1. Ausflug mit Folgen
...über 40 weitere Jahre später
Juni 2022 - Gegenwart
Ludlow, Massachusetts
"Oh schau mal, Mama", rief die kleine Anna freudig und zeigte lächelnd auf die Fotowand mit den ausgeschnittenen Tierköpfe.
Ihre Mutter schmunzelte und meinte zu ihren Kindern: "Ah ja - das ist doch was." Sie winkte mit einer Hand und holte bereits ihr Handy hervor. "Los - zeigt mir mal euer bestes Tiergrinsen."
Während Anna bereits zur Wand rannte, drehte ihr Sohn Henry, der neben ihr stand, seinen Kopf zur Seite und sagte lächelnd: "Wieso nur wir? Du auch, Mum."
Die Frau mit den kurzen Haaren schaute überrascht, was aber auch ein bisschen gespielt wirkte. "Wie - ich auch??", fragte sie mit übertriebener Betonung.
Anna drehte sich an der Wand stehend um. "Na klar, Mama", rief sie fröhlich, "hier sind doch drei Tierköpfe." Sie grinste und ließ eine Zahnlücke aufblitzen. "Für jeden einen", betonte sie.
Die Mutter lächelte in sich hinein und schaute skeptisch zu ihrem Junior. Doch auch der zehnjährige Henry sah sie mit einem Blick an, der sagen wollte 'Keine Ausflüchte'.
"Okay, okay - ich komm ja schon", gab sie sich geschlagen und hob einmal kurz beide Hände hoch. "Muss nur jemanden finden, der das Foto schießt." Sie schaute kurz um sich, entdeckte ein junges Päarchen mit Kinderwagen, das sie bedenkenlos ansprach.
Das Paar verstand sofort, nahm der Frau mit den kurzen Haaren das Handy ab.
"Juhuu!", rief Anna und eilte hinter die Wand. Sie strich sich ihre langen schwarzen Haare zur Seite und linste gleich darauf durch den Kopf des süßen Fuchses. Ihr Bruder Henry hatte sich bereits bei der Giraffe hingestellt, so dass die Frau sich ziemlich gebeugt hinter die Öffnung des Zebra-Kopfes platzieren musste.
"Okay und jetzt alle - Cheeessseee!", rief die Mutter und als die Kinder das gewünschte Wort sagten, knipste der junge Mann das Bild, während seine Freundin den Kinderwagen festhielt.
Der Mann besah sich das Bild und fand, das die Mutter trotz ihrer Kinder noch immer recht jung aussah - so als wäre sie auch gerade erst Anfang Zwanzig. Auf jeden Fall wirkte sie mit ihren Kindern stark verbunden, was auch auf dem Bild so rüberkam.
Mit derlei Gedanken zeigte er ihr stolz die Aufnahme. "Ahh - super! Danke", lächelte die Frau und nahm ihm das Handy ab.
Kaum war das Paar weitergegangen, wollten ihre Kinder das Bild natürlich auch sofort sehen.
Anna lachte ihrem Bruder zu. "Haha - Henry du siehst ja richtig gut aus als Giraffe!"
"Pass auf, dass ich dir nicht auf den Kopf spucke, du kleine Füchsin", konterte Henry leicht übertrieben. Kaum ausgesprochen, wuselte er mit einer freien Hand einmal durch die glatten, schwarzen Haare seiner Schwester.
"Hee - lass das!", rief Anna zickig und schlug mit ihrer Hand nach ihrem Bruder, der aber schnell zur Seite sprang und grinste.
"Nanana - hier wird nicht gehauen", rief ihre Mutter dazwischen, packte beide am Arm und schaute plötzlich ernst. "Vernünftig, ihr zwei" forderte sie, "wir wollen uns doch noch mehr ansehen, oder?!"
Anna schaute nach unten. "Jaaa...", meinte sie nur langgezogen. Henry sah zu ihr auf und zuckte mit den Achseln. "War doch nur 'n Joke", versuchte er es auf die lässige Art. "Von uns Beiden", versicherte er seiner Mutter und setzte dabei einen Hundeblick auf.
