscht. Beide waren davon immer noch peinlich berührt. Bisher hatte nur ihre Mutter so etwas mit ihnen gemacht. Höchstens vielleicht noch ihre Großmutter, doch da machte ihnen das noch weniger aus. Bei ihrer tollen Grandma durften sie schließlich solange in der Badewanne bleiben, wie sie wollten.
Henry seufzte wehmütig und lehnte sich auf dem Bett zurück. Plötzlich ging die Tür auf. Die Kinder waren sogleich wie elektrisiert. Sicher kam jetzt diese Dahlia mit den Sachen, die sie anziehen sollten. Ihre angebliche "andere Großmutter" hatte zuvor energisch darauf bestanden, dass sie endlich mal gewaschen werden und neue Klamotten bekamen. Und sie hatte keine Widerworte geduldet. Als die Tür aufging, fasste sich Anna daher automatisch an den linken Oberarm. Noch immer tat es dort nämlich noch weh, weil die alte Frau sie beide vorhin an den Armen gepackt und mit festem Griff ins Bad geschleift hatte...
Doch als die Tür offen stand, kam jemand ganz Anderes herein. Es war ein alter Mann mit einer silbernen großen Brille. Er trug einen Packen Wäsche auf seinen zwei Händen. Langsam, fast schon bedächtig trat er durch den Türeingang und kam gemächlich ins Zimmer herein. Doch den Grund für seine Langsamkeit erkannten die Kinder recht schnell. Der Mann konnte einfach nicht schneller gehen. Er musste schon ziemlich alt sein, denn seine wenigen Haare leuchteten heller als die weiß-blond gefärbten Haare ihrer Grandma. Außerdem hatte er so viele Falten im Gesicht, dass die Kinder ihn nur staunend anstarren konnten.
"Ahh - da sind ja unsere Gäste...", sagte er etwas frohgemut. Die Stimme klang so gebrechlich, wie es sein Aussehen vermuten ließ. Trotzdem wirkte sie warm und freundlich.
Der Mann konzentrierte sich bei diesen Worten nur auf den Packen Wäsche in seinen Händen. Halb keuchend schlurfte er an den Tisch heran und ließ den Packen endlich dort drauf fallen. "Hier - das sind eure neuen Sachen", sagte er möglichst freundlich. Innerlich taten ihm die Kleinen so leid. Wie konnte Dahlia nur solch arme unschuldigen Wesen entführen?! Er überspielte seine Bekümmernis mit einem Lächeln und betrachtete die beiden Gäste immer noch am Tisch stehend nun etwas genauer.
Als sein Blick Anna traf, verschwand sein Lächeln urplötzlich. Ein Schrecken trat auf sein Gesicht und er fasste sich ans Herz.
Anna, die ihn inzwischen nicht mehr staunend, sondern mehr interessiert ansah, bemerkte das sofort. "Was... was ist?", fragte sie zaghaft.
"Ent... entschuldige, Kleines", sagte der Mann langsam und setzte zu einem neuen Lächeln an, das ihm aber nicht ganz gelang. "Es ist nur...für einen Moment..." meinte er und wurde plötzlich sehr ernst, "für einen Moment war es mir... als säße dort vor mir jemand... jemand ganz Anderes..." Er schluckte und blinzelte Anna an.
Das kleine Mädchen guckte irritiert.
"Wer... wer sind Sie?", wagte Henry zu fragen. "Sind sie der Mann von Dahlia?"
"Gott im Himmel, nein", rief der Mann sofort aus und winkte die Frage mit der Hand ab. Er wirkte regelrecht beleidigt. In Anna's Miene schlich sich ein leichtes Schmunzeln. Irgendwie mochte sie den Alten.
Der weißhaarige Mann schien über Henrys Frage so erregt, dass er einmal stark husten musste. Dann wurden seine Gesichtszüge wieder sanfter und er erklärte den Beiden: "Ich bin so gesehen auch ein Gefangener von ihr... Schon ziemlich lange sogar..." Er schaute betreten zu Boden. "Aber solange ich Dahlia im Haus zur Hand gehe, darf ich mich frei bewegen." Er räusperte sich unbehaglich und brach seine Worte ab. Schließlich musste er die Kinder nicht daran erinnern, dass sie hier eingeschlossen waren. Aber er hatte so lange keine anderen Menschen mehr gesehen, dass es ihm schwer fiel, nicht ins Plaudern zu verfallen.
Er bewegte sich einmal unruhig hin und her. Dann schien ihm etwas einzufallen. "Aber... aber das hier ist ein sehr schöner Raum", sagte er mit etwas hellerer Stimme, so als wollte er ihnen etwas anpreisen. Die Kinder guckten skeptisch.
"Wisst ihr - dieses Zimmer", sprach der Mann weiter und zeigte mit seiner Hand weitläufig durch den Raum, "hat früher einmal einem Mädchen gehört." Seine Miene wurde nachdenklicher, dann fügte er fast schon traurig hinzu: "Aber später... später durfte ich sie dann nicht mehr so oft sehen..." Er senkte den Kopf. Henry schaute verwundert, Anna wusste nicht, warum der Mann dies alles sagte.