Die junge Frau schmunzelte und ließ ihre Kinder wieder los. Auf die Frage, wo sie als Nächstes hingehen wollten, kamen beide sogleich auf die Idee, sich jetzt doch mal die echten Giraffen anzuschauen. Ohne lange zu zögern schlug die junge Frau mit ihren Kindern die Richtung zu diesen Gehegen ein.
Nachdem sie sich dort satt gesehen hatten, fanden Henry und Anna, dass man doch auch mal wieder ins Haus der tropischen Tiere gehen könnte. Dort mussten sie sich allerdings erstmal in einer Schlange anstellen, denn offensichtlich hatten heute viele Besucher die gleiche Idee gehabt.
"Puh", schnaufte Anna, als sie schon eine Weile anstanden. "Wie lange dauert das denn noch?!"
"Heut ist hier leider viel los", antwortete ihre Mama leicht genervt, "aber wir kommen doch schon voran." Innerlich musste sie selbst zugeben, dass das heute ziemlich zäh ging. Aber um ihren Kleinen was zu bieten, nahm sie gerne auch eine Wartezeit in Kauf.
Plötzlich hörte man eine klingende Melodie. Sofort drehten sich die Leute von der Schlange um und erblickten eine Frau auf einem Fahrrad, die vorsichtig auf dem Sandweg fahrend einen schmalen Eiswagen hinter sich herzog.
Schon hörte man Kinder freudig jauchzen und ihre Eltern anflehen. Annas Blick wurde riesengroß. "Ooohh - die hat ja sogar Strawberry Cheesecake", staunte sie laut, während ihre dunklen Augen glitzerten. Genau ihre Lieblingssorte! Schon hing sie ihrer Mutter an den Ohren: "Dürfen wir ein Eis haben, Mummy? Bitteee!"
Die junge Mutter seufzte und zog ihren Mund schief. "Aber wir stehen doch jetzt hier an", meinte sie versöhnlich. Ähnlich äußerten sich die anderen Eltern vor und hinter ihnen, worauf sich vor dem Tropenhaus allmählich eine Soundwolke aus enttäuschtem Kinderjammern ausbreitete.
"Aber wir könnten es uns doch schnell holen", warf Henry ein und sah seine Mutter erwartungsvoll an. Als die ihn skeptisch anblickte, fügte er stolz hinzu: "Ich hab noch zehn Dollar." Er grinste vielsagend.
"Au ja - lass es uns selbst schnell holen", sprudelte es sofort aus Anna eifrig heraus, "wir sind auch gleich zurück! Bitteeee!"
Die junge Frau zog eine Augenbraue hoch und schaute misstrauisch zu dem Eiswagen. Der war unweit von der Schlange entfernt an einer Biegung stehengeblieben. Wirklich weit weg war er ja nicht.
"Na gut", seufzte sie, "ihr seid ja zu zweit."
"Oh jaaa", frohlockte Anna und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle.
"Yes", gab Henry von sich und streckte einmal den Arm mit der geschlossenen Faust durch.
"Hier sind noch fünf Dollar - falls es nicht reicht", meinte die Mutter und gab ihrem Sohn einen Geldschein.
"Dankeee Mummyyy", jubelte Anna und umarmte sie an den Beinen.
Daraufhin beugte sich ihre Mum einmal zu ihnen runter und meinte mit erhobenem Zeigefinger: "Aber ihr kommt gleich zurück!"
"Klar doch", erwiderte Henry und grinste seine Mutter an. Dann spurteten er und Anna aus der Schlange rechts raus und stürzten Richtung Eiswagen.
Schmunzelnd sah die Frau ihnen nach. Das Eis war natürlich eine gute Ablenkung, während sie noch weiter anstanden. Kaum gedacht, tat sich in dem Moment etwas bei den Leuten vor ihr. Daraufhin wandte sie sich erstmal wieder um und rückte die nächsten Zentimeter vor.
___
Freudig liefen Anna und Henry auf den Wagen zu, dessen Seitenklappe jetzt geöffnet war. Davor standen gerade ein paar Kinder, zu denen die Frau von dem Fahrrad was sagte. Seltsamerweise gingen die Kinder daraufhin ohne Eis weg. Henry zog die Stirn kraus und wunderte sich.
Doch im nächsten Moment standen sie schon an der Theke. "Zwei Strawberry Cheesecake bitte", rief Anna sogleich selbstbewusst.
Die Eisverkäuferin, die eine Basecup-Mütze trug, wandte sich zu ihnen um und blinzelte einen Moment irritiert, als sie Anna erblickte. Dann setzte sie eine halb traurige Miene auf und meinte zu den Beiden: "Tja - ich hatte es auch schon den anderen Kiddies gesagt: leider sind meine Eisportionen im Moment aufgebraucht, wie ich gerade erst feststellte."
"Ach nee", jammerte Anna auf und zog eine Schnute. "So ein Mist", fluchte Henry leise und sah bedröppelt nach unten.
Währenddessen musterte die Frau Anna eindringlich, was die Kinder aber nicht bemerkten. Im nächsten Moment veränderte sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig. "Hhm...", murmelte sie. Als die Kinder sie wieder anschauten, sahen sie die Frau mit der Hand am Kinn grübeln, als wäre ihr gerade etwas Entscheidendes eingefallen. "Moment mal...", meinte sie enthusiastisch und hob kurz einen Finger in die Höhe.
"Ja?", fragte Henry mit etwas Hoffnung.
Sie schaute ihn entschlossen an. "Hier um die Ecke kommen doch die Stallungen, richtig?"
Die Kinder nickten fast im Gleichtakt.
Daraufhin strahlte die Frau regelrecht auf. "Ahh - sehr gut!", freute sie sich. "Dann ist der kleine Schuppen mit meinen Eisreserven ja auch gleich hinter dieser Kurve." Sie hielt inne, schaute die Kinder wieder etwas ernster an und fragte dann: "Wollt ihr mir vielleicht kurz helfen, die Eiskartons hierher zu bringen? Dann hätte ich wieder Eis und ihr bekommt natürlich als Erste eine Portion."
Anna schaute hoffnungsvoll und sah ihren Bruder fragend an.
Der schaute skeptisch zum Tropenhaus. "Ich weiß nicht...", meinte er zögerlich. Er sah die Eisverkäuferin halb entschuldigend an. "Eigentlich sollen wir in Sichtweite bleiben", fügte er hinzu.
Annas Miene wurde auch wieder ernster und sie sagte: "Und wir sollen ja auch nicht mit Fremden mitgehen." Sie imitierte den misstrauischen Blick eines Erwachsenen. "Sagt unsere Grandma immer", fügte sie verschwörerisch hinzu.
Erfreulicherweise war die Eisverkäuferin darüber überhaupt nicht verärgert. Sie schmunzelte nachsichtig, stemmte die Hände in die Hüften und meinte locker: "Ah ja - das geht natürlich nicht." Dann nahm sie ihr Basecup ab und schüttelte ganz helle, halblange Haare hervor. "Also, ich bin die Sophia", sagte sie als Nächstes und blickte sie erwartungsvoll an.
Die Kinder schauten verdutzt. Sie hatten die ganze Zeit gedacht, die Frau hatte an den Seiten gar keine Haare, so wie ihre Mutter - kurzgeschoren. Jetzt strahlte ihnen diese helle, leicht gewellte Mähne entgegen, die Sophia unter ihrer Mütze versteckt hatte.
"Sind das blonde oder graue Haare?", staunte Anna unverblümt. Als Sophia schmunzelte, entfuhr es ihr: "Sorry - so alt bist du ja noch gar nicht." Sogleich hielt sie sich eine Hand vor den Mund und blinzelte entschuldigend. Henry sagte gar nichts und glotzte die Frau nur fasziniert an.
"Schon gut", meinte Sophia lächelnd, "über dieses seltsame Blond wundern sich viele." Sie schaute für einen Moment ernster und ergänzte: "Es ist eine Art Familienerbstück."
Dann sagte sie wieder freudiger: "So - und wie heißt ihr zwei nun eigentlich?" Das riss Anna und Henry aus ihrem Erstaunen und sie nannten der Frau ihre Namen.