Dann kam wieder Bewegung in den Alten. "Na jedenfalls", meinte er wieder etwas froher, "findet ihr hier bestimmt noch Sachen, mit denen ihr spielen könnt." Er suchte Henrys Blick und zeigte auf den Nachtschrank, der neben dem Bett in der Ecke stand. "Junge - wenn du in der Kommode zum Beispiel mal schaust, wirst du ein Kartenspiel finden." Henry bewegte seinen Kopf nach links und betrachtete den hölzernen Nachtschrank. Er machte aber keine Anstalten, aufzustehen und darin nachzusehen.
Der alte Mann ließ die Hand sinken und nickte nur, als begriff er etwas. Er drehte sich wieder Richtung Tisch und wies auf die Sachen. "Na ja - hier habt ihr erstmal die Kleidung. Ich muss jetzt wieder nach unten, sonst schimpft sie mit mir." Er richtete seine silberne Brille zurecht und lächelte verlegen. Durch die vielen Falten im Gesicht wirkte es wie das Lächeln einer Schildkröte. Er drehte sich langsam um und begann hinauszugehen.
"Warte", rief Henry zaghaft.
Der Alte drehte sich im Türrahmen um.
"Warum bist du nie weggelaufen?", fragte Henry verwundert. "Du kannst doch frei herumgehen."
Der Gefragte betrachtete mit seinem Blick abwechselnd die Kinder. Auch Anna schaute interessiert.
"Nun ja", meinte der Mann und schmunzelte schmerzhaft, "ich bin nun mal nicht mehr der Schnellste, wisst ihr?" Er zuckte mit einer Achsel. "Ich würde nicht weit kommen."
Henry schaute niedergeschlagen. Anna zog ihren Mund schief.
"Außerdem...", fuhr der Mann fort und räusperte sich, "gibt es dort draußen gefährliche Dinge..." Sein Blick wurde warnend.
Anna fröstelte es. Sie machte sich auf ihrem Stuhl noch etwas kleiner.
Henry schaute den Alten skeptisch an. Dann wandte er sich nach rechts, reckte seinen Kopf in die Höhe und schaute aus dem kleinen Fenster, das genau gegenüber der Tür am anderen Ende des schmalen Zimmers war. Durch das Viereck konnte er eine kleine Graslandschaft entdecken, in der das Haus stand. Weiter weg waren nebeneinander angeordnete Häuserzeilen zu erkennen, die auf größere Straßen hindeuteten. Über alldem schien die Sonne bei leicht bewölktem Himmel. Wo sollte dort Gefahr lauern?
Der Alte wusste, was Henry sah, doch er wusste genauso, dass er nicht alles sehen konnte, was es dort draußen gab. Die Beiden waren unschuldige Seelen und daher würden sie das verborgene, dunkle Wesen von Silent Hill nicht bemerken, selbst wenn sie davor standen. Sie sahen nur das, was sie sehen sollten...
Plötzlich hörte er von unten Dahlia seinen Namen rufen. "Wo bleibst du solange, zum Teufel", hörten gleich darauf auch die Kinder vom unteren Flur die Treppe hochschallen.
Der Mann wies mit dem Daumen hinter sich. "Ich muss... Das Abendessen macht sich ja nicht von allein..." Er ging rückwärts raus und nickte ihnen noch einmal zu. "Wir sehen uns bestimmt bald mal wieder", versuchte er sie etwas aufzumuntern.
Die Kinder blickten ihn nur verwundert hinterher und sahen zu, wie vor ihnen die Tür wieder geschlossen wurde. Dann hörte man ein Klicken. Sie waren wieder eingeschlossen in diesem Kinderzimmer.
___
Ein paar Augenblicke später hatten Henry und Anna die Sachen angezogen und beäugten skeptisch ihre neuen Klamotten. Sie wunderten sich, dass die Alte Sachen in genau ihrer Größe hatte.
"Dieses Kleid zwickt", meinte Anna und bewegte sich unruhig hin und her. Schließlich ging sie zu dem eckigen, wuchtigen Kleiderschrank und betrachtete sich unzufrieden in dem schmalen Spiegel, der an einer der Schranktüren befestigt waren. "Das ist doch totaaal unmodern", meinte sie zu ihrem Spiegelbild und gestikulierte dabei mit den Händen.
Das Kleid war "lilau" - wie Anna sich gern ausdrückte. "Lilau" war lila-blau - eine Farbe, die Anna gern Dingen gab, die aus ihrer Sicht nicht richtig blau waren. Doch in diesem Fall stimmte die Bezeichnung sogar. Die Farbe gefiel ihr, doch hatte das Kleid auch so komische Falten an den Seiten und Muster auf der Brust. Außerdem hatte es um den Hals herum einen großen, weißen Kragen, der einfach nur total hässlich aussah.