"Hhm", meinte diese dann, "ihr seid also Anna und Henry. Und mein Name ist Sophia. Seht ihr - nun sind wir uns nicht mehr so fremd." Sie schaute die Beiden versöhnlich an. "Wollt ihr mir nicht bitte schnell helfen? Ihr bekommt zum Dank auch euer Eis umsonst."
Die Kinder tauschten Blicke aus. Sophia bemerkte, wie sie innerlich wankten.
"Ja okay - warum nicht", sagte Henry schließlich und nickte übertrieben selbstbewusst. "Solange es schnell geht."
Sophia machte eine wegwischende Handbewegung. "Keine Bange - wir sind ja zu dritt. Dann geht es auch recht schnell."
Die Kinder nickten. Dann drehten sie sich fast gleichzeitig zum Tropenhaus um. Ihre Mum schaute gerade in ihre Richtung. Sie winkten. Henry zeigte einen Daumen hoch.
Als sich ihre Mum wieder umdrehte, verließ Sophia schnell den Eiswagen und trat zu Anna und Henry an die Seite. Sie wollten gerade losgehen, als die nächsten Kinder kamen und nach Eis fragten. Sophia vertröstete sie auf fünf Minuten. "Wartet solange hier, oder kommt gleich wieder", meinte sie bestimmt. Die meisten Kiddies wollten natürlich die ersten sein, wenn die Eistante zurückkam, also blieben sie gleich am Wagen stehen.
Sophia ging derweil mit ihren kleinen Helfern um die Biegung herum, an der sie den Wagen postiert hatte, und steuerte ein kleines Holzhaus an, das neben dem Stallgebäude stand.
Der Raum dort drinnen war nicht groß. Hinter ihnen fiel die Holztür zu und tauchte das Innere in spärliches Licht. Seltsamerweise sahen die Kinder keine Kartons rumstehen, dafür aber an der Rückwand des Gebäudes ein seltsames riesiges, kreisrundes Loch, das um den Rand herum merkwürdige Verzierungen hatte. Die Kinder blieben erstaunt davor stehen.
"Was - was ist das?", fragte Anna schaudernd.
"Der Durchgang nach hinten", meinte Sophia beiläufig. "Dort stehen die Eiskartons."
"Okay???", meinte Henry skeptisch.
"Aber sicher", meinte Sophia, "ich muss nur noch das Licht für hinten erst anmachen." Sie drehte sich leicht zur Seite und meinte: "Ach, Henry - kannst du die Tür nochmal aufmachen und einhaken? Dann haben wir zusätzlich noch das Licht von draußen."
Henry ließ sich nicht lange bitten, wandte sich um, sperrte die Holztür auf und hakte den eisernen Halter in die dafür vorgesehene Öse an der Wand ein.
Als er sich wieder umdrehte, sah er Anna direkt vor dem großen Loch am Boden liegen. Sophia kniete zu ihren Füßen.
"Anna!", rief Henry und lief auf seine am Boden liegende Schwester zu. "Was ist mit ihr?", fragte er Sophia, die mit dem Rücken zu ihm gewandt vor Anna kniete.
"Ich weiß nicht", jammerte sie. "Hol am Besten Hilfe. Oder deine Mum."
Doch Henry sah, wie sie dabei ein kleines, weißes Tuch zur Seite fallen ließ. Erst jetzt bemerkte er, dass Sophia Fäustlinge an den Händen trug.
"Was haben Sie mit ihr gemacht?!", entfuhr es ihm.
Sophia erkannte, das er keine Hilfe holen würde, und wirbelte plötzlich aufstehend mit einem Dolch in der Hand herum. "Schlauer Bengel", zischte sie, jetzt alles andere als freundlich. Ihre hellen Augen funkelten unheimlich.
Henry klappte der Kiefer herunter vor Schreck. Dann fasste er sich wieder, drehte sich schnell um und wollte losrennen. Doch schon packte ihn eine Hand am Kragen und hielt ihn fest. "Hiergeblieben", fauchte Sophia. Im nächsten Moment legte sie ihren Arm mit dem Dolch in der Hand um Henrys Hals und zog ihn rückwärts gehend mit sich. "Schön mitkommen", befahl sie grimmig und hielt Henry die seltsame Klinge gefährlich nahe an die Wange.
Aus Angst vor dem Dolch wagte der Junge nicht den Versuch, laut zu schreien. Schwer atmend musste er auch gegen den Würgegriff dieser Sophia ankämpfen - falls sie wirklich so hieß. Sie hatte auf jeden Fall ziemlich Kraft in ihrem Arm, der er nichts entgegenzusetzen hatte.
Halb würgend zog sie ihn bis an das riesige Loch heran. Als sie neben Anna standen, fummelte Sophia mit der freien Hand einen kleinen Edelstein hervor und hielt ihn hoch. Mit panischem Blick sah Henry links neben sich ihre erhobene Hand mit einem Stein darin auftauchen. Wie aus dem Nichts leuchtete der Edelstein plötzlich hell auf. Im gleichen Moment hörte Henry seltsame tief brummende Stimmen, die in einem merkwürdigen Singsang Laute von sich gaben. Sie schienen aus dem Loch zu kommen, genau wie das wälzende Geräusch, das nun einsetzte.
"Nein... nein...", wimmerte er und schaute hektisch umher. Sophia steckte den Stein wieder ein und wechselte dann schnell den Arm um seinen Hals und auch den Dolch, um die rechte Hand frei zu haben.
Sie zwang Henry direkt vor dem Eingang des Lochs auf die Knie und bückte sich mit ihm hinunter. "Keine Panik", säuselte sie ihm kalt ins Ohr, "wir machen nur einen kleinen Ausflug". Sie fummelte mit der rechten Hand neben sich und packte die liegende Anna am Halskragen, um sie ebenfalls mit sich zu ziehen. "Es gibt da jemanden, der euch unbedingt kennenlernen möchte...", ergänzte sie dabei betont und gab ein kurzes, böses Lachen von sich.
Sie erhob sich und schleifte Henry und Anna einfach rückwärts gehend in den Eingang des Lochs hinein. Aus Furcht vor dem Messer versuchte Henry, so gut es ging, mit den Beinen mitzuarbeiten, während seine Schwester leblos in schräger Haltung mit den Füßen über den Boden geschleift wurde. Henry sah panisch umher und konnte plötzlich in seinem Blickfeld die Ränder des seltsamen Loches erkennen, wie sich ineinander drehten mit all ihren merkwürdigen Verzierungen und dabei dieses wälzende Geräusch verursachten. Panik kam in ihm hoch. Er wollte nur noch weg. Er musterte kurz die Hand vor ihm, die den Dolch hielt, dann biss er kurzerhand durch den Fäustling hindurch in sie hinein.
"Aargh", stöhnte die Frau verärgert und streckte ungewollt die Hand aus. Es klirrte und dann sah sie, wie der silberne Dolch auf den Rand des Lochs aufschlug und davor auf den Boden fiel.
'Verdammt, der Dolch', dachte sie. Doch es war zu spät. Sie musste ihn zurücklassen. Der Tunnel würde sich gleich schließen. Außerdem wehrte sich der Junge plötzlich viel heftiger und sie spürte bereits, wie ihr Arm schwächer wurde. Nur noch ein paar Schritte...
Henry drückte mit den Händen gegen den würgenden Arm, jetzt da die drohende Klinge weg war. Er merkte bereits, wie ihr Griff nachließ. Dann sah er, wie der Eingang begann, zu verschwimmen. Noch sah man den Raum der Holzhütte, doch das Bild flackerte und man konnte bereits eine durchsichtige Holzwand erkennen, die sich bildete. Tränen stiegen ihm hoch und er kämpfte weiter gegen diese Frau an.
Im nächsten Augenblick wurden sie alle drei von einem starken Sog erfasst und rückwärts in den Tunnel gezogen. Die tief brummenden Stimmen wurden noch lauter und hüllten sie ein.
Henry verlor seine letzte Beherrschung und schrie langanhaltend auf, während er mit Anna und dieser Frau rückwärts ins unbekannte Nichts flog...
___
Allmählich wurde die junge Mutter nervös. Als sie sich beim letzten Mal umgedreht hatte, waren Henry und Anna noch zu sehen gewesen. Sie hatten sogar kurz gewunken. Jetzt schaute sie gerade wieder zu dem Wagen, doch konnte sie die Beiden nicht mehr sehen. Zwar stand dort eine Traube von Kindern an dem Tresen, doch fehlte von Anna und Henry jede Spur.
Als sie erkannte, dass die Frau auch nicht mehr zu sehen war, stieg ihre Unruhe. Was war mit diesem Eiswagen überhaupt los? Warum standen die Kinder davor und bekamen kein Eis? Und wo war die Frau plötzlich?
Sie drehte sich nervös noch einmal um und blickte genervt auf die anstehenden Leute vor sich. Immer noch ziemlich viele. Sie wandte sich wieder Richtung Eiswagen um und überlegte. Dabei zwirbelte sie bereits nervös an ihrer Kette.
'Ach Scheiß drauf', dachte sie und bewegte sich zügig aus der Schlange heraus und dem Wagen zu. Sie konnten sich hier jederzeit wieder anstellen. Das war es nicht wert. Sie dachte jetzt nur noch an Henry und Anna. Der Zoo war riesig und hier konnte weiß Gott was passieren.
Vor allem, dass auch die Frau fehlte, beunruhigte sie zusätzlich.
Auf dem Sandweg eilte sie zügig zu dem Eiswagen und fragte einige der Kinder dort nach Anna und Henry, die sie ihnen schnell beschrieb.
"Die sind mit der Frau mitgegangen", meinte ein dicker Junge und zeigte um die Ecke. "Wollten neue Eiskartons holen."
Das reichte der jungen Frau. 'Gar nicht gut, gar nicht gut!', dachte sie aufgeregt und rannte sofort los und um die Ecke. Hinter der Biegung blieb sie panisch stehen und schaute sich um. Wohin sind sie nur gegangen?
Dann fiel ihr Blick auf das offenstehende Holzhaus. Merkwürdiges Licht drang daraus hervor. Vielleicht Bauarbeiter, die was schweißten. Vielleicht hat einer von ihnen was gesehen.
Schnell rannte sie die paar Stufen hoch und eilte in den Raum. Als sie dort eintrat, erschrak sie fast. Seltsamerweise war keiner hier drinnen und auch das Licht, das sie gesehen hatte war verschwunden. Was aber ihre Aufmerksamkeit erregte, war ein merkwürdiger, riesiger Brandfleck, der in perfekt kreisrunder Form an der Rückwand des Gebäudes prangte.
Und dort - vor dem Fleck, lag da nicht...!
Sie eilte auf den kleinen Gegenstand zu, der nahe an der verbrannten Rückwand lag. Tatsächlich, ein Schuh! Annas Schuh! Ihr Herz verkrampfte sich. Sie kniete sich auf dem Boden hin und betrachtete schmerzerfüllt den Schuh. Tränen stiegen in ihr hoch, als ihr bewusst wurde, dass ihre dunkle Vorahnung dabei war, sich zu bestätigen.
Dann sah sie unweit des Schuhs noch etwas liegen, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Eine Art Messer, das aber ein ziemlich seltenes Aussehen besaß. Sie ließ den Schuh sinken und nahm die merkwürdige Klinge, die komplett durchgehend aus Silber war, in die Hand. Ihr Herz raste. Kein Zweifel - hier war ein Verbrechen begangen worden. Und ihre Kinder mittendrin!
Sie betrachtete mit klopfendem Herzen den seltsamen Silberdolch und seine Verzierungen. Als sie das eingravierte Symbol am Griff der Klinge entdeckte, setzte ihr Herz fast aus vor Schreck. Dieses Zeichen kannte sie ziemlich gut, doch hatte sie es lange nicht mehr gesehen oder an die Geschichten gedacht, die damit zusammenhingen.
Angsterfüllt warf sie den Dolch von sich, als könnte er eine Krankheit übertragen. Dann barg sie kniend ihr Gesicht in den Händen und weinte. Natürlich würde sie gleich die Police rufen und natürlich würden die alles absuchen.
Aber sie würden ihre Liebsten nicht finden. Genau wie diese Frau.
Ihr untrüglicher Mutterinstinkt wusste es einfach besser: ihre Kinder hatten sich nicht irgendwo im Zoo verlaufen. Sie waren verschwunden. Entführt worden.
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