Henry schüttelte den Kopf. Als ob sie nicht wichtigere Probleme hatten. Sein rot-weißes Sweatshirt war auch mindestens 30 Jahre alt und total überholt. Aber viel schlimmer war: sie waren hier eingesperrt und anscheinend auch weit von zu Hause weg. Die Häuserzeilen, die man draußen vom Fenster aus sehen konnten, wirkten auf jeden Fall fremd, so als gehörten sie gar nicht zu Ludlow. Und besonders der riesige See, der anscheinend gar nicht so weit weg war und einen Großteil des Horizonts ausmachte, war ein klares Zeichen, dass sie nicht mehr in ihrer Heimatstadt waren. Doch Henry nahm sich vor, Anna nichts davon zu sagen. Wenn er irgendwie erreichen konnte, dass sie nicht mehr so oft weinte, würde er das tun. Er musste stark sein...
"Ich seh auch nicht gerade wie ein Model aus", sagte er übertrieben betont zu Anna, ging zu ihr hin, legte eine Hand auf ihre Schulter, stellte sich neben sie und betrachtete sein und ihr Spiegelbild. "Aber immer noch besser, als nackig."
"Aber mein Hello-Kitty-Shirt...", jammerte Anna. "Ob ich... ob ich das wohl wiederseh'?"
Henry seufzte. Die Wehmütigkeit seiner Schwester kam in den letzten Tagen leider immer recht schnell zurück. "Sicher", sagte er bestimmt und nickte doll mit dem Kopf. "Sie wird unsere Sachen bestimmt nur auswaschen."
"Hhmm", seufzte Anna langgezogen und betrachtete sich nachdenklich mit seitlich geneigtem Kopf im Spiegel. Dieses Kleid sah an ihr einfach total komisch aus!
Irgendwann später standen die Beiden dann am Fenster und betrachteten die Gegend. "Henry?", fragte Anna. "Wo sind wir hier eigentlich? Sind wir im Nationalpark? Wegen dem See, meine ich."
"Ähhm...", stammelte Henry.
Doch im nächsten Moment hörten sie das Schloss klicken und die Tür ging auf.
Erschrocken wandten sich die Beiden um und gingen ein paar Schritte vom Fenster weg.
Dahlia betrat den Raum. "Na sieh mal einer an", meinte sie überaus freundlich und schaute übertrieben erstaunt. "Ihr Beiden seht ja richtig festlich aus." Sie schlug die Hände vor Entzücken unter ihrem Kinn zusammen.
Anna und Henry schluckten nervös.
Dahlia ging mit würdevollen Schritten zur Seite, so dass sie direkt vor Anna stand. "Dieses Kleid sieht an dir wirklich entzückend aus", lobte sie und hielt ihren Kopf leicht zur Seite. "Ich habe gleich gewusst, dass dir das passt", säuselte sie verschwörerisch.
Unsicher schaute Anna an sich hinunter. Sie konnte nicht erkennen, warum das gut aussehen sollte. Sie sah wieder auf und blickte in die großen Augen der Frau, die gerade ziemlich freundlich schauten. Sie fasste sich daher ein Herz und fragte: "Gehört das Kleid dem Mädchen von früher?"
Der Blick der alten Frau wurde plötzlich hart und stechend. "Wie bitte?!", fragte sie mit gefährlichem Schnurren. "Wer erzählte dir etwas von einem Mädchen?" Sie kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt auf Anna zu.
Die Kleine wich ängstlich zurück. Ihr Herz pochte wild. "Der... der alte Mann...", sagte sie halb wimmernd.
Dahlia blieb stehen und hielt ihren Kopf zur Seite. "Soso...", murmelte sie vielsagend. "Was genau hat er gesagt..." Die Stimme hatte einen gefährlichen Unterton.
"Nicht viel", antwortete Henry kurzatmig an Anna's Stelle. "Er... er meinte nur, dass das Zimmer früher mal einem Mädchen gehörte."
Dahlia's bohrender Blick ruckte zu dem Jungen.
"Mehr nicht", fügte Henry hastig hinzu. Auch sein Herz schlug ziemlich schnell. "Wirklich nicht..."
Der Blick der Frau schien für einen Moment wie festgefroren, dann löste sich ihre angespannte Haltung plötzlich auf.
Henry pustete einmal leise durch, Anna schluckte ihren Kloß im Hals herunter.
Die Frau maß sie abwechselnd mit prüfendem Blick. Nach einer längeren Pause sagte sie: "Ihr werdet schon noch alles über sie erfahren." Ihr Tonfall war freundlich, aber bestimmt. "Aber ich bitte euch darum, mich bis dahin nicht mehr darauf anzusprechen. Oder jemand Anderes danach zu fragen. Haben wir uns da verstanden?!"
Hastig nickten beide Kinder fast gleichzeitig mit den Köpfen.
Dahlia straffte sich und bewegte ihren Kopf einmal geschmeidig hin und her. "Sophia bringt euch gleich das Abendbrot", sagte sie leiser und betont freundlicher. "Achtet bitte auf eure neuen Sachen." Sie musterte die Beiden noch einen Moment, drehte sich dann um und verließ zügig das Zimmer.
Beklommen schauten Henry und Anna ihr nach...
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